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Ensembletheater

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Sooft ich das Thema „Ensembletheater“ vor Männern des praktischen Theaters, auch sehr berühmten, anschlage, beobachte ich die gleichen Wirkungen. Manche ziehen ironisch die Schultern hoch, manche zucken nervös mit den Augenbrauen. Das eine weist mich zurecht: „Sie sind ein Theort iker!“ Das andere ist immerhin ein Eingeständnis, daß ich einen Nerv des Theaters und auch ihre Nerven berührt habe.

Der Begriff „Ensemble" setzt an sich keine Ueberlieferung voraus. Er kann jeden Tag aus dem Willen und Zusammenhalt von Schauspielern vom leeren Begriff zur vollen Wirklichkeit werden. Das Teatro Piccolo di Milano, das vor zehn Jahren in einem Mailänder Keller gegründet wurde, reißt heute das Publikum in der ganzen Welt nicht weniger zur Bewunderung hin als das Burgthaater oder die Comėdie Franęaise, die aus der Tradition von Jahrhunderten schöpfen.

Eine Ensemblevorstellung beginnt mit der ersten Probe zu wachsen. Mit dem ersten Satz, mit dem der Regisseur anfängt, seinen Schauspielern das Stück auszudeuten. Im praktischen Betrieb wird zwar die „Bauprobe“ als erste angeschrieben und die „Arrangierprobe“ folgt sehr bald. Der Bühnenraum wird abgesteckt, die Auftritte und Abgänge, die Haltung und die Bewegungen der Schauspieler werden bestimmt. Aber etwas ist noch wichtiger, die Verwurzelung der Schauspieler in dem Boden, aus dem ja die Theatervorstellung wächst, in dem Stück, die Leseproben.

Es gibt große Regisseure, die zu allererst das Stück so lange diskutieren und ausdeuten, bis ihm alle Schauspieler auf den Grund sehen; manchmal sogar dem lieben Gott, der ja die Menschen, die der Dichter schildert, noch früher erschaffen haben muß, in seine himmlischen Karten.

Der Regisseur stellt dabei oft sonderbare Fragen nach dem Mann, der Frau, dem Mädchen, dem Jüngling, die seine Künstler spielen, ja noch mehr, in die sie sich verwandeln sollen. Wie war ihre Familie und ihre Kindheit? Welche kleinen Angewohnheiten oder Besonderheiten haben er oder sie? Wie verhielten sie sich bei ihrer ersten Liebe? Wie bewegen sie sich, wie kleiden sie sich, nicht nur in der Situation, die das Stück gerade zeigt? Dieses Denkspiel, richtig begonnen, beschäftigt alle, die an ihm teilnehmen, bald so sehr, daß sie auf Stunden das wirkliche Leben vergessen. Bis in die Träume werden sie von dem Stück bewegt, geärgert oder überzeugt. Jedenfalls aber aufs tiefste erregt. Interesse und Erregung, das ist die beste Vorbereitung für eine interessante und aufrüttelnde Leistung.

Vieles, was während der Proben der Regisseur und seine Schauspieler von den Menschen des Stückes sich ein-bilden, hat der Dichter nur gefühlt oder geahnt, es steht gar nicht im Text. Aber die Schauspieler waren eben neugieriger und werden darum „wirklicher", als es dem Text zu entnehmen wäre. Zuletzt sind alle in ihm völlig zu Hause, auch ein Diener, der im vierten Akt nur drei Sätze zu sagen hat. Aber während dieser einen Minute kann er sich so natürlich und selbstverständlich geben daß er auch von dem größten Schauspieler nicht störend absticht.

Mein Beispiel ist, das versteht sich von selbst, Veränderlich. Mancher Regisseur wird seine Schauspieler erst während der Proben im „Menschenraum“ des Stückes verwurzeln. Es wird kleine Theater geben, in denen ein Werk so vollkommen lebendig wird, und sehr große Häuser, in denen sich zwischen den großen und den kleinen Darstellern eine verhängnisvolle Kluft auftut. Man ruft die Kleinen nur für eine Szene, in der sie spielen, im übrigen bleiben sie . von der Verwandlung der Probenzeit unberührt.

