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Weltansdiauungstheater

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Ergriffen verlassen wir den kleinen Raum. Hier, wenige Schritte vom Lueger-Denkmal entfernt, im unterirdischen Lokal des „Lieben Augustin“ wird erregendes, zeitnahes Theater gespielt. Das „Theater der Courage“ bringt von Siegfried Freiberg, uns wohlbekannt als Autor feinsinniger Romane und Erzählungen, „d a s kleine Weltwirtshaus“ zur Erstaufführung. Der Prospekt vermerkt: „Dieses Stück spielt" nach dem zweiten Weltkrieg in einem Gasthaus an der Grenze.“ Otto Renner, der Wirt, verkörpert leibhaftig die Grenze, um die es hier geht. Ein Schlaganfall hat eins Körperhälfte gelähmt — so gehört er zwei Reichen an, jenem der Toten und dem Reich der Lebenden. So auch die Gäste: hier werden von „Monseigneur“, dem Herrn der Geschichte und der Gerichte, Gäste aus beiden Welten zusammengeführt, zu furchtbarer, aber gnadenhaft sinnerfüllter Begegnung. Menschen aus dem Wien 1948: der junge Arbeiter, der aus etlichen Anhaltelagern entlassene Oberleutnant, die noch junge Wittib, der ehemalige SS-Sturmführer und der Professor. Menschen mit verhärteten Herzen, die nicht begreifen wollen, daß sie , mitschuldig sind an Elend, Leid und Not, am Kreislauf des Übels, des Bösen, das weiterhin mit giftigen tödlichen Fährten die Erde befleckt. Menschen von Gestern, die das Heute nicht ertragen wollen und haß- und ressentimenterfüllt einem blutigen Morgen der Vernichtung und des Untergangs entgegenträumen. Nur einer tritt heraus, steht nicht im Bannkreis dieser Beklommenheit in der uneingestandenen und deshalb unüberwindbaren Schuld: der junge Arbeiter, ein einfacher Junge aus dem Volk, mit einem frischen, lauteren Herzen. An ihm allein wird kein Gericht vollzogen; er ist ihm entnommen, weil er geborgen ist in der Liebe. Das Gericht: ja, hier wird es vollzogen — aber, in. welch erschütternder Form! Das Wie zeigt nicht nur die dramatische Begabung des Dichters auf, sondern offerfbart zugleich einen gläubigen Sinn, der diesem Drama der Gegenwart jene befreiende, erlösende Wirkkraft mitteilt, die wir bisher bei den wenigen Zeitstücken der Gegenwart vermissen mußten. Die Toten, Sohn, Mutter, Soldat, Student — insgesamt Opfer, zu Tode gebracht durch die Gedankenlosigkeit, Herzenshärte, Verblendung der Lebenden —.erscheinen nicht, um ihre Peiniger von Gestern abzuurteilen, sondern um sie zu erlösen ! Dies Werk der Erlösung bedeutet: Befreiung vom Haß. Die Toten öffnen den Lebenden die Augen über ihre Selbstsucht, ihren Dünkel, ihren grenzenlosen Egoismus, über die Dämonie zumal der kleinen Untaten. Denn — und dies aufgezeigt zu haben, muß dem Autor als besonderes Verdienst angerechnet werden — das große Böse wächst hervor aus den zahllosen kleinen Verfehlungen des täglichen Lebens, aus dem täglichen Versagen, dem Sichver- sagen dem Nächsten gegenüber …

Noch leben die Lebenden; noch ist ihnen Zeit zur Umkehr, zur Wandlung, gegeben. Und sie wandeln sich — auf der Bühne — alle. Vielleicht im einen oder anderen Falle zu sdinell. Auch der Geschichtsprofessor, selbst der Sturmführer… Tut es noch not, zu sagen, daß dieses kühne Stück in seiner klaren inneren Ordnung turmhoch etwa über der gerissenen, schmissigen Reportage vom General des Teufels steht? Was dort kaum angedeutet, in Phrasen verzerrt, nur nebelhaft sichtbar wird weil mit dem inneren Auge nicht ersehen!, das tritt hier klar hervor — ans Licht eines neuen Tages: die Ordnung, die h e i 1 e Ordnung einer besseren, weil entsühnten Welt!

Ein Hinweis: dieses Stück sollte sobald als möglich in allen unseren Ländern gespielt werden. Zunächst aber mögen es sich die Wiener ansehen; alle diese Wiener von 1938, von 1945 und 1948. Ein letztes: gespielt wird aufopfernd, hingehend, so lebendig wie das Leben selbst, das hier sinnbegriffene Gestalt gewinnt.

