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Shakespeare-Uraufführung in Wien

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In Wien sah man mit großer Spannung und Skepsis dem Festwochengastspiel der Shakespeare Memorial Theatre Company mit dem Trauerspiel „Titus Androiiicus” im Burgtheater entgegen. Der außerordentliche Erfolg dieses Experiments — wir erinnern uns nicht, daß je ein Schauspiel in einer fremden Sprache so triumphierend sich hier durchsetzte wie dieses — verpflichtet, einige Ueberlegungen über seine Ursachen im allgemeinen und die Gastspiele auf der Bühne der Festwochen in fremder Sprache anderseits anzustellen. Hier gilt es zunächst in einem Atem festzuhalten: diese Aufführungen werden von einem sehr kleinen Teil des Publikums, manchmal von einem verschwindend geringen Prozentsatz wörtlich verstanden: das gilt selbst für Darbietungen in Weltsprachen; die Aufnahmsfähigkeit ist deshalb naturgemäß verringert; dennoch haben sie ihre Bedeutung, und wir wollen sie nicht nur mit dem Munde herzlich begrüßen, sondern uns immer mehr noch bemühen, ihre wahre und unersetzliche Bedeutung für die Wiener Festwochen, als ein Spektrum der Weltliteratur und der vachsenden Weltkultur, aufzunehmen. Eine einzige, andere Klangfarbe, Modulation, das andersartige seelische Klima, das da in Auffassung, Wort und Gestik der Schauspieler und Regie aufklingt, vermag bereits Werte und Wirklichkeiten zu vermitteln, die das eigene Leben bereichern und langsam zur „Allberührung” (Stifter) fähig machen. So erging es, um ein Beispiel des Vorjahres zu nennen, nicht wenigen Besuchern beim Gastspiel des Stockholmer Nationaltheaters.Nun, das Englische ist nach wie vor die primäre Weltsprache, und Shakespeare nach wie vor der unvergleichliche Dramatiker der Weltbühne, dennoch sah man seinem „Titus Andronicus” mit einigem Bangen entgegen. Es ist ja kein Zufall, daß dieses Werk in dreihundert Jahren äußerst selten aufgeführt wurde, in Wien, ja in Oesterreich noch nie auf die Bühne kam, wenn nicht doch eine der fahrenden englischen Komödiantengesellschaften, die im IS. Jahrhundert die deutschen Lande durchzogen, und in der Art der Pradler Ritter- und Schauergeschichten Shakespeare brachten, vielleicht mit diesem „Titus Andronicus” auch zu uns kam. Das umstrittene Jugendwerk, allem Anschein nach ein Frguß des Sturmes und Dranges des späteren Großmeisters unseres europäischen Theaters, wirkt bei der Lektüre ganz und gar wie eines jener blutrünstigen barocken und nachbarocken Schauerstücke, die das Volk vergangener Jahrhunderte so sehr liebte. Es wimmelt denn dä auch von Mord und Gewalttat: auf der Bührte wird gemordet Hände werden abgehackt, es wird geschändet, die Zunge herausgeschnitten, und zu guter Letzt verspeisen zwei der ärgsten Uebeltäter das Fleisch und Blut ihrer Kinder, wohl zubeTeitet vom Haupthelden, in Pastetenform. Von den sechzehn namhaften Personen des Stückes werden vierzehn vom Leben zum Tode verbracht. Wahrhaftig, ein Schauerstück von „Mörde- reien, Vergewaltigungen und Massakern”, wie es Shakespeare selbst nennt.

Wie aber gelingt es nun, Sir Laurence Olivier und seinem Ensemble, dieses Stück einem fremdsprachigen Publikum in einer erschütterungsmächtigen Aufführung zu präsentieren, so daß alle den Eindruck hatten: wenn es heute großes, echtes Theater gibt, dann ist es hier zugegen? Der von Applaus umfangene große englische Mime „rechtfertigte” am Ende des Stücks, in deutscher Sprache, die Vorführung gerade dieses Schauspiels mit dem Hinweis darauf, daß es im Ausland sehr wenig bekannt sei (fehlt es doch auch in vielen Shakespeare-Ausgaben). Ein Wort wahrhaft keltischer List. Gerade dieses Trauerspiel bot nämlich Sir Laurence Olivier eine einzigartige Gelegenheit, spezifische Wesenszüge englischer Geschichte und aller ihrer Elemente, von der archaischen Urzeit, römischer, keltischer, angelsächsischer und normannischer Vergangenheit herauf bis zur Gegenwart wie in einem Schmelztiegel und Brennspiegel zusammenzufassen; überhellt, scharf erfaßt durch einen Intellekt, eine künstlerische Intelligenz, die, wie es Dichtung und Denken eines Joyce, Auden, Eliot, Dylan Thomas zeigen, ihre Zauberkraft in der Komposition, in der höchst bewußten Verbindung aller dieser Elemente demonstrieren. Es sind die Schrecken und Aengste, die in unserer Zeit bewußt und unbewußt präsent sind, die .wir alle in den Adern spüren, die hier ein überlegenes Wissen präsent macht und objektiviert in den Greueln und grauenvollen Bildern alter, scheinbar längst vergessener Vergangenheit: diese Bilder’ können aber jederzeit Wirklichkeit werden, „ansprechend” wie die Bilder des Märchens, weil sie an Urinstinkte, Urängste, un- bewältigte Triebe und Leidenschaften rühren, die heute mächtig und erschreckend heraufdrängen in allen Kontinenten.

Es tut auch gut, festzuhalten, daß in diesem Trauerspiel nichts vorkommt, was nicht in der Geschichte Alteuropas und zumal auch Altenglands, immer Wieder grauenvolle Wirklichkeit wurde: so, wie da auf der Bühne des Theaters, wurde immer wieder auf der Bühne unserer Geschichte gemordet, geschändet, vergewaltigt — im Kampf um die Macht. Gerade auch die uns heute so fremdartig vorkommende Anthropophagie, das sakrale Mahl, das Verspeisen des getöteten Feindes, ist nicht nur uralte tausendjährige „Gewohnheit” des Menschen, heute noch zumindest im geheimen in Neuguinea und anderen abgelegener Räumen praktiziert, sondern auch in unserem europäischen Mittelalter, also im großen Geburtsprozeß unserer abendländischen Nationen. Der „Titus Andronicus” spielt denn auch in einer archaisch-römischen Welt, die zugleich frühes Mittelalter, Völkerwanderungszeit umfaßt. Dieser Titus Andronicus, der mit den Leichen zweier Söhne aus siegreicher Schlacht heimkehrend, einen dritten Sohn, der „vorlaut” war, ersticht, später seine unschuldige Tochter Lavinia tötet, verkörpert die Ur- und üebermacht des römischen Erzvaters, Chronos, Saturn und Zeus in einer Person, über Leben und Tod aller seiner Familienmitglieder. Laurence Olivier drängt in seiner Gestaltung dieser zunächst schreckenerregenden, dann ergreifenden Persönlichkeit die Geschichte eines Dutzende Generationen römischer „Väter” zusammen: vom gottgleichen Uebervater und unheimlichen Richterkönig der Urzeit zum leidgereiften, mitleidenden Vater christnaher Zeitläufe. Die Gotenkönigin Ta- mora, zuerst seine Gefangene, dann die Mörderin seiner Sippe als Kaiserin (von Maxine Audley gestaltet), ist eine jener schrecklichen germanischen Fürstinnen der Völkerwanderungszeit, wie sie Gregor von Tours für das Frühmittelalter, die römische Papstgeschichte für das Hochmittelalter festhält. Der außerordentliche Mohr Aaron (Anthony Quayle) verkörpert afrikanische Grausamkeit (wer denkt da nicht an die gegenwärtigen Ausbrüche des nord- afrikanischen Vulkans) mit einer hochmodern wirkenden reflexiven Boshaftigkeit, er ist ein Genie des Bösen, eine Blume des Teufels, wie ihn die Dichter der Satanologie erträumten, und zugleich tierhaft Schön eine wunde Kreatur, die ihr Kind, gezeugt mit der Gotenkönigin, mit rasender, selbstverleugnender Zärtlichkeit liebt. Einen vollen Klang später shake- spearischer Traumpoesie, die das Gute in diese Welt von Mördern hereinscheinen läßt, sprachlos, leise, in traumhaft-gütigen, „rührenden” Bildern, verkörpert Vivien Leigh als Lavinia: ganz ergreifende Gestalt, ohne Hände, ohne Zunge, ganz Erscheinung. Daß dieses Stück zu rühren vermag,, dankt es zum hohen Teil der Faszinationsmacht seiner Bilder und Töne: Peter Brook, als Regisseur, Bühnenbildner und Komponist, versteht es, mit einem Spezialteam von Mitarbeitern das Grauen zu wecken und zu bannen. Diese Bühnenbilder und Gestalten atmen das erregende Grauen antiker Grabmale, etruskischer und „pelaskischer” Totenkulte. Bewegungen werden da vorgeführt, die an uralte Zauberriten mahnen, die Geräte (etwa die Standarten, Masken, Trinkgefäße) schweben herein aus den Totenstädten archaischer Vorwelt. Töne erklingen, wie Tuben, des Jüngsten Gerichts.

Dieses Zusammenspiel von Urzeit und jüngster Neuzeit, der Formen und Handlungen unserer Vorzeit mit den Nerven und dem Instinkt wachster künstlerischer Intelligenz und modernster Formkraft, läßt also in mehrfachem Sinne eine Uraufführung Shakespeares entstehen: Shakespeare wird wiedergeboren in den in seiner Zeit und seiner Brust gegenwärtigen archaischen Elementen (welche Grausamkeit, welche Brutalität, welche Nüchternheit und welche Hoheit in diesem Britentum; der Weg von der Schlacht von Hastings zu Cecil Rhodes). Die Urzeit selbst steht wieder auf, beschworen und gebändigt. Und die Gegenwarten: wir erschrecken ehrfürchtig vor dem, was uns zukommt, wenn Wir in uns selbst zerfallen in die Urelemente, in das Chaos, das auch in uns noch zugegen ist. — Rückblickend auf dieses Festwochenereignis lohnt es sich, die englische Dichtung und bildende Kunst der Gegenwart wieder zu lesen und zu besehen. Der British Council, der dieses Wiener Gastspiel der Shakespeare Memorial Theatre Company möglich gemacht hat, konnte sich keine faszinierendere Werbung für englische Weltpotenz heute beschaffen.

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