Fragt man sie nach dem Stück, geben sie eine Antwort, die dem Enthusiasten einen Schauer über den Rücken jagt: „Ich kenne nur den Text, den ich zu sprechen habe, das Buch habe ich weder bekommen noch gelesen.“

Es gibt sehr erfolgreiche Regisseure, denen das nichts ausmacht. Sie bringen das fertige Bild des Stückes mit auf die Probe und wollen es gar nicht mit dem Eigenwillen und der mitgestaltenden geistigen Neugierde der Schauspieler konfrontieren. Jede Bewegung, ja jeden Tonfall zwingen sie ihnen auf. Sie berauben sich eines großen Zaubers, wie manchmal ganz unerwartet ein Schauspieler die Rolle von innen her wachsen läßt, ja aus der Rolle und dem Schauspieler ein ganz neues Wesen wird, das auch er, der große Regisseur, nicht voraussehen konnte. Es können ohne diese Umwandlung sehr exakte und perfekte Vorstellungen zustande kommen, aber sie haben mehr von „Automation“ als vom wirklichen Leben des Theaters in sich.

Damit aus einem Haus, in dem eine

Ensemblevorstellung gelingt, auch ein

Ensembletheater wird, ist freilich noch etwas nötig. Nun muß der Direktor des Hauses, was in seinem Theater vorgeht, als ein einziges, großes Stück ohne Ende ansehen, in dem nicht nur alle Mitglieder ihren notwendigen und natürlichen Platz haben, sondern auch das Theater als Ganzes seine Rolle im Leben der Stadt und im Leben der Nation spielt, wie eh und je das Burgtheater.

Ich will nicht hinter dem Berg halten, welches Beispiel ich als zweites vor mir habe: Max Reinhardt. Reinhardt spielte jahrzehntelang das große und erregende Stück „Reinhardt-Theater im deutschen Bühnenleben“, wie einmal Laube das Stück „Burgtheater“ oder Luise Dumont ' das Stück „Düsseldorfer Theater“. Er spielte es bald in Wien, bald in Berlin, bald in Salzburg, aber auch in dem Seminar in Schönbrunn, das noch heute seinen Namen trägt. Als er mich — ich war noch ein ganz junger Mann — als Lehrer dorthin holte, habe ich nächtelang mit ihm darüber gesprochen. Für ihn hing alles untrennbar zusammen: daß er mit den besten Dichtern und großen Kritikern seiner Zeit nicht nur Diskussionen, sondern etwas wie ein gemeinsames geistiges Leben führte, mit Hofmannsthal, Vollmöller, Beer-Hofmann, Hermann Bahr, später auch mit Ferdinand Bruckner, ja mit Max Mell und dem damals jungen Lernet-Holenia. Unaufhörlich arbeitete er an den Schauspielern, beschäftigte sich mit ihrem Schicksal und ihrem Leben, aber zur gleichen Zeit, in der er mit.den berühmtesten Künstlern des deutschen Theaters umging, probte er durch Wochen mit den Aller- jüngsten und schenkte ihnen eine Rede über Würde und Bedeutung des Theaters, die alle jungen Schauspieler auswendig lernen sollten. Der erfolgreiche Schauspieler stand höher oder im Vordergrund, aber im selben Raum wie der kleinste und jüngste. Begriff und Benehmen des Stars hatte dort keinen Platz. Die Möglichkeit, daß ein Schauspieler, selbst Moissi oder Jan- nings, Ernst Deutsch oder Rudolf Förster, die Thimig oder Durieux Reinhardt eine Rolle zurückgeschickt hätten, war einfach nicht denkbar. Freilich, wenn sie sie in die Hand bekamen, war es ja schon mehr als eine Rolle, ein Stück der nächsten Wirklichkeit ihres, des Reinhardt- Theaters, zu dem sie gehörten, wo immer sie standen.

Ist das Theorie? Viele der großen Schauspieler auch des Burgtheaters (Attila Hörbiger, die Wessely, die Dorsch, die Gold, Paul Hartmann), kommen aus dieser Erziehung, so wie Aslan und die Seidler aus dem Ensemble des Burgtheaters. Großes Theater lebt also oft noch von den Zinsen des schöpferischen Kapitals, das immer wieder neu gebildet werden muß. Ein Star .muß entweder zu dem Theater gehören, in dem er spielt, also eigentlich gar kein „Star" sein, oder er zerstört von der Spitze heraus das Theater, das er krönen soll. Wird er gleichsam aus einem fremden Garten in eine Vorstellung gestellt, in der er keine tieferen Wurzeln hat, bleibt auch der größte Eindruck nur ein kaltes Arrangement. Wer wüßte und spürte das, sind sie ehrlich gegen sich selbst, tiefer als jene Großen, die gerade durch das Ensemble das wurden, was sie sind?

