6663775-1960_22_01.jpg
Digital In Arbeit

Wieder Krieg?

Werbung
Werbung
Werbung

Es riecht nach Krieg“, schrieb eine volkstümliche Massenzeitung Wiens, als die Stellungnahmen der Weltmächte über den Luftzwischenfall von Swerdlowsk in die gedämpftoptimistische Vorgipfelstimmung einbrachen. Die dreitausend Berichterstatter aus Paris, die Leitartikler und Kommentatoren in den meisten Ländern der Erde, die ihre Meinung nuT kurz formulierenden Politiker in Ost und West: sie alle vermieden es, das Wort „Krieg“ mit jener deutlichen Brutalität auszusprechen, die vor 1914 sogar das Beiwort „frisch-fröhlich“ nicht scheute. Aber sie alle sparten in ihren Berichten, Kommentaren und Reden beschwörend jeden freien Raum aus, den man im Druck durch jene ominösen Punkte markiert, die dem Leser das Zuendedenken bestimmter Alternativen und Konsequenzen anheimstellen.

Und die vielen Menschen um uns haben das Zuendedenken nun doch langsam begonnen. Die meisten scheuen sich, das Wort vom dritten Weltkrieg auszusprechen. Sie schrecken vor der magischen Gewalt des Herbeibeschwörens zurück. Aber die Angst, die große Ratlosigkeit sitzt in ihnen, die Ohnmacht und die Sorge.

Sagen wir es doch ganz offen: Ja. wir haben Angst, nicht nur die kreatürliche Furcht des Unbewußten, sondern eine durch den Verstand und die Erfahrung untermauerte Angst vor einem neuen Weltkrieg, den wir an den konkret erlebten Schrecknissen des ersten und des zweiten unseres Jahrhunderts messen. (Für den gesteigerten Schrecken des Krieges der Zukunft fehlt uns trotz aller detaillierten Prognosen ganz einfach die Phantasie. Aber auch das Vergangene genügt.) Wir suchen die Angst zu bannen, .indem wir verschweigen, sie beim Namen zu nennen, uns in Stammtischkombinationen flüchten, ein Netzwerk von „Wenn“ und „Aber“ weben. Aber die Angst bleibt tief drinnen sitzen. In den vergangenen drei Tagen vor dem Himmelfahrtsfest hielt die katholische Kirche des Erdkreises ihre uralten beschwörenden Bittgänge. In der dort gesungenen Litanei wird der Krieg, zusammen mit Pest und HungeT, beim Namen genannt, als ein über die Menschen kommendes Übel, das das große und beharrliche Gebet der irdischen Christengemeinde, im Einklang mit den Engeln und Heiligen wenden soll. Aber wer hat diese Litanei schon, in der Glaubensinbrunst der Alten mitgebetet, wer hat geglaubt, daß dieses Gebet den Willen des lebendigen Gottes, den wir nur in mathematischen und statistischen Gesetzen zu erkennen belieben, wahrhaft zwingen könnte, wie das Gebet des Moses oder das des Gideon in den Schlachten des alten Bundesvolkes?

Auch wer diese Zeilen, zusammen mit hundert anderen, ungleich besser informierten, sorgsamer abgewogenen, gelesen hat, wird dieser Angst nicht Herr geworden sein, ebensowenig wie der, der die gesamte Wellenskala seines Rundfunkempfängers durchlaufen und hintereinander die Botschaften Eisenhowers, Chruschtschows, McMillans und de Gaulies vernommen hat. Niemand kann uns diese Angst nehmen, zu der wir uns bekennen müssen.

Wohl aber kann ihr der Charakter des Verwirrten und Verwirrenden, des Dunklen und Verdunkelnden durch einige ruhige und gelassene Überlegungen genommen werden, Wir geraten in; einen magischen- Teufelskreis des Denkens im zwingenden Dreiertakt, wenn wir heimlich nach Zeichen cler Parallele zwischen jetzt und damals forschen, wenn wir das Wort Swerdlowsk als ein drittes an die beiden anderen fügen, an Sarajewo und Danzig ... . Die Einsicht in die Geschichte — frei von jeder verharmlosenden oder dramatisierenden Tendenz — sagt uns:

