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Endspurt der Theaterfestwochen

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Was Wirklichkeit ist, darüber rätselten die Menschen seit Jahrtausenden. Darf das uns unmittelbar als wirklich Erscheinende als das eigentlich Wirkliche gelten? Was ist das Leben, was der Tod, was der Traum? Dichtung jedenfalls gibt es nur, wenn die Schichte unmittelbarer Realität durchbrochen wird. In diesem Fragenbereich siedelte Harold Pinter sein neuestes Stück „Alte Zeiten" an, das im Akademietheater gegeben wird.

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Was Wirklichkeit ist, darüber rätselten die Menschen seit Jahrtausenden. Darf das uns unmittelbar als wirklich Erscheinende als das eigentlich Wirkliche gelten? Was ist das Leben, was der Tod, was der Traum? Dichtung jedenfalls gibt es nur, wenn die Schichte unmittelbarer Realität durchbrochen wird. In diesem Fragenbereich siedelte Harold Pinter sein neuestes Stück „Alte Zeiten" an, das im Akademietheater gegeben wird.

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Da sprechen drei Personen, Kate, Anna und Deeley, vermutlich ein Filmregisseur, die ganzen beiden Akte hindurch ausschließlich darüber, was sich zwischen ihnen reichlich Belangloses vor zwanzig Jahren begeben hat. Angeblich begeben, denn wir erfahren nie, was tatsächlich war. Ist es nur das Unsichere des Erinnerns? Anna steht längst schon im Zimmer, als die beiden sie erwarten, und sie sind dann davon gar nicht überrascht. Kate behauptet, sie habe Anna als Leichnam gesehen. Sind sie tot und erinnern sich nur des Lebens? Die Unsicherheit bleibt. Was ist Realität? „Wenn die Welt klar wäre, gäbe es keine Kunst", sagt Camus. Bietet Pinter Dichtung? Was gesprochen wird, ist fast ausschließlich banales Zeug, das langweilt. Seltsamer Widerspruch. Die vorzügliche Grundanlage wird vertan, Pinter lahmt. Peter Hall, nach Sir Laurence Olivier zukünftiger Leiter des British National Theatre, inszenierte das Stück subtil mit besonderem Einsatz von Pausen, wobei Annemarie Düringer als Kate, Erika Pluhar als Anna stückbedingt undurchsichtig wirkten, Maximilian Schell als Deeley unvermittelt lospolterte. Der Waliser John Bury entwarf zwei klinisch glatte Wohnräume.

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An heiteren Bühnenstücken ist Mangel. Im Volkstheater hilft da für den angebrochenen Sommer Alexander Lernet-Holenia mit einem Stück aus, das er vor 42 Jahren mit Paul Frank schrieb. Damals hieß es „Attraktion", nun nach zweimaliger Umarbeitung „Die Transaktion", wird kühn als Komödie bezeichnet, erweist sich aber schon in der Unbedenklichkeit der Voraussetzungen als Schwank von der billigeren Sorte. Einsames Schloß, vornehme Gesellschaft, darunter ein Tausendsassa, der sich als Graf ausgibt, überlegen in gefährdeter Situation, ein gaunerhafter Bankier in dauernden Nöten, bedrängende und bedrängte Weiblichkeit. Aristokratie wird an dem falschen und an einem echten Grafen lächerlich gemacht. Altersfalten des Stücks sind mit Schminke zugedeckt. Unter der gewiegten Regie von Gustav Manker setzt Harry Fuss für den Tausendsassa seine gewinnende Pfiffigkeit ein, Rudolf Strobl macht Verschlagenheit glaubhaft. Maxi Tschunko entwarf noble Bühnenbilder, Maria Peyerl noble Roben. Es wird viel gelacht.

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Im Theater an der Wien konnte man durch das Gastspiel des Akademischen Dramatischen Maxim-Gorki-Theaters, Leningrad, drei Aspekte sowjetischen Bühnenschaffens kennenlernen. Zunächst Shakespeare. Man spielte beide Teile des geschichtlichen Schauspiels „Heinrich IV." an einem Abend in einer Bühnenfassung von W. Rezep-ter. Dabei wird — anfechtbar — der Läuterungsprozeß des Prinzen Heinrich, seine Loslösung von dem Saufaus Falstaff als ein Verlust an Menschlichkeit aufgefaßt, so daß der zum König gekrönte junge Fant nur noch eine Marionette kalter Macht ist. Ideologisch bedingte Abwertung eines Königs, der vor mehr als einem halben Jahrtausend lebte. Zwei galgenähnliche Holzgerüste, Vorhänge, ein riesiges Tierfell als Hintergrund dienen dem Regisseur G. A. Towstonogow auf einem Podium als Szene. Konventionelle Darbietung mit Neigung zu Pathos und billigen Effekten. Beachtliche Leistungen der Darsteller des Falstaff, wie der beiden Friedensrichter. Die Kampfszenen werden, wie seinerzeit in Lindtbergs Inszenierung, durch Zweikämpfe ersetzt. Bemerkenswert die exzellente technische Durchführung.

