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Perspektive des Theaters von heute

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Das Ereignis der nunmehr zu Ende gehenden Theatersaison in Wien war die neue Aera des Volkstheaters, das mit seinem Sonderabonnement für hochwertige, in Oesterreich zumeist noch nicht gespielte Stücke und mit der Gesamtspielplangestaltung dem seit Jahren wirren Theaterleben Wiens eine eigene Note aufprägte. Die „Oesterreichische Furche“ hat Direktor Leon Epp gebeten, über seine Auffassung der heutigen Situation des Theaters und über seine Absichten zu berichten.

„Die Oesterreichische Furche“

In unserer sehr materialistisch eingestellten Zeit, in der Epoche der Hast und Rastlosigkeit scheint es, daß das Theater unnötig und nur am Rande alles Geschehens einen Platz einnimmt. Vom kommerziell-materialistischen Standpunkt aus gesehen ist dies auch richtig, denn die Zeiten sind vorüber, in denen das Theater ein Geschäft, eine Spekulation sein konnte.

Die Tüchtigen, allzu Tüchtigen unseres Jahrhunderts, in deren Händen sich jede Arbeit in Gold umzuwandeln hat, erkannten dies längst und wandten sich lukrativeren Gebieten zu. Sie haben damit dem Geist des Theaters einen großen Dienst erwiesen und denen Platz gemacht, die im Theater eine Mission, eine geistige Verpflichtung erkannten. In der Gesellschaft unserer Zeit kristallisiert sich langsam wieder das Bedürfnis, eine Loslösung vom Alltag, Besinnung und Erhebung zu suchen, und bewußt oder unbewußt im Theater die künstlerische Ueber-höhung des eigenen Lebens mit all seinen positiven und negativen Acußerungen zu finden. Es läßt sich heute schon die Tatsache registrieren, daß mit dem Beginn der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts die primitive Unterhaltung und Ablenkung nicht mehr im Theater, sondern auf anderen Gebieten erwartet und gefunden wird, daß sich dadurch vielleicht die Quantität der Zuschauer verringert, zugleich aber der Maßstab zur Qualität der Aussage des Theaters gesteigert wird. Das reine Unterhaltungs- und Schwanktheater fand seine Auflösung in einer Unzahl von mehr oder weniger primitiven Unterhaltungsfilmen. Die Sensationslust des Publikums findet in der Hypertrophie des Sportes ihren Ausgleich. Der raffinierteste Kriminalreißer im Theater kann dem Publikum nicht die Spannung ersetzen, welche es bei gigantisch aufgezogenen sensationellen Sport- oder Ringveranstaltungen findet. Der ehemalige Situationsschwank wird durch den Durchschnitts-Lustspielfilm ersetzt. Durch diese Situation ist das Theater gezwungen, sich wieder zur rein geistigen und seelischen Kulturstätte zu entwickeln, und das Theater unserer Zeit kann nur dann seine Berechtigung finden, wenn es den Mut und die konsequente Kraft aufbringt, trotz aller Schwierigkeiten sich in den Dienst des Geistes, der Seele und des Herzens zu stellen. Menschlichkeit und wahrer Humanismus sind der Boden, auf dem wir das Theater unserer Gegenwart aufzubauen haben.

Neben der unendlichen technischen Entwicklung, neben der materiellen Ueberschät-zung, neben der Oberflächlichkeit muß das Theater sowie die gesamte Kunst einen Ausgleich zu schaffen imstande sein, einen Ausgleich, der dem Menschen unserer Zeit den Weg zum Geistigen und zu sich selbst weist. Vielleicht ist die Zeit gar nicht fern, in der das Theater wieder rein kultisches Ausdrucksmittel ist. Vielleicht muß das Theater mithelfen, zu verhindern, daß Menschlichkeit und wahre Menschenwürde vernichtet wird, in falsch verstandenem hemmungslosen Materialismus. Freilich ist der Weg aller Theaterschaffenden, von diesem Standpunkt aus gesehen, schwer, oft zermürbend, und man muß mit aller Kraft Depressionen überwinden, um den Weg im Sinne der geistigen Perspektive des Theaters weiterzugehen.

Der praktische Betrieb des Theaters hat zwei Seiten: Die geistige Verpflichtung — den Alltag mit seinen Realitäten. Nur mit einer Gruppe von gleichgesinnten Menschen, die von der kulturellen Verpflichtung eines Theaters besessen und überzeugt sind, kann jene geistige Ausstrahlung erzielt werden, die notwendig ist, um langsam und kontinuierlich die Menschen zu einer kulturellen Einigung zu führen, aus der die Kraft erwächst, die dem einzelnen im profanen Leben Wert und Richtung gibt.

Mit diesen kurzen Feststellungen versuchte ich die Basis anzudeuten, von der ich als Theaterleiter meine Arbeit aufbauen will. Aufbauen — aber der Bau ist noch lange nicht fertig. Dessen bin ich mir bewußt. Als mir die Leitung des Volkstheaters anvertraut wurde, versuchte ich als erstes, zwischen den Möglichkeiten des Theaters und den Erwartungen des Publikums, das in dem großangelegten Abonnementsystem der Volkstheatergemeinde alle Schichten der Bevölkerung umfaßt, eine Harmonie herzustellen, durch die die Kräfte des Theaters und die Aufnahmebereitschaft des Publikums gesteigert wurden. In bisher zwölf Premieren beobachtete ich genau die Reaktion des Publikums sowie die Entwicklungsmöglichkeiten der einzelnen Individualitäten meines Ensemb'es,

um so einen Entwicklungsweg für beide zu finden. Mein vertrauender Optimismus hat bisher Recht behalten. Je größer die Aufgabe, die ich der Individualität des einzelnen sowie der Gesamtheit des Ensembles stellte, desto eindeutiger ließ sich ein Weg zur weiteren Entwicklung anbahnen. Zur selben Zeit steigerte sich auch die Erwartung und Aufnahmebereitschaft des Publikums und ich konnte die freudige Feststellung machen, daß das Stammpublikum des Volkstheaters ebenso aufnahmebereit war in der heiteren Aussage eines kultivierten Lustspiels, wie in der dichterischen Aussage des „Weißen Heilands“ von Hauptmann und im geistig anspruchvollen Experiment z. B. bei Kafkas „Prozeß“ oder Camus' „Belagerungszustand“.

Ich glaube daraus schließen zu dürfen, daß der Widerhall beim Publikum im selben Verhältnis sich steigert, je konzentrierter der schöpferische Künstler sich in den Dienst der wahren Dichtung stellt. Gerade im Volkstheater bei der Verschiedenheit der 24.000 Abonnenten der Volkstheatergemeinde sehe ich meine Annahme bestätigt, daß das Theater im allgemeinen nur eine Berechtigung und einen Zukunftswert hat, wenn es eine menschliche Aussage, sei es in heiterer, ernster oder problematischer Art sucht. Zwar ist es nicht immer leicht, den durch den Alltag müden Menschen aus der Lethargie des Nichtdenken-wollens, der müden Entspannung aufzurütteln und es bedarf viel suggestiver Kraft, ihn in den Bann der Dichtung zu zwingen. Ist dies jedoch gelungen, dann folgt er der Verzauberung und Erhöhung, die das geistig bewußte Theater auszustrahlen vermag.

Zielbewußte Arbeit am Theater unserer Zeit muß vor allem auch versuchen, die Jugend zu gewinnen, der Jugend fühlbar zu machen, daß Theater, eine Stätte der Kraft, der Bestätigung des Lebens ist. Schon im frühesten Alter muß der junge Mensch systematisch zum Erlebnis des Theaters geführt werden. Welch große Aufgabe ist darin dem „Theater der Jugend“ anvertraut. Leider scheinen die Schwierigkeiten dieser Institution sehr groß zu sein, und es gelang mir nicht, im Volkstheater jene Anzahl der Jugendaufführungen durch das „Theater der Jugend“ zu vermitteln, die ich mir gewünscht hätte. Ich mußte die traurige Feststellung machen, daß z. B. ein klassisches Lüstspiel, wie „Die Journalisten“ von Gustav Freytag, nur ein einziges Mal vom „Theater der Jugend“ übernommen wurde. Gerhart Hauptmanns dramatische Phantasie „Der weiße Heiland“ wurde überhaupt nicht der Jugend zugänglich gemacht, wo hingegen das Lustspiel „Leinen aus Irland“ zweimal von dieser Institution gekauft wurde. Es scheinen hier einige Irrtümer vorzuliegen, und ich be-daure es als Leiter des Volkstheaters sehr, daß ich nicht direkt den Weg zur Jugend einschlagen darf, um diese für das Erlebnis des kulturell bewußten Theaters zu gewinnen. Gelingt es nicht, den jungen Menschen mit all seiner herrlichen Begeisterungsfähigkeit des unverbrauchten und erwartungsvollen Lebens zu gewinnen, dann machen wir alle uns schuldig, nicht den Weg gefunden zu haben, Jugend und modernes Theater eng zusammenzuschmieden.

Schuldig aber machen wir uns auch, wenn wir in dem Fehler verharren, das Theater nicht als kulturelle Stätte anzusehen, sondern diese Institution des Geistes und des Herzens durch Steuerbelastungen in den Rahmen einer Vergnügungsindustrie einzuordnen. Kultur und Geist muß vom schaffenden Künstler, vom nach Entwicklung ringenden Menschen, vom jugenderziehenden Lehrer, vom großzügig kulturpolitischen Staatsmann immer neu errungen und gewonnen werden.

Meine weitere Arbeit an dem mir anvertrauten Volkstheater wird immer konzentrierter diesen angedeuteten Weg verfolgen.

Zusammenfassend glaube ich: Das Geschäftstheater ist vorüber. Die Zukunft liegt bei der geistigen und menschlichen Aussage des künstlerischen Theaters. Der Mensch wird empfänglicher, je mehr er ermüdet und vereinsamt in dem Hasten unserer Zeit. Solange mir die Leitung eines Theaters übergeben wird, werde ich versuchen, diesem Grundsatz treu zu bleiben und das Volksthea-tcr muß sich stets der geistigen Verantwortung des Theaters unserer Zeit bewüßt sein, muß die höchste Ethik der Arbeit erstreben, wenn es ein Theater unserer Zeit, ein Volkstheater im reinsten kulturpolitischen Sinne sein soll. Dann ist seine Aussage nicht nur für den heutigen flüchtigen Tag, sondern hilft mit, einen Weg zu finden, der in die Zukunft weist.

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