Der erste Weltkrieg begann in einer Welt, die das Katastrophenzeichen des Widerspruchs in sich selbst trug. Man zerbricht sich' seit mehr als vierzig Jahren den Kopf, wer ihn eigentlich gewollt hat. Graf Berchthold oder Poincare. Großfürst Nikolaj Nikolajewitsch oder der Großadmiral Tirpitz. Keiner wollte ihn, und doch bejahten sie ihn — nur in ganz seltenen Fällen zynisch oder verzweifelt eingestanden, alle — Den Weltkrieg, den sich niemand vorstellen konnte, zwar nicht; aber den Krieg als eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln um so überzeugter. Selbst das maßlos überschätzte Geflecht der Entents, Bündnisse und Allianzen, das man aus dem achtzehnten Jahrhundert herübergerettet hatte, soll niemanden täuschen. Für alle und jeden galt im Grunde nur.die „raison“ des eigenen Staates, der „sacro egoismo“. dessen offene Proklamation die ertappten Prüden den Italienern so sehr verargten. Man war, wie die Dokumente eindeutig beweisen, noch wenige Monate vor Kriegsausbruch in jeder Hauptstadt bereit, den Partner zu wechseln. Verträge offen oder heimlich zu lösen, seinen ..Schnitt“ zu machen. Man rief laut „haltet den Dieb“, wenn man den einen oder andern Bündnispartner, der es zu ungeschickt anstellte dabei ertappte, man jonglierte mit den einander widersprechenden Phrasen der „Nibelungentreue“ und der ..Politik der offenen Möglichkeiten“. Aber man glaubte nicht mit einer Faser des Herzens an die höheren Ordnungen, denen auch die staatlichen und nationalen Groß-Organismen unterworfen bleiben. Die Apparate hatten damals wesentlich mehr Eigengesetz und Eigengewicht als heute. Das erschütternde Telegramm des Zaren Nikolaus II. an seinen kaiserlichen Vetter Wilhelm, wenige Stunden vor Ausbruch des Weltbrandes spricht für sich: „Ich kann die in Gang gekommene Entwicklung nicht mehr aufhalten., selbst wenn .ich. es wollte“. Die militärtechnischen Erwägungen des russischen Generalstabes, die auf den langen Mobilisierungs-fristen und Anmarschwegen des Riesenreiches basierten, hatten bereits den Ausschlag gegeben, dieweil die beiden Monarchen noch im archaischen Stil der Fürstenzeit miteinander korrespondierten. Jeder mißtraute jedem, weil er Freund und Feind jener Handlungsweise für verdächtig hielt, die „die Maxime des eigenen Tuns“ bildete. Die euphorische Blindheit war die natürliche Nemesis für jenen Clan^Egois-mus, der die Staatenwelt zu Jahrhundertbeginn trotz aller Haager Konferenzen und pathetischen Deklarationen als Lebensprinzip beherrscht. hatte. Pius X. konnte nichts anderes tun; als weinen und sterben... Sarajewo war in Zufallspunkt in einer Reihe, die über lange Jahre zurückging. Er hätte ebensogut Agadir oder Mönastir heißen können ...

DANZIG

Auch 1939 war es die aus dem Egoismus geborene Angst; die die Welt schließlich zwang, aus der Harid Hitlers den Fehdehandschuh aufzunehmen. Angst und jene von Clausewitz getadelte „verräterische Klugheit“ beherrschten die Staaten des europäischen Konzerts, das nach 1918 makabre Urständ gefeiert hatte. Man wollte seinen „Schnitt“ machen, wenn es sein mußte: auch mit Hitler. Man verhinderte gemeinsames Vorgehen beim ersten Rechtsbruch des nationalsozialistischen Regimes. Man überhörte die verzweifelten Hilferufe vom Ballhausplatz, man verhöhnte den in Genf erscheinenden äthiopischen Kaiser mit dem geifernden Gebell der Feiglinge, das sich am Anblick fremder Schwäche entfesselt. Man verriet die 1918 geschaffene, um Demokratie bemühte CSR, man zuckte die Achseln über den zusammenbrechen den Hacha zu Berlin Man hielt sich die Ohren zu, um das Stöhnen der KZ-Opfer nicht zu hören, man wandte seine Blicke ab und erfreute' sich an den prächtigen Sportlern und schwellen-ien Weiblichkeiten der großen Olympiade. Man mißbilligte stirnrunzelnd die Methoden Hitlers und seiner Rabauken, aber man hatte einen Funken von Verständnis für die Raubtiermoral dieses neuen Deutschland. Schließlich war es — alles in allem - eben auch ein Staatswesen mit seinen Interessen, seinen Querverbindungen, seiner „raison“. Als die Auseinandersetzung unvermeidlich wurde — für die zarteren Nerven des Westens 1939, für die robusteren Begriffe der Staatsmoral Stalins erst zwei Jahre später, stand man ihr zunächst hilflos gegenüber. Das, was noch 1938 kaum einige Monate gedauert hätte, dauerte sechs entsetzliche lahre.

SWERDLOWSK ...

Die Politiker von 1914 wie die von 1939 kannten als Kinder ihrer Zeit und als echte Exponenten ihrer in der Mehrheit gleichgesinnten Völker die schäbige „kleine* Angst, die Hand in Hand geht mit der ebenso schäbigen Hoffnung auf den „großen Schnitt“. Sie liebten ihr Leben in jenem abgesonderten, sündigen Sinn, dem die Verdammung des Evangeliums gilt. Sie konnten nur im Krieg enden.

Auch die Politiker von heute sind weder Heroen noch Heilige geworden. Aber die ..große“ Angst vor dem gemeinsamen Untergang hat die kleine Angst und die schäbige Hoffnung in ihnen zerstört. Die große Angst, die auch wir in uns spüren und die uns jeden geheimen Gedanken an einen möglichen „privaten“- Kriegsgewinnlervorteil als grotesk erscheinen läßt, ist zu einem F aktor der Geschichte von heute geworden.

Trotz, ja vielleicht wegen dieser Angst hat die freie Welt bislang jenen kleinen und unromantischen Mut bewiesen, für den das schnoddrige, der heldischen Pose so durchaus abholde, zuweilen sogar recht gern gegen „Bonn“ meckernde Berlin zum Symbol geworden ist.

Die große, tiefe Angst und der ganz kleine, -nhneklappernde Mut...

Wir glauben fest, daß sie den Weltkriegsausbruch verhindern werden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung