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Rastloser Regisseur

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Es ist schwer, wenn nicht unmöglich, einen auch nur einigermaßen „vollständigen“ Artikel über Leopold Lindtberg zu schreiben; eher schon ein Buch, einige hundert Seiten würden ihm vielleicht gerecht werden, ihm, dem ohne Zweifel profiliertesten Regisseur unserer Zeit. Er kann alles inszenieren, und er hat alles inszeniert. Klassiker und Moderne, Lustspiele und Tragödien. Er hat ohne Zweifel mehr inszeniert als jeder andere. Noch heute tut er es kaum unter sechs bis acht Inszenierungen pro Jahr. Früher waren es einmal zwanzig. — Hinzu kamen die Filme, die er während des Krieges und kurz danach in der Schweiz herstellte, fast alle kleine oder große Meisterwerke — ein Grund, warum ihn die deutsche und österreichische Nachkriegsproduktion schnitt. Hinzu kamen und kommen Lehrtätigkeiten an allen möglichen schweizerischen, deutschen und österreichischen Instituten.

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Es ist schwer, wenn nicht unmöglich, einen auch nur einigermaßen „vollständigen“ Artikel über Leopold Lindtberg zu schreiben; eher schon ein Buch, einige hundert Seiten würden ihm vielleicht gerecht werden, ihm, dem ohne Zweifel profiliertesten Regisseur unserer Zeit. Er kann alles inszenieren, und er hat alles inszeniert. Klassiker und Moderne, Lustspiele und Tragödien. Er hat ohne Zweifel mehr inszeniert als jeder andere. Noch heute tut er es kaum unter sechs bis acht Inszenierungen pro Jahr. Früher waren es einmal zwanzig. — Hinzu kamen die Filme, die er während des Krieges und kurz danach in der Schweiz herstellte, fast alle kleine oder große Meisterwerke — ein Grund, warum ihn die deutsche und österreichische Nachkriegsproduktion schnitt. Hinzu kamen und kommen Lehrtätigkeiten an allen möglichen schweizerischen, deutschen und österreichischen Instituten.

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Das alles bedeutet, ganz abgesehen von der geistigen Leistung, ein ungeheures, man möchte sagen ungeheuerliches, Maß an Reisen. Wenn er nicht gerade Proben leitet, ist er eigentlich immer in einem Zug oder einem Flugzeug, und hat trotzdem immer Zeit zu einer Aussprache, zu Vorschlägen, dazu, sich junge Schauspieler anzuhören und Bücher zu lesen. Und seit vielen Jahren schon sind die Freunde Lindtbergs in ständiger Furcht, er werde sich übernehmen. Er übernimmt sich auch, kein Zweifel. Und ich kenne kaum einen, der in seinem Alter oder auch nur um zehn oder fünfzehn Jahre jünger ist als er, der das alles verkraften könnte. Zürich, Berlin, Wien, Hamburg, Tel Aviv, Mannheim, Tokio. Überall ist er gewesen und überall hat er inszeniert. Man könnte fast sagen, das Reisen sei das Leitmotiv seines Lebens. Oder sollte man sagen: die Emigration?

Es erscheint dem österreichischen Theaterfreund selbstverständlich, daß der Wiener Leopold Lindtberg laufend an der „Burg“ inszeniert oder bei den Salzburger Festspielen mitwirkte. Er ist sozusagen mit Wien und Salzburg verwachsen. Aber bis es so weit war, dauerte es einige Zeit. Der Österreicher Lindtberg kam nur auf Umwegen in seine Heimat zurück.

Zwar studierte er in Wien — er wußte ursprünglich nicht, ob er Schauspieler oder Regisseur werden sollte — ging aber dann nach Deutschland mit dem Ziel Berlin, das er auch bald erreichte. Berlin war damals, daran kann kein Zweifel bestehen, die Theaterhauptstadt der Welt. Freilich, Berlin wurde das erst durch die Nicht-berliner, die dorthin kamen, vor allem durch die Österreicher wie etwa Max Reinhardt, die Massary, Pallenberg, Kortner, die Bergner, die Durieux — um nur einige zu nennen.

In Berlin setzte sich der junge Lindtberg — er war damals Mitte zwanzig — trotz enormer Konkurrenz schnell durch. Oder vielleicht sollte man sagen: er hätte sich schnell durchgesetzt. Drei Inszenierungen konnte er gerade noch liefern, darunter die von „Kabale und Liebe“ immerhin am Staatstheater, mit ausschließlich jungen Kräften. Die machte eine Sensation.

