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Sommertage in Graz

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Der leider viel zu früh verstorbene Dichter Bruno E r 11 e r sprach wiederholt von Graz als einem Krankheitszustand, an dem man leidet, ohne jedoch von ihm loskommen zu können. Und ein hochbegabter Musiker prägte während einer Pause im Theater die Formel, daß Graz wie eine bittersüße Leidenschaft berühre. Man verwünscht sie, um ihr doch unentwegt treu zu bleiben. Es ist wohl die eigenartige Mischung von Landschaft und Großstadt, von ehrwürdigem Alter und moderner Entfaltung, die eine seltsame Zwiespältigkeit des Lebensstiles hervorruft. Ein Spötter bezeichnete die Gartenstadt als — Theaterstadt. Entweder werde auf den Brettern der Bühne oder auf dem Tatsachenboden des täglichen Lebens Theater gespielt. Rudolf Hans , Bartsch hat in seinen sdiöpferischesten Jahren den charakteristischen Roman „Elisabeth Kött“ gesdiriebcn, das Buch von einem reizvollen Vorstadtmädchen, das den Weg zur Bühne findet und eine Art steirisdie Eleonore Duse wird. Dieser brennende Kunsthunger aus den Stadtrandvierteln ist auch Annp 1918 nicht gestorben. In der uralten Raubergasse hat der Großmeister deutscher Schauspielkunst, Brockmann, das Licht der Welt als Söhnchen eines Feuerwächters auf dem historisdien Schloßberg erblickt. Alexander G i r a r d i, Österreichs größter, typischester Theaterkomiker und Volksschauspieler, ist ein Kind der Stadt gewesen, während Johann Nestroy sich hieher zurückzog, um seine letzten Lebenstage zu verbringen. Aus dem nahe gelegenen St.'-Georgen an der Stiefing kam Amalia M a t e r n a, die bisher unerreicht gebliebene große Wagnersängerin, und die Beispiele ließen sich noch beliebig weiter fortsetzen. Zweifelsohne, die schöne Gartenstadt hat es „in sich“!

Schon in den ältesten Zeiten ist im Grätz des alten innerösterreichischen Guberniums mit Vorliebe Theater gespielt worden. Das Jesuitendrama wurde innerhalb der alten, festen Stadtmauern überaus eifrig gepflegt. Fürst Johann Ulrich von Eggenbergs herrliches Residenzschloß hat eine reiche Geschichte, die mit dem Theater, vor allem aber mit der Musik innig verknüpft ist. Wohl das schönste Barockpalais der steirischen Landeshauptstadt, das Palais Attems, war ein bedeutender Stützpunkt der Kultur des 18. Jahrhunderts. Nach dem tragischen Brande des nationalständischen Theaters wurde im Jahre 1825, also vor 122 Jahren, das heutige Schauspielhaus auf dem Freiheitsplatz feierlich eröffnet, während vor 48 Jahren das neue O p e r n ha u s am Ring seiner Be Stimmung übergeben wurde. Es gleicht sehr dem Volkstheater in Wien und ist gegenwärtig das größte Theater in Österreich.

Graz hat seit den letzten zwei Jahren bemerkenswerte Wandlungen erfahren; es zählt derzeit über eine Viertelmillion Einwohner. Über 40.000 Personen sind als Wohnunaswerber registriert. Dabei ziehen Monat für Monat rund 1000 Österreicher neu zu. Die Stadt wächst unaufhaltsam und unablässig, ihr Wohnraum ist so knapp wie in keiner anderen österreichischen Stadt. Es tmngelt an Kanzleien und Büros, an Fabr'' räumen, an Wohnungeft, an Cafes, an Hotels, an Kinos und schließlich auch an Theatersälen. Alles Leben spielt sich improvisiert ab, wofür am deutlichsten schon das eine Beispiel spricht, daß in einer Druckerei alle drei Grazer Tageszeitungen hergestellt werden müssen, weil es sonst keine Rotationsmaschinen mehr gibt.

Diese Improvisationen ringsumher haben natürlich das Kulturleben und vor allem das Theater nicht verschont. Es mangelt den städtischen Bühnen an Entfaltungsmöglichkeit. Alle Kunstgattungen sind im Opernhause notgedrungen konzentriert, während das Schauspielhaus vorläufig noch immer nur an Sonntagen zur Verfügung steht. Die Stadtverwaltung hat sich deshalb in den Besitz des bombenbeschädigten einstigen Orpheums gesetzt und baut dieses Gebäude in ein Theater um, das rund 1000 Personen fassen soll und im Spätherbst zur Eröffnung gelangen wird. Unleugbar braucht Graz schon seit längerem drei ständig spielende Theater. Das Steirische Landestheater wieder hat seinen Sitz im Rittersaal aufgeschlagen und eine intime Bühne geschaffen, die augenblicklich noch genügen mag. Zum erstenmal in der Theater-geschidite der Stadt hat sich auf dem rechten Murufer eine Kleinkunstbühne — „Der Igel“ — angesiedelt; daneben gibt es noch eine kleine Kammerspielbühne, eine Bühne im großen Kammersaal, das Hochschulstudio und ein Bauerntheater. Nachwuchs drängt nach vorne, neues Publikum findet sich ein, ein neues Jahrzehnt meldet sich an und alte Tafeln werden gestürzt.