Der Einwand, die Welt sei im Zeitalter des Düsenflugzeuges so klein geworden, daß der Schauspieler eben zur Wanderschaft genötigt sei, oder daß der Film und das Fernsehen die großen Talente an sich ziehe, urteilt nur von außen, ohne die wahren Zusammenhänge zu erkennen. Es gäbe heute keine Stars ohne die innere Entwicklung in einem Ensemble. Die immer schwierigere, völlig „überzeugende“ Besetzung großer Rollen zeigt ja nur an, daß die Voraussetzungen zur schauspielerischen Größe immer weniger geschaffen und beobachtet werden. Das Beispiel Amerikas ist kein Gegenbeweis. Dort liegt eben die Vorarbeit, die alle Zusammenhänge klarmacht und beobachtet, in der Gestaltung des Drehbuches, die Filmdramaturgie überprüft alles auf Richtigkeit und

Wahrscheinlichkeit und das Besetzungsbüro sucht den fertigen Typ, der haargenau der Rolle und ihren menschlichen Forderungen entspricht. Aber das ist nur ein Auskunftsmittel, weil doch kein großes Theater, das im Mittelpunkt des nationalen Lebens steht, Schauspieler von jener Fülle und Wandelbarkeit heranbildet, die mehr als nur eine Type aus sich selbst erschaffen. Es ist darum nur eine bizarre Umkehrung der wirklichen Verhältnisse, wenn nun auch große Bühnen in Europa aus der Not des amerikanischen Films eine billige Tugend machen und sich lieber flink die passenden Typen zusammenengagieren, statt sich der Gestaltwerdung eines Stückes aus den Künstlern des Hauses, diesem aufregenden und oft überraschenden Lebensprozeß, zu unterwerfen. Damit zieht man nicht nur dem Theater, auch dem Film den Lebensboden unter den Stücken weg. Wenn allmählich die großen Schauspieler von den Bühnen abtreten werden und der Film im Theater nicht sein Vorbild, sondern sein Nachbild findet, dann werden sich vielleicht, sobald sie die Wahrheit erkennen, die großen Filmgesellschaften der Welt zusammentun, um in drei, vier großen Theaterstädten der Welt jenes Theater im umfassenden auch geistigen Sinn neu zu begründen, in denen wieder nicht nur „Starletts“, sondern schöpferische Schauspieler heranwachsen. Und wenn es die alten Ensembletheater, ihrem Sinn entfremdet, nicht zustande bringen, wird eben eines Tages auch ein deutscher oder französischer Georgio Strehler, ein neuer Stanislawski oder ein junger Barrault in einem Kellertheater beginnen und mit dem Wunder einer allgemeinen Leistung aus unbedingter Hingabe jenen Glauben an das Theater beweisen, zu dem die dazu Berufenen nicht mehr willens oder nicht mehr imstande sind.

Wir müssen aber nicht auf solche überraschende Wendungen warten. Der erste Weg, um zu einer notwendigen Klärung zu gelangen, ist die Erkenntnis der Schwierigkeiten, die ihr im Wege stehen. Sind wir schon gezwungen, die Wanderschaft der Großen, die uns geblieben sind, zwischen den großen Theatern in Wien, München, Berlin, Frankfurt, Zürich, Düsseldorf und Hamburg hinzunehmen, so können doch diese Theater bei ihrer gemeinsamen Aufgabe, die höchsten künstlerischen Maßstäbe, aber auch Geist und Lebensgefühl einer neuen Zeit zu bestimmen, näher zueinander- rücken. Wir können feststellen und beginnen, was notwendig ist, daß sich unsere Großen, aber auch die Jugend, die im gleichen Raum lebt, da wie dort daheim finden, in einer verwandten unbedingten Hingabe, in der zugleich Leidenschaft und wirkliche künstlerische Höhenluft die Seelen beflügeln. Wir können der Welt immer kräftiger wiederholen, daß wir dem Publikum einer neuen Zeit zwar nicht immer neue vollendete Stücke, aber doch — wie es auch kommt — große Theaterabende zu geben haben. Abende, auf denen jedesmal ein Widerschein jener geistigen Wagnisse und Abenteuer liegt, ohne die das Theater zwar nicht sogleich seine Abonnenten und seine Einnahmen verliert, aber, was schlimmer ist: seine Seele und seinen Sinn.

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