*

Aber ganz nach vorn kam Lindtberg nicht, und dann brach seine deutsche Karriere jäh ab, denn als Hitler kam, mußte er fort. Er ging nicht nach Wien zurück, das war damals von deutschen Schauspielern, die ebenfalls emigriert waren, überfüllt. Er ging nach Paris und wurde von dort nach Zürich geholt. Nicht Ferdinand Rieser, der Direktor und Besitzer des Schauspielhauses Zürich tat es, der an seinem Theater eigentlich nur

Boulevardstücke gab und damit hübsch Geld verdiente; sondern der von Rieser berufene Dramaturg Kurt Hirschfeld (späterer Direktor des Schauspielhauses), der Lindtberg von Berlin her kannte und große Stücke von ihm hielt. Aber Hirschfelds Empfehlungen konnten nur zum Engagement Lindtbergs führen, nicht zu einer ihm gemäßen Beschäftigung, auch er mußte in die Tretmühle des Boulevardtheaters. Freilich, er machte die leichten kleinen Salonstücke so hübsch, so witzig, daß Rieser seinem Drängen nachgab, auch einmal Klassiker inszenieren zu dürfen.

Lindtberg wählte „Der zerbrochene Krug“ und „Der eingebildete Kranke“ — alles an einem Abend. Die Premiere fand — historisches Datum für Lindtberg und für Zürich — am 23. Dezember 1933 statt. An einem solchen Abend gingen, das wußte Rieser, wenig Menschen ins Theater, und die Abende zwischen Weihnachten und Neujahr waren für gewöhnlich ebenfalls schlecht besucht. Also sollte Lindtberg seine Klassiker inszenieren, um sich dann wieder irgendeinem netten englischen oder französischen Lustspiel zuzuwenden. Zum allgemeinen Erstaunen — und zur Verblüffung Riesers — waren die klassischen

Lustspiele ein Riesenerfolg, die Leute konnten gar nicht genug bekommen, es kam nicht nur zu vorgesehenen Vorstellungen, sondern zu mehr als zwanzig.

Damit war nicht nur Lindtberg deklariert, sondern er hatte nun auch die Möglichkeit, andere Klassiker zu inszenieren, weniger lustige weniger bequeme, auch ernsthafte und grausame. Ibsen, Schiller, Goethe, Kleist. Dazu die Modernen, die in Deutschland und bald darauf in Österreich nicht mehr gespielt werden durfte, Brecht und Zuckmayer, Else Laska-Schüler, Sartre, Franz Kafka und Faulkner. Über die ganze Theaterwelt berühmt wurden die Uraufführungen von „Mutter Courage“ mit Therese Giehse und von „Requiem für eine Nonne“ mit Heidemarie Hatheyer.

Die Kleinheit Zürichs, die Kleinheit des Publikums forderte, daß jede Woche eine Premiere herauskommen mußte. Das bedeutete, daß Lindtberg im Jahr so um die 20 Vorstellungen abzuliefern hatte. Ermüdete ihn das? Wurde er dadurch zum Routinier? Stumpfte er ab? Nichts dergleichen. Alles, was er in die Hand nahm, wurde unter seinen Händen anders, gewissermaßen neu.

In diesem Sinne sind auch seine Nestroy und Raimund-Aufführungen in Zürich zu werten. Man kann da von einer wahren Renaissance sprechen. Die wenigsten wissen heute noch, eine wie unwürdige Existenz diese großen österreichischen Dramatiker auf deutschsprachigen Bühnen gefristet hatten. Man führte sie zwar in Stadttheatern auf, aber in Inszenierungen, an deren Ur-sürünge sich kaum einer der auftretenden Mitwirkenden später erinnerte, und hauptsächlich dann, wenn ein berühmter Komiker eine dieser Rolle spielen sollte.

Lindtberg war es, der den Zürichern zeigte, daß auch Nestroy und Raimund nicht nur einem Komiker Gelegenheit boten, zu improvisieren und zu extemporieren, mit allen erlaubten und unerlaubten Mitteln Lachstürme zu entfesseln, sondern daß sie genauso ernst genommen zu werden verdienten wie Shakespeare oder Schiller.

Die Arbeit in Zürich war nicht nur schwer, sondern auch nicht ungefährlich. In Deutschland sah man nicht gern, was sich am Züricher Schauspielhaus tat. Einmal, weil dort die Stücke der bereits erwähnten Emigranten aufgeführt wurden, und auch, weil dort Emigranten spielten. Die Giehse, die Becker, Langhoff, Kaiser, Horwitz, Steckel, Ginsberg waren ja alle in Deutschland nicht „erlaubt“ gewesen und wären früher oder später wohl umgebracht worden. Wenn Hitler, was durchaus im Bereich der Möglichkeit stand, in die Schweiz eingefallen wäre, was hätte das Ensemble des Theaters, das immer mehr zu einer Art Fronttheater gegen den Faschismus wurde, erwarten können? Und was Lindtberg?

Aber das Schicksal ist manchmal seltsam. Die Wende des Kriegs brachte es mit sich, daß Goebbels die „Totale Mobilmachung“ verkündete, was auch bedeutete, daß sämtliche Theater schließen mußten. Im Herbst 1944 konnte Lindtberg in Zürich vor den Vorhang treten und erklären, dies sei das einzige deutschsprachige Schauspielhaus, das heute und in der folgenden Zeit noch spielen werde. Ein Triumph der Kunst über die Politik, wenn man will. Und nicht zuletzt ein Triumph Lindtbergs.

Es war nur logisch, daß er, der Krieg war kaum zu Ende, überall gefragt wurde. Und es ist begreiflich, daß er nun überall inszenieren wollte: Vor einem Publikum, das ihn nicht kannte, mit Schauspielern, mit denen er nie gearbeitet hatte, und, sehr bald schon, mit Möglichkeiten, die es in Zürich nie hatte geben können. Uber diese Erfolge braucht ja nicht gesprochen zu werden. Jeder kennt sie.

*

Das Geheimnis seines Erfolges? Es fragte ihn einer danach, und er lächelte. Es gebe eigentlich gar kein Geheimnis. „Ich versuche, die klassischen Dramen nicht zu verändern und, wenn möglich, kaum ein Wort zu streichen. Man muß sie nur wirken lassen. Natürlich kann man die Wirkung von damals heute nicht mit den Mitteln von damals erzeugen. Die Menschen sind ja auch anders geworden.“ Sein Geheimnis? Die Arbeit mit den Schauspielern. Die unermeßliche Geduld, die ihnen hilft, zu sich selbst zu kommen, in die Figuren, die sie darzustellen haben, „hineinzuschlüpfen“. Wie der große Max Reinhardt darf auch er sagen, daß er manchen etablierten Schauspieler erst wieder „entdeckt“ hat. Nämlich für Rollen, in Fächern, in denen er sich hatte vorher nie versuchen dürfen. Er darf von sich sagen, daß er Raimund und Nestroy neu entdeckt hat. Die waren seit langem nicht mit soviel Takt, mit soviel Gefühl und Charme inszeniert worden.

Lindtberg wurde schließlich Direktor des Züricher Schauspielhauses. Aber da er Wien nicht aufgeben wollte und überdies gar nicht aufgeben konnte — es bestanden ja Verträge — wurde bald von gewissen Leuten das Gerücht lanciert, er „zersplittere sich“. Obwohl das Gegenteil bewiesen werden konnte, obwohl die Spielzeiten unter Lindtberg zu den erfolgreichsten gehörten, künstlerisch sowie finanziell, obwohl er in seinem eigenen Haus immer noch als der begehrteste, nicht nur vom Publikum, sondern auch von den Schauspielern begehrteste Regisseur galt, nahmen die Intrigen gegen ihn zu. Das wurde ihm zuviel. Er gab den Vertrag au!...

Was nachher in Zürich geschah, ist Theatergeschichte. Die Leistungen der Lindtbergschen Direktion sind nicht nur nicht erreicht worden, sondern nicht einmal annähernd. Man hat in ihm nicht nur einen guten Direktor, sondern auch den überragendsten Regisseur verloren. Denn die — sei es aktiv, sei es durch ihr Schweigen passiv — Schuldigen fanden es bisher nicht nötig, sich bei ihm zu entschuldigen und ihn zurückzuholen.

Und so emigrierte er ein drittes Mal. Lindtberg war ja Schweizer geworden, seine Frau ist Schweizerin, seine Töchter sind in der Schweiz aufgewachsen, und die Wohnung in Zürich hat er behalten. Aber er arbeitet dort nicht mehr. Der lachende Dritte: Die „Burg“, das Akademietheater, Salzburg, Berlin, Hamburg. Und das wird lange so sein. Hoffentlich noch recht, recht lange.

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