Nach den ersten Nachkriegsmonaten, die Reorganisation und Aufbau nach kultureller Stillegung bedeuteten, bot das Spieljahr 1946/47 nach längerer Pause wieder einmal eine festere Grundlage für die Improvisationen einer neuen Zeit, die sich als überaus eigenwillig erweist. Irregegangene Zeitpolitik hat sich auf neutrales Gebiet begeben, um hier in Ideen und Grundsätzen neue Stellung zu beziehen. Immer noch fehlen die Dichter und Komponisten, die überzeugend Neues hervorzubringen vermöchten. Es fehlen vielfach aber auch noch die Nachwuchskräfte, deren Talent von Haus aus schon den Durchschnitt zu überragen verspricht — eine Zeiterscheinung, die durchaus nicht lokaler Art ist. So ergibt sich ein Repertoire, das Bewährtes mit erfolgreichem Neuen zu verbinden sucht.

Kürzlich wurde unter anderem Ostrowskis Komödie „Junger Mann macht Karriere“ geschickt wieder aufge?riffen und zur erfolgreichen Premiere gestaltet. Zwei Klassiker erfuhren eine wohltemperierte Wiedergabe. Grillparzers „Der Traum ein Leben“ wurde in entstaubter Regie neu inszeniert? wobei das Traumleben in romantisches Zwielicht gehüllt erschien. Schillers „Don Carlos“ zeigte ein Vollaufgebot der Schauspielkräfte. Aus intensivst gestaltetem spanischem Milieu wurde das zeftlos Ideelle herausgehoben, Spiel und Gegenspiel entwickelten sich dank einer überaus eindrucksvollen Inszenierung zu tiefer Wirkung. Über provinzielle Masse hinaus wuchs dann aber besonders die Erstaufführung von Fritz Hochwälders Schauspiel „Das heilige Experiment“.

Die Oper strebt wieder altem Glänze nach, verfügt aber noch nicht über alle notwendigen Solisten. Doch besitzt sie ein hervorragendes Orchester, das trotz seiner Überbeanspruchung alle Aufgaben löst. In diesem Spieljahr griff man zu dem Rezept, mit bekannten Gästen bewährte Repertoir-opern zu geben. — Neben den städtischen Bühnen fällt in steigendem Maße das Steirische Landestheater auf, das unter der Leitung von Dr. Hans Jörg Adolphi einen eigenen intimen Kammerstil entwickelt und ein leistungsfähiges Ensemble aufgestellt hat. Gepflegt wird das Lustspiel, neben ihm aber auch die seriöse Komödie. Doch gelangen auch Schauspielaufführungen, die eine Parallele zu ernsten Schauspielbühnen zuließen. Neben dem „Hofrat Geiger“ wurde Grillparzers „Weh dem, der lügt“ gespielt; in letzter Zeit gab es eine interessante Aufführung von Frantisek Langers „PeripHerle“ und schließlich eine glückliche Wiederbelebung von Sardous unverwüstlicher „Madame Sans Gene“.

Zum zweiten Male steht Graz nunmehr seit Tagen im Glänze von Festwochen, fm Vorjahre fanden die Grazer Festwochen erstmalig, und zwar in der Zeit vom 15. Juni bis 15. Iuli, statt, und waren ihrer Programmgestaltung nach ziemlich von Salzburg beeinflußt. So fehlten auch nicht Hofmannsthals „Jedermann“ im Rahmen eines Ensemblegastspiels des Burgtheaters, und Mozarts „Entführung aus dem Serail“ sowie die „Hochzeit des Figaro“. Obwohl diesmal die Festwochen auf die halbe Dauer beschränkt wurden, erscheint das nunmehr vorliegende Programm nicht nur reichhaltiger und vielseitiger, sondern auch selbständiger. Das Theater bietet die österreichische Uraufführung von Benjamin Brittens so erfolgreicher Oper „Peter Grimes“ sowie die Grazer Fassung von Richard ' Straußens „Salome“. Das Schauspiel bringt die Uraufführung von Nestroys Wiener Sittenbild, „Der alte Mann mit der jungen Frau“, in der Bearbeitung von Dr. Alfred Möller, wofür der junge begabte Komponist Walter H. Goldschmidt die Begleitmusik geschrieben hat. Doktor Karl Böhm, Otto Klemperer und Clemens Krauß dirigieren die vier großen Orchesterkonzerte. Domkapellmeister Doktor Anton Lippe hat als zweites Chorkonzert, das im Dom stattfindet, Hector Berlioz' große Totenmesse vorbereitet. Dommusik, Kammermusik, ein Liederabend mit Elisabeth Schwarzkopf korrespondieren mit drei Ausstellungen und vier Sondervorführungen. Aufmerksamkeit verdient auch die Matinee junger Komponisten. Unverkennbar gewinnt die Grazer Eigenart an Boden. Es ist anzunehmen, daß der wundervolle Landschaftsrahmen, den dieser seltenschöne Sommer so farbenfreudig belichtet, auch weiterhin seine natürliche Leuchtkraft behält, und daß während der Festwochen die altehrwürdigen Konturen der Stadt die künstlerischen Veranstaltungen würdig umgeben und schützen werden.

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