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Junges Theater

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Premiere. In der Urania stellte sich die neugebildete Spielgruppe der Abteilung „Jugend spricht zur Jugend“ des „Theafers der Jugend“ mit der Aufführung von zwei Schönherr-Stücken („K arrnerleu t“' und „K i n d e r t r a g ö di e“) dem großenteils aus Jugendlichen bestehenden Publikum vor. Die Aufführung brachte die Überschneidung zweier Problemkreise, deren erster hier nicht berührt, nur angedeutet werden soll: Karl Schönherrs 80. Geburtstag wurde in der Stadt, in der er 1943 starb, von keiner Bühne gewürdigt — Schicksal des Österreichers —, dessen „Ehrengrab“ noch heute keine Tafel schmückt. Der Tiroler Dramatiker, dessen Bedeutung als Dichter nicht abhängig ist von unserer persönlichen Stellungnahme zu einzelnen seiner Anschauungen, war schon seinerzeit, als selbst die „Burg“ noch sein Passionsspiel brachte, in weiten Kreisen Berlins bekannter, anerkannter als in der Hauptstadt des Landes, dessen Menschentum er leidschwer erlebte und in leinen Werken formte. Jedoch — wenden wir uns von dem großen Toten der Jugend zu, die sich um das Leben seiner Gestalten hingebungsvoll und tapfer, wie es echter Jugend zukommt, bemühte. Da ist es zunächst einmal das Anliegen des Theaters der Jugend, welches in der neuen Spielgruppe neu zum Ausdruck kommt und das unser Augenmerk, unsere innige Teilnahme verdient. Hier wollen junge Menschen jungen Menschen einen Anschauungsunterricht von etwas geben, was heute selten, gerade für die Jugend z u selten, zu sehen ist: von der Erfüllung eines an Glück und Leid, Schuld und Unschuld reichen Menschenlebens, und zwar im Spiegel und Gleichnis der Kunst. Halten wir einen Augenblick inne, um die Große der Aufgaben, welche sich diese Spielgruppe und die hinter ihr stehende Arbeitsgemeinschaft, das „Theater der Jugend“, gestellt haben, einzusehen: Was bedeutet es denn, wenn hier aus allen gesellschaftlichen, politischen und weltanschaulichen Lagern die Jugend hereingeholt wird in den Raum des Theaters, der Kunst? Wenn Volks-, Fach-, Mittelschüler, auch noch Studenten mit, vor, und für sich Theater spielen? Geht es hier um eine Erlusti-gung, eine Ergötzung? Wir wissen: Kino und Unterhaltungsbetrieb der Gegenwart bieten mehr! Geht es hier um eine schulmäßige Belehrung, eine Anreicherung des Wissens — des Bildungsstoffes? Der Oberschüler soll mehr, der Lehrling und Fachschüler darf gern weniger wissen — es interessiert ihn auch kaum, wann, wo, wie, in welcher Beziehung zur Literatur die Gestalten stehen, welche er auf der Bühne sieht ufld im Atmen und Sichregen, im Gehen und Stehen, im Weinen und Lachen als Menschen, als volle, ganze Menschen ersieht und b'glückt begreift! Dies aber ist das Wesentliche: hier, auf der Bühne, kann der junge Mensch noch Vollmenschen sehen, nicht „Helden“ und „Heilige“, wohl aber Menschen, deren Schicksal, deren Tun und Lassen unter der Hand des Dichters zu al' gemeingültiger Bedeutung erblüht; hier auf der Bühne kann und soll sich der junge Mensch im Bild und Vorbild ein Menschentum erichauen, welches ihm das Theater unseres

Lebens fast immer verweigert! Man spricht heute wieder von einem neuen Humanismus. Die Jugend steht diesem ehrwürdigen Grundbegriff abendländischer Ordnung meist fremd und fragend gegenüber, sie kann mit ihm wenig, ja nichts anfangen: das menschlich Allzumenschliche, das wir „Erwachsene“ ihr auf der Bühne unseres Lebens vorspielen, ist sehr oft fragwürdig, zu eng, zu schmal, karg und dürftig, um sie für ein „reines Mensche n-t u m“ begeistern zu können. Die großen Humanistengenerationen der Vergangenheit kamen von großen Vätern und starken Müttern her ... Unsere Jugend ist allzuoft das „Produkt“ peinlich verworrener, in Not und Zwielicht verhangener sozialer und familiärer Verhältnisse. Dieser Jugend tut der Anschauungsunterricht eines echten Menschentums brennend not — danken wir es der Bühne, daß sie die Rolle und Aufgabe des Lebens und dessen Forderungen, den Ruf nach Freiheit und Gerechtigkeit, nach menschlicher Erfüllung übernommen hat, da dieses unser „Leben“ selbst sich oft nur schwach und verwirrt zur Wehr setzt wider die Lüge und Gewalttat der Zeit.