Und nun sozialistischer Realismus. Wir haben in früheren Jahren Stücke aus totalitärem Bereich kennengelernt, die das System dieser Staaten kritisierten, wie auch unsere Gesellschaftsform durch unsere Autoren kritisiert wird. Derart gerichtetes Schaffen hat man freilich in den Oststaaten abgewürgt. Selbstredend wußten wir, daß es da vor allem zahlreiche konformistisch parteiausgerichtete Bühnenwerke gibt, ein, zwei sah man vor vielen Jahren in der Scala. Nun führte das Gorki-Theater das Stück „Stürmischer Lebensabend" des heute 64jährigen Leonid Nikolajewitsch Rachmanow aus dem Jahr 1937 im Theater an der Wien vor. Handlung: Der Lebenswunsch des weltberühmten alten Professors der Botanik, Poleshajew, gilt der Errichtung einer Botanischen Akademie, was ihm in zaristischer Zeit abgeschlagen wird, als er aber in der russischen Revolution für die Sowjets Stellung nimmt, sich Freunde zu Feinden macht, übermittelt ihm Lenin telephonisch Grüße und bewilligt, obwohl rings gegnerische Truppen anrücken, die Errichtung der Akademie. Zähflüssig zieht sich dieses arg naive Stück dahin, nirgends sind geistige Akzente zu gewahren, nicht einmal wirksame Rollen gibt es. So wirkt sich Parteidiktatur im Theater aus. Regisseur Towstonogow führt die Szenen mit gewichtiger Bedeutsamkeit vor. Bemerkenswertes Bühnenbild von B. W. Loktin, bemerkenswert eingesetzte Beleuchtung von E. M. Kuti-kow.

Den eindrucksvollsten Abend brachte die Aufführung der im Jahr 1901 entstandene Skizze „Die Kleinbürger" von Maxim Gorki. Sie bietet einen Einblick in das häusliche Leben eines wohlhabenden russischen Kleinbürgers vor der Revolution: Da wird geredet und geredet, gezankt und gezankt. Einen immer wieder tobenden Anhänger der alten Ordnung, Nihilisten, Säufer, eine dümmliche Lebenslustige gibt es, die meisten versinken in Melancholien, verdorren. Fast jede dieser Gestalten setzt sich mit dem Leben auseinander, philosophiert, jede ist von einem Dichter gesehen. In der Inszenierung abermals von Towstonogow, ersteht ein fein durchgetöntes szenisches Genrebild. Bemerkenswert ist der Unterschied zur Aufführung in der Wiener Scala vor 22 Jahren: Damals wurde versucht, den Lokomotivführer Nil als vorwärtsstrebenden Menschen der Zukunft, gewissermaßen als Vorläufer des Sowjetbürgers, durch Intensität der Darstellung besonders hervorzuheben. Das ist hier keineswegs der Fall, Nil gliedert sich voll ein, das Stück wird politisch nicht aktiviert.

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Das Gastspiel des Hamburger Thalia Theaters brachte Boy Gobert, den Intendanten dieser Bühne, wieder in unsere Stadt und auf die Bretter des Theaters an der Wien. Seine Beliebtheit war in der Reaktion des Publikums den ganzen Abend über zu spüren. Stücke, die bei uns bereits gespielt wurden, kamen zu ungleich stärkerer Wirkung, wodurch sein Hamburger Erfolg am Beispiel dieses Abends begreiflich wird. In dem Einakter „Der Liebhaber" von Harold Pinter, in dem sich ein Ehepaar gegenseitige Untreue vorspielt, kommt diese Wirkung vor allem aus der ungleich stärkeren Ausstrahlung von Gobert als Gatte gegenüber dem damaligen Darsteller dieser Gestalt.

Der Einakter „Wirklich schade um Fred", ein „Zwiegespräch in Ionescos Manier" von James Saunders, soll laut Anweisung des Autors „direkt und real" gespielt werden. Der Regisseur des Abends, Dieter Giesing, verfremdet aber das Spiel berechtigt ins Abstruse, denn abstrus ist es, daß sich bei diesem alten Ehepaar der Mann nicht mehr erinnert, den ersten Gatten seiner Frau umgebracht zu haben und nun mit ihr in seinem Haus zu leben. Die Gesichter der beiden sind grotesk geschminkt, Gobert wandelt wie ein Golem mit Eierkopf umher, die Ge-sponsin, es ist wie im ersten Stück Ingrid Andree, hat einen Riesenbauch. Dies begibt sich in einer von Karl Kneidl entworfenen übergroßen glaskäfigartigen Veranda. Eklatanter Beweis, wie erheblich ein Text durch Bühnenphantasie in seiner Wirkung gesteigert werden kann.

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