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Der Regisseur — Diener des Dichters

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WOHL KAUM JE wurden Opern und Symphonien so vollendet wiedergegeben wie heute, ebenso hat die Darbietung der Sprechstücke sehr oft eine Reife erlangt, die früheren Zeiten unbekannt war. So kommt heute nicht nur dem Dirigenten, sondern auch dem Regisseur eine gesteigerte Bedeutung zu. Die Produktion lahmt, die Reproduktion setzt ungleich mehr an zielbewußter Arbeit und Anspannung, an Formkraft und Phantasie ein als vordem, sie erfreut ich somit gehöhter Wertschätzung.

Welche Aufgabe kommt dem Regisseur zu? Er hat das Geistige des Bühnenwerks ins Sinnliche der Szene umzusetzen, die Vorstellungswelt des geschriebenen Worts hörbar und sichtbar zu machen. Vor allem aber obliegt es ihm, den Sinn des jeweiligen Stücks mit den Mitteln der Bühne nahezubringen. So erklärt Jürgen Fehling: „Viel, viel wichtiger als alles, was ich auf der Probe leisten kann, ist die Tatsache, daß ich glaube, ich kann ein Stück lesenl Wer das kann, ist ein großer Regisseur.” Damit aber mag es dem Spielleiter gelingen, wie Heinz Hilpert sagt, „ein Werk zum Strahlen zu bringen, indem es das Wort wirklich und wesentlich macht und den Sinn leuchten läßt.”

Nun kann man gewiß jedes Stück auf hundert Arten und alle hundertmal richtig inszenieren — richtig, das heißt nicht im Widerspruch zum Dichter —, aber nur ganz wenigen dieser Wiedergabearten wird jeweils Bedeutung zukommen. Aufgabe des Regisseurs ist es, den Dichter, der vielleicht einer vergangenen Zeit angehört, aus den geistigen Bereichen, aus dem Erleben der Gegenwart heraus szenisch zu interpretieren. Unsere Beziehungen zu den dramatischen Meisterwerken der Vergangenheit verändern sich immer wieder, wir haben dies gerade in der letzten Zeit unter dem Eindruck der über uns hereingebrochenen Katastrophen mehrfach erlebt. So verweist Oscar Fritz Schuh darauf, wie harmlos doch eigentlich heute Franz Moor wirke, mißt man ihn an so manchen Unmenschen der jüngsten Vergangenheit, wie sehr unser Vorstellungsbild von einem Stück von der Aktualität des Tages abhänge und sich somit „jährlich, um nicht zu sagen monatlich” ändere.

NUR WENN DER REGISSEUR voll in der geistigen Situation der Zeit steht, nur wenn sein Spürsinn, sein Gestaltungsvermögen von den Blutströmen der Gegenwart gespeist wird, wenn er ihre wesentlichen rationalen und irrationalen Kräfte in sich trägt, kann es ihm gelingen, Bühnenwerke mit der Gewalt des Ursprünglichen, elementar Heutigen auf uns wirken zu lassen. Insonderheit in unseren Tagen wird ein Regisseur, der nicht die ganzen Katarakte der vergangenen Jahrzehnte und der unmittelbaren Gegenwart in sich bitterst durchlebt hat, kaum viel zu geben haben. Aus dieser Haltung heraus führt Barrault die „Orestie” von Aischylos auf und zeigt da die Ueberwindung der Angst, jenes Gefühls, das als ein Kennzeichen unserer Zeitsituation in der Gegenwartsphilosophie ebenso sichtbar wird wie in der Literatur. Dazu steigert er den Ausdruck des Erschreckenden, Unheilvollen bei den Erinnyen — es gelingt ihm durch Masken —, um dann die Befreiung aus der Umklammerung des Qualvollen um so wirksamer zu machen.

EINE GEGEBENHEIT UNSERER ZEIT 1ST DER FILM, der den Zuschauer in der Fülle seiner naturalistischen Bilder nahezu ertränkt. Das mußte auf das Theater zurückwirken, drängte den Regisseur mehr und mehr zu einer Besinnung auf die ureigenen Wirkungen der Bühne. Leopold Jeßner entnaturalisierte daher in seinen Inszenierungen am Berliner Stadttheater vehement die Szene, deutete den realen Raum gerade nur durch Treppen an, die dem Schauspieler vom Bewegungsmäßigen her nun eine erhöhte Entfaltungsmöglichkeit boten. Der Regisseur erkennt damit dem Wort, das im Tonfilm nur zu sekundärer Bedeutung gelangt, die entscheidende Wirkung auf den Brettern zu. In Paris war es Copeau, der Begründer des „Vieux Colombier”, der die Aufführungen ganz auf das gesprochene Wort stellte und das Bühnenbild als völlig nebensächlich behandelte. Ueber Dullin hinweg setzt heute Jean Vilar sein Werk fort. Das Wort wird bei ihm geradezu sichtbar. Ohne Vorhang, ohne Rampe bietet er ein Bewegungskunstwerk, dessen Bewegungspositionen seelische Positionen sind, wobei die Präzision dieses Orchesters der Bewegung und Stimmen an Toscanini gemahnt.

Der Versuch, derart vom Aufführungsmäßigen her zu einer Erneuerung des Theaters zu gelangen, wird auch von anderen Seiten unternommen. Bertolt Brecht hat als Theoretiker des Dramas Grundsätze aufgestellt, mit denen er beabsichtigt, jede Einfühlung des Zuschauers in die Bühnenvorgänge zu zerstören, um zu einer politisch-kritischen Einstellung anzureizen. Diese Methode, die er bezeichnenderweise dort nicht anwendet, wo er zum Dichter wird, überträgt er als Regisseur auch auf die Szene. Bewußt eingesetzt, muß sie zum Tod des Theaters führen, da sie die Gefühlsverbindung zum Zuschauer kalt zerschneidet. Aber zweifellos liegt diese „Verfremdung” im Zug der Gegenwart, sie wird zur Entfremdung mit dem Verlust des Selbst.

Andere Bestrebungen versuchen zu den Quellpunkten des Theatralischen zu gelangen. Sie Hegen in der Richtung des totalen Theaters, in dem sich Dialog, Musik, Tanz, Gesang. Mimik, ja auch Akrobatik zu einem Gesamtkunstwerk vereinen. Selbstverständlich setzt dies Biihnen- werke voraus, die diese Ausdrucksmittel vorsehen, ihrer bedürfen, doch kommen da dem Dichter gerade von der Regie her entscheidende Anregungen. Die Erneuerung der Commedia dell’Arte im Gefolge von Max Reinhardt durch Giorgio Strehler weist etwa in diese Richtung. In Frankreich stößt die Regie da bisher am weitesten vor, und zwar vor allem durch Barraults Aufführung des „Christophe Colomb” von Claudel. Barrault hat die Grundgedanken dieser seiner Inszenierung, bei der er die Anregungen Claudels vielfältig verwertete, ausführlich in einem Aufsatz dargelegt. Darnach sollen wir das Drama gewissermaßen im „status nascendi” erleben, wobei der Mensch im Totalgebrauch seiner Ausdrucksmittel vorgeführt wird. Zwei Darsteller bilden mit ihren Armen eine Art Türe, ein dritter geht hindurch. Der Schauspieler, der den Matrosen verkörpert, gibt auch das Wasser und die rollende Kraft der Wogen wieder.

ERST IN DEN LETZTEN JAHRZEHNTEN kommt der Regie jene erhebliche Bedeutung für die Entwicklung des Theaters zu, wie sie sich in Namen wie etwa Jürgen Fehling oder eben Barrault bekundet. Begnügte sich der Regisseur in früherer Zeit mit wenigen Spielangaben und ein paar Proben, wodurch das Gesicht der Aufführungen kaum sehr durch ihn bestimmt wurde, so prägen seine Eingriffe gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts in steigendem Maß die Wiedergabe. Max Reinhardt brachte dann nach der Jahrhundertwende die Regie zur vollen Entfaltung ihrer Möglichkeiten, er überwrand die Wirklichkeitsnachbildung auf den Brettern, indem er vor allem auf das Spielmäßige des Theaters zurückging, dem ja schon an sich hohe Sinnbildlichkeit zukommt. Auch die Tragödie, erklärte später Johan Huizinga in „Homo ludens”, ist in ihrem Ursprung Spiel, gespielter Gottesdienst. Reinhardt bildete die subtile Darstellungsform des intimen Kammerspiels ebenso durch, wie er sich — sei es im Zirkus oder auf freien Plätzen — dem Theater größten Ausmaßes für Tausende widmete und da durch überlegene Massenregie zu großartigen Massenwirkungen gelangte. Zukunftsträchtiges zeigte sich in allen seinen Bestrebungen, so war auch er es, der als erster die Zweiteilung des Theaters in Bühne und Zuschauerraum immer wieder durchbrach, um so eine größere Unmittelbarkeit des Spieleindrucks zu erreichen.

