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Unsterbliche „Pawlatschen“

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Bei Tag stehen sie acht Stunden an der Werkbank, doch erst am Abend erfüllen sie ihren Beruf: Schauspieler zu sein. Seit Generationen fließt Theaterblut in ihren Adern; unvorstellbar ist ihnen, daß sie eines Tages nicht mehr vor den Vorhang treten könnten, wenn die letzten Stegreiftheater dem Kino zum Opfer gefallen sind. Die „richtigen“ Schauspieler der großen Theater sind für sie keine Konkurrenten, denn sie wissen es am besten: Extempore zu spielen erfordert eine besondere Begabung; es ist eine eigene Kunst, ohne jeden vorgeschriebenen und eingelernten Text, nur aus eigener Phantasie und schlagfertiger Improvisation ein abendfüllendes Stück zu gestalten.

Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts spaltete sich der Schauspielerstand. Prehauser und Josef v. Kurz, der Hanswurst und der Bernardon des theresianischen deutschen Theaters in Wien, und Weiskern, ihr Regisseur und Szenarienschreiber, sie konnten noch beides: extemporieren und „regelmäßig“ spielen. Doch nach dem Siege des aufklärerischen Professors Sonnenfels im Wiener Hanswurststreit verlernten die Burgschauspieler die Kunst des Stegreifspiels. Bis zu Nestroy extemporierte man noch in den Vorstädtbühnen, dann hielt sich diese Kunst bei den ewigen Volkssängern und lebt heute — wenn man von großstädtischen Varianten im Kabarett absieht — ursprünglich nur noch in den wenigen „Pawlatschen“ der Wiener Arbeiterbezirke. Das Stegreiftheater Wiens ist ein Unikum im ganzen deutschen Sprachraum. Die Sommerarenen fristen kein künstlich erhaltenes Museumsdasein, sondern leben wirklich, denn sie erfeuen Tag für Tag ihr zahlreiches Stammpublikum.

Die Pawlatschen sind wirkliche Volkstheater. Auf den Holzbänken unter freiem Himmel braucht man kein Abendkleid. Die Theaterstücke erfordern keine spitzfindigen Erklärungen im Programmheft. Der Eintritt kostet weniger als ins Kino. Und so ist es möglich, daß die Leute, wie früher, fast täglich i h r Theater besuchen. So ist es möglich, daß Schauspieler und Zuschauer eine große Familie bilden, daß an den „Benefiz“-Abenden zu Ehren und zugunsten einzelner Bühnenmitglieder Blumen und Zigaretten den Publikumslieblingen zufliegen, daß anderseits alte Stammgäste ihren Namenstagsglückwunsch von der Bühne herab gesagt bekommen.

Fragt man die Schauspieler, wenn sie zwei Stunden vor der Vorstellung die freundlich bemalte Theaterbaracke betreten, was sie am Abend zu spielen hätten, wissen sie nichts.. Sie kennen nur den Titel des Stückes, der draußen am Plankenzaun plakatiert ist, und wissen, ob es ein „Lebensbild“, eine Komödie, ein Ritteroder Kriminalstück oder eine Bauernposse ist. Denn die Gattungen liegen traditionsgemäß im Wochenspielplan fest: Dem Freitag, als Todestag Christi, gebührt seit jeher ein ernstes Stück. Spielten die Wandertruppen den „Doctor Faustus“ und Kurz-Bernardon den gleichen Stoff unter dem Titel „In doctrina inte-ritus“, so heißt das Stück bei Leo Glas, dem Regisseur von Tschauners Ottakringer Sommerbühne, „Blond Margaretes Glück und Lei d“. — Am Samstag gibt es immer eine Bauernburleske. Der „Gspaß“ besteht aber nicht, wie bei manchen metropoli-sierten „Bauernbühnen“ Wiens, in einer Verulkung der „G'scherten“ aus städtischem Hochmut, sondern liegt eher auf der Linie des „Auf der Alm, da gibt's koa Sünd“, in einer etwas derben, aber urwüchsigen Komik. Am Sonntag gibt's meist ein großes Singspiel mit kleinem Orchester, .Wiener Liedern und vielen Kostümen, die die Frau Direktor selbst in sauberer Ordnung hält.