Seltsam und erfreulich! Zur selben Zeit versucht sich der junge M i 1 o D o r in seinem Traumspiel „Der vergessene Bahn- h o f“, aufgeführt von der „Szene 4 8“, einer Gruppe junger, an ihre Mission glaubender Schauspieler, in der Urania an einem sehr ähnlichen Thema. In einer Zwischenwelt, zwischen Hier und Drüben, eben auf dem verlassenen Bahnhof, quälen sich Tote — Gefallene, Justifizierte, Gemordete des letzten Krieges — mit der Frage ab: sind sie umsonst gestorben? Werden ihre Ideale nicht weiterhin auf Erden geschändet, war nicht ihr Opfer vergeblich? Dors Stück ist in Ansatz und Durchführung bedeutend schwächer als das Drama Freibergs, es kennt auch keinen echten Ausweg aus der in jeder Hinsicht verfahrenen Situation. Dem Appell an das „Publikum“, an die Verantwortung des Menschen von heute fehlt die Überzeugungskraft des dichterischen Ingeniums, und, vor allem die eigene Einsicht in die wahren tieferen Wurzeln des Übels, des mal du siede. Der Autor hat, so scheint es zumindest nach diesem Stück, die Geister, die er bannen möchte, noch nicht ganz in der eigenen Brust überwunden. Als Ganzes jedoch — ein beachtenswertes Zeugnis für den ernsten Willen einer neuen Jugend, sich Rechenschaft über Geist und Ungeist unserer Zeit abzulegen.

Wie seltsam sticht von all dem die zweite Premiere der „I n s e 1“, G. B. Shaws „Androklus und der Löwe“ ab! Eine kultivierte Aufführung, schauspielerisch eine Glanzleistjung, regiemäßig sicher, sehr gekonnt, ein überraschend starkes Bühnenbild, das den kleinen Raum perspektivisch weitet. Dazu der geschickte Einsatz eines neuen Instruments, des Heliophons, als Geräuschkulisse. Nicht zu vergessen die prächtige Maske des Löwen. Ein großer Publikumserfolg. Inhaltlich ist das Stück, auf seine Gründe besehen, ej n sprechender Erweis letzter Dekadenz’ der „w estlichen“ Hemisphäre. Einer Welt, die um ihre eigene Ursprünge nicht mehr weiß ünd ihre letzten Werte in Ulkereien verspielt, Bei der Wehrmacht, in der Rekrutenausbildung, hatten unsere höheren und niederen Chargen ein nettes Spiel erfunden: sie jagten uns durch Wald und Flur, in der Stube auf Spind und Bett, zwangen uns, unter die Tische zu kriechen, Männchen zu machen, wie Tiere herum- zuhopsen usw. Und nannten es, gut gelaunt, „Christenverfolgung".

Shaw stellt dasselbe Spiel, in Form und Einfärbung allerdings wesentlich „amüsanter“, auf die Bühne. Die ersten Christen sind, um nochmals im Jargon unserer Ausbildner zu sprechen, „ein trauriger Verein von Weihnachtsmännern“: Hampelmänner ihrer Ängste, Einfältige, Narren. Ihre Protagonisten — eine sehr kluge Frau, ein bärenstarker Schmied und der Schneider Androklus sind aus ziem lieh undurchsichtigen Gründen in diese jahrmarktbunte Gesellschaft hineingeschneit; sie werden sie, bald genug, wieder verlassen.

Shaw zieht also, in seiner Komödie, die Summe aus dem zweihundertjährigen Zersetzungswerk, das etwa bei Voltaire beginnt und bei Alfred Rosenberg einen Kulminationspunkt erreicht. Geschichte und Wirklichkeit der Christenverfolgungen des zweiten nicht des zwanzigsten Jahrhunderts werden also für geeignet befunden, den burlesken Hintergrund einer Komödie abzugeben, die stoffgemäß die alte Fabel vom dankbaren Löwen, dem der Sklave Androklus einst von einem Dorn befreit hat, behandelt. Das Publikum merkt nicht — e lacht und7 freut sich herzlich. Die Presse, zumal jene der äußersten Linken, ist begeistert. Was würden diese Herren und Damen sagen, wenn man ihre Helden und Märtyrer, die im Kampf gefallenen Soldaten der sozialen Revolution, zum Gegenstand einer Komödie machen würden? Die Christen aber müssen sich alles gefallen lassen — sie sind ja schon zweitausend Jahre tot….

Shaw, der „große alte kranke Mann", der letzte Mann von Gestern. Instinktlos für das, was tatsächlich in unserer Zeit vorgeht, vermochte er es, in einer Epoche gigantisch anhebender Glaubenskriege und Verfolgungen sich über diese lustig zu machen. Der „Einfall“, eine Komödie um das Todeslos der ersten Christen zu schreiben, konnte nur in einer Welt auf keimfähigen Boden fallen, der jede innere Beziehung zum Christentum verlorengegangen ist.

Julien Green, der große Anglo-Franzose, erzählt in seinen Tagebüchern eine Episode. London 1940. England kämpft den vielleicht größten und tapfersten Kampf seiner Geschichte — gegen die. deutsche Luftwaffe, deren Angehörige nach dem System der oben skizzierten „Christenverfolgung“ ausgebildet worden waren. Tausende Kinder werden aus London evakuiert, tim den Schrecken des „Blitzes“ zu entgehen. Green mischt sich unter eine große Schar dieser Kinder, die auf ihre Evakuierung-Transporte warten; fragt, ob sie wissen, wer Christus sei. Sdiweigen. Langes Schweigen. Dann erklärt ein Kleiner: a swearword — ein Schimpfwort! Die gesamte Geschichte unserer Nachkriegszeit wird durch dieses Kinderwort der Kriegszeit beleuchtet.

Shaw macht aus dem Schimpfwort ein Scherzwort.

Das Publikum lacht, köstlich unterhalten.

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