DIE MITTEL, die ein Regisseur anzuwenden vermag, um das Stück sinnfällig zu machen, sind tausendfältig, ja so recht eigentlich unerschöpflich. Man bedenke nur etwa, welchen Unterschied es bereits im Charakterlichen, im Seelischen der Gestalten ausma.cht, ob sich etwa Cassio im Sprechen lässig auf einen Mauervorsprung stützt und Jago frei steht und heftig mit den Händen gestikuliert oder umgekehrt. Fällt in einem Gespräch zwischen zwei Partnern ein Wort, das den einen von beiden sehr erregt, so vermag der Regisseur — wir setzen einen dafür geeigneten Fall voraus — die Wirkung zu steigern, wenn er diesen Partner das Gespräch hinter einem Vorhang führen läßt, worauf der Erregte dann bei diesem Wort wie besesserf’ hervorfährt. In dem Trauerspiel „Armut” von Wildgans, das in der Familie eines kleinen Postbeamten spielt, geht alles Unheil von der Krankheit des Familienvaters aus. Der Wiener Nachwuchsregisseur Hermann Kutscher stellte nun bei der Aufführung das Bett mit dem Kranken vorne an die Rampe, tauchte diesen Teil der Bühne in Dunkelheit, so daß jeder, der an das Bett herantrat, sich als dunkle Silhouette vom hellen Hintergrund abhob: das Finstere, das von der Krankheit ausgeht, ließ sich kaum besser sinnfällig machen. Der Regisseur kann aber auch etwa szenische Prologe den Stücken voranstellen, so begann etwa die Aufführung des „Kaufmanns von Venedig” in der Regie von Max Reinhardt mit einer Lärmsymphonie der erwachenden Stadt.

Doch ergab sich in den letzten Jahrzehnten immer wieder die Gefahr der Ueberregie oder, um ein Wort von Wilhelm von Scholz zu gebrauchen, der Parforce-Regie. Das tritt ein, wenn der Regisseur versucht, dem Stück von sich aus einen Sinn aufzupressen, statt ihn aus dem Bühnenwerk herauszuholen, es ergibt sich, um mit Gründgens zu sprechen, wenn der Spielleiter ein Stück auf jeden Fall anders inszeniert, „anders als es gemeint war und jedenfalls anders, als es seine Vorgänger inszenierten”. Es kann auch zu läppischen optischen Uebersteige- rungen kommen, eben Gründgens führt solch einen Fall an: in einer Wiedergabe von Strindbergs „Rausch” mußten sich alle Schauspieler viereckige Augenhöhlen und Augenbrauen anschminken. Schon Wedekind rügte, „das Werk geht unter und die Regie siegt”. Er wandte sich auch dagegen, die Seelenglut und das Temperament des Autors „einfach im Konversationston zu erledigen”. Doch am selbstherrlichsten verfuhr Gaston Baty, der versuchte, die Herrschaft des Dichterwortes auf dem Theater zu brechen und den Autor wie den Schauspieler dem eigenen Streben gewaltsam untertan zu machen. Alles war für ihn lediglich Rohmaterial, so blieb ihm nichts übrig, als sich schließlich den Marionetten zu widmen, denn schon vordem bedeuteten ihm die lebenden Menschen nicht viel mehr als hölzerne Puppen.

DER ZENTRALE TEIL der Aufgaben, die dem Regisseur obliegen, betrifft die Zusammenarbeit mit dem Schauspieler bei der Formung seiner Gestalt. Hier gilt es nicht, vorgefaßte Vorstellungen aufzuzwingen, sondern den Darsteller zu sich selbst zu erwecken. Die Begrenztheit des Regisseurs liegt darin, daß er, wie Hilpert sagt, ..keinem Schauspieler etwas geben kann, was dieser nicht schon hat”. Zu entscheidender Bedeutung gelangt da die Leistung des Regisseurs, wenn es ihm gelingt, daß der Schauspieler die eigene Bewußtseinsschicht durchbricht. So fordert Stanislawskij, es sei der Darsteller zu einer Einstellung zu bringen, „bei der in ihm der unterbewußte Schaffensprozeß der organischen K?atur selbst entsteht”.

So sehr sich der Wirkensbereich der Regie heute entfaltet und vervielfältigt hat, so sehr bleibt der Spielleiter, überschreitet er nicht seine Grenzen, an den Bühnendichter gebunden. Ihm zu dienen, haben die besten Regisseure stets als ihre vornehmste Aufgabe erachtet.

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