Den Inhalt all der „Komödien“ — denn alles Spiel läuft unter diesem Namen und alles geht letztlich gut aus — kennt aber nur einer: der Regisseur, der gleichzeitig die Szenarien verfaßt, die Dekorationen und Kostüme bestimmt und dem Publikum den Theaterzettel vorliest. Dieser geistige Leiter des Theaters besitzt Hunderte vergilbter Hefte, ererbt und selbstgeschrieben, immer wieder durch neue Einfälle erweitert: die Szenarien, die Plots der englischen Renaissancetheater, die C a-n e v a s der Commedia dell'arte, die Dramengerüste der deutschen Marktbudenkomödianten.

Die Szenarien enthalten in epischer Form den Inhalt des Stückes, wie er von den Rollenträgern vorgetragen wird. Also etwa am Ende des Faustspiels: Margarete denkt, für sie ist es noch nicht zu spät. Will den Sühnetod sterben, für ihr Kind, und ihn. Wenn Fausts letztes Stündlein naht, weil im Augenblick von Gret-chens Hinrichtung sein Zwölfjahresvertrag mit dem Teufel abgelaufen ist, heißt es: Bengalisches Feuer anzünden! und dann, an so wichtiger Stelle wörtlich gedichtet: Faust: Mich' verlassen alle meine Kräfte, / Aus meinem Körper schwinden letzte Lebenssäfte / Und Altersschwäche kehrt ganz schnell zurück. / Vorbei mein Leben, und vorbei mein Glück.'“

Die einzige „Probe“ der Stegreifschauspieler besteht nun darin, daß ihnen der Regisseur sein Szenarium vorliest, ihnen die Rollen genau charakterisiert. Außer den Charakteren ist also nur der äußere Gang der Handlung festgelegt, dazu kommen einige, für das Stück notwendige Spaße oder Sentenzen. Da sagt etwa der Regisseur: „Da macht's a recht a schöne Szene 1“ (wenn das Gefühl der Zuschauer gerührt werden soll) oder, im anderen Falle der traditionellen Narrenfreiheit: „Da macht's eure G'spaßerln!“ Text, Bewegungen, Gestik und Mimik aber werden frei vom Schauspieler, ohne vorherige Einübung „extemporiert“. Der Regisseur überwacht, das Buch in der Hand, den Gang der Handlung in die er in kleineren Rollen auch selbst eingreift.

Hat ich der Vorhang gehoben, sind die Arbeiter und Angestellten des Alltags wirklich zu „Künstlern“, wie sie bei ihrem Publikum mit Recht heißen, verwandelt. Man merkt sofort, daß nicht Laienspieler, sondern routinierte Vollblutkomödianten auf der Bühne stehen, Verwandler und Bekenner zugleich. Sie sprechen so gut und so schlecht, wie in ihrem Alltag. Sie denken praktisch, mit der nüchternen Geradlinigkeit des „gemeinen Mannes“. Sie lieben ihr Mädchen mit der Zurückhaltung, mit der kargen Herbheit ihres Wesens. Sie lieben die Mutter und die Heimat mit jenem gesunden Schuß Sentimentalität, der dem „goldnen Wienerherz“ eignet. Sie glauben mit jenem Optimismus an die ausgleichende Gerechtigkeit in der Welt, der dem Volk seine seelische Ueberlegenheit über den intellektuellen Skeptizismus (und dem Volkstheater die finanzielle Ueberlegenheit über das Inteilektuellen-theater) gibt. Und bei alldem: Sie spielen ihre Rollen, ob sie nun ihre improvisierten Sätze sprechen oder ob sie schweigend mitgehen, mit dem Temperament und der künstlerischen Spannung einer erstmaligen und einmaligen schauspielerischen Leistung.

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