Ist es ein Zufall, daß den jungen Spielern der „Kindertragödie“ die Darstellung der durch die Schuld der Mutter in Angst und Schande, in Verzweiflung und Mord getriebenen Kinder beklemmend echt gelang? Wer immer sich heute anmaßt, über unsere Jugend zu Gericht zu sitzen, der sehe sich vorerst ihre Eltern an — Schönherr vermittelt beides: er läßt uns, gebrochen durch die Tränen und den Schrei der Kinder, das Antlitz ihrer Eltern sehen ...

Das zweite Stück des Abends wurde von Mitgliedern des Studios der Hochschulen gespielt. Am Vortag brachte dasselbe Studio „D ie versunkene Glocke“ von G. Hauptmann in einer beachtenswerten Inszenierung heraus — die winzige Bühne war sehr geschickt zu einem Raum ausgedacht, der die vom Märchen geforderten Dimensionen der inneren Weite und Tiefe in sich barg, die Spieler waren mit Hingebung bei der Sache, der Wohllaut, der gerade in diesem Stück sehr fülligen Sprache Hauptmanns kam rein und klar zum Ausdruck. Und doch, ein innerer Klang in diesem Stück stimmt uns nachdenklich: das Christentum als leib- und lebensfeindliche Macht, knöchern-ernst, bürgerlicher Moral auf Gedeih und Verderb verbunden — das Heidentum als sinnenfrohe, Apollon und Dionysos, Leben und Tod in reichster Verschwendung in sich bergende Übermacht — wer kennt d i e Weise nicht? Es kann und darf gerade heute, bei aller Anerkennung der dichterischen Leistung, Hauptmann der Vorwurf nicht erspart werden, daß auch er, der Repräsentant der Weimarer Republik, dann der stille Teilhaber am Geschäft des Dritten Reiches, mit zu jenen Dichtern gehört hat, welche wesentlich mit dazu beigetragen haben, einem barbarischen Blut-und Bodenmythos den Weg zu bereiten. Die Rosenbergsche Thesis vom leib-, natur-und lebensfeindlichen Christentum konnte sich nicht nur auf die dualistische Praxi gewisser bürgerlicher und kleinbürgerlicher

Kreise, sondern auch auf das Zeugnis des

Dichters berufen: Weh' aber dem Volk, dessen Dichter und Denker in der Stunde äußerster Gefährdung halbe Wahrheiten mit dem Glanz ihres Genius umkleiden! *

Die deutsche Sitte, Theaterstücke schwer zu befrachten mit metaphysischen Problemen, ist inzwischen im Westen Mode geworden, nicht zuletzt durch den Existenzia-lismus, der aber ebenfalls ohne seine deutschen Ahnherren kaum denkbar wäre. Um so froher durften wir in der Comedie fran-caise, welche ein zweitägiges Gastspiel („U n C a p r i c e“ von A. de M u s s e t, „Le %Barbier de Seville“ von Beaumarchais) in Wien gab, klassisches Theater der romanischen Welt begrüßen. Das Theater des Mittelmeerraumes steht dem nordischen Theater gegenüber wie ein Marktplatz des Südens dem Blocksberg, wie ein Salon in Paris einem Salon der Berliner Romantik von 1830: im Norden wird alles Theater zum weit- und überweltumfassenden Schauspiel, das Makrokosmos und Mikrokosmos mischt und bindet in Gesprächen, welche zwischen Himmel und Erde verschweben, und wenn es nicht um Himmel und Hölle geht, dann zumindest um Ideen und Programme, um seelische und geistige Konflikte. Ganz anders der Süden: dieses französische Theater ist Manifestation der Gesellschaft. Hier will sie sich selbst besehen, beschauen im Glanz ihrer Tugenden und Laster, ihrer Torheiten und Eitelkeiten, wobei es aber viel weniger auf das Wie-Sein als auf das Da-Sein ankommt. Deshalb vermag Beaumarchais in seinem „Barbier von Sevilla“ alle Gestalten seiner Phantasie gleichermaßen plastisch, farbig herauszuarbeiten; wesentlich ist nicht, was getan wird, wesentlich ist allein die Geste, die Gebärde, die strahlende Darstellung des bunten Lebens — ein Gemälde, in dem alle Farben gleichermaßen zu Recht bestehen. — Noch stärker kommt dies in dem Kabinettstück von Musset zum Ausdruck. Die „Handlung“, wenn man hier überhaupt noch von einer Handlung sprechen kann, ist sehr nebensächlich, bedeutsam ist nur das Agieren, das Sich-zur-Schau-Stellen von Personen, welche sich vollauf bewußt sind, daß sie in jedem Augenblick von der Bühne heruntersteigen und mitten in der „Gesellschaft“ ihr Spiel fortsetzen können: in der Gesellschaft, deren Vor- und Abbild sie selbst sind, in Sprache, Haltung und höfischer Gebärde.

In diesem Sinne gab die Comedie francaise in Wien das Schauspiel, die in sich geschlossene Darstellung einer Welt, die sich mit dem heiteren Glanz des Vordergrundes begnügt, bescheidet und gerade dadurch ihre Maß des Menschlichen vollendet erfüllt.

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