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Experimentierbühne - so oder so

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In München leitet die Studiobühne des dortigen Amerikahauses Franz N o-v o t n y, noch ein Schüler von Tairow, im Jahre 1937 als Gastregisseur zum zweiten Male in Moskau, aufs innigste vertraut mit der hohen Kunst der Schule Stanislawskijs. Er lehnte übrigens jetzt ein Angebot, an das im Aufbau begriffene „Deutsche Nationaltheater“ in Weimar und an die dortige Stanislawskij-Schule zu kommen, ab, da er sich hätte verpflichten müssen, vorgeschriebene Stücke zu inszenieren. Er ist aber nicht nur Regisseur, sondern auch Arzt, wenn auch nicht Doktor — Bewegungstherapeutiker, und arbeitet als solcher an der Klinik für Knochentuberkulose in Bad Kreuth. Aus einer profunden Kenntnis der psychischen und physischen Bewegungsgesetze gestaltet er seine Inszenierungen, so zuletzt den „Horribilis Skribifax“ von Gryphius. Und eben diese Kenntnis der inneren und äußeren Rhythmen läßt seine Assistentin an der Klinik malen und ihm beim Entwerfen der zum Teil revolutionären Bühnenbilder helfen. Ein interessanter Mann — ein interessanter Versuch.

In Hamburg besteht seit einigen Jahren ein „Theater im Zimmer“, das erste seiner Art, das inzwischen unzählige Nachfolger gefunden hat. Dieses Zimmer, aufs vielfältigste variiert, wird zum Kaffeehaus für Goldonis „Mirandolina“, zur Straße für Dostojewskijs „Raskolni-kow“ (die ganze Länge des Zimmers wird zur „Bühne“). Dieses Theater, im dritten Stock eines Wohnhauses, abseits vom Zentrum, verlangt 5 DM Eintritt und ist gewöhnlich gut besucht (es verfügt über zirka 50 Plätze, verschieden je nach dem durch das Stück gegebenen Arrangement). Hier wurde erreicht, was so viele junge Bühnen vergeblich anstreben: es geht dorthin das „gute“ Publikum, die wirklich künstlerisch Interessierten, die sich von einem Abend hier mehr versprechen als von dem Besuch eines großen Theaters — nicht nur die Verwandten der Schauspieler und jene entfernteren Bekannten, die durch Brachialgewalt oder durch Mitleid hingeführt werden. Der Leiter dieser Bühne ist Hel-muth Gmelin, ein Vierziger mit grauem

Schnurrbart, der in Verbindung mit seinem kleinen Theater eine Schule unterhält und zugleich Lehrer an der Schule des Thalia-Theaters ist.

Hier sehen wir nun den Unterschied zu Unternehmungen ähnlicher Art bei uns in Wien. Unsere Experimentierbühnen, die entstehen und wieder vergehen, die sich halten in einer gleichsam unwirklichen Schattenexistenz ohne Hoffnung, je zu einem wirklichen, weil begründeten Ansehen zu kommen — sie werden von jungen Menschen geführt, die weder über genügende Praxis, was das Technische und Organisatorische betrifft, noch über die nötige künstlerische und menschliche Reife verfügen, die notwendig wäre, um wirklich konkurrenzfähige Inszenierungen zu schaffen, auch um ein Ensemble zusammenzubringen, es innerlich zu formen, zu bilden. Es sind Menschen, deren ehrliches künstlerisches Bemühen der Führung bedarf — aber hier lassen sie die „Alten“ im Stich. Wenn einer von den „Arrivierten“ wirklich einmal mit jungen Leuten ein Stück inszeniert, so tut er es sozusagen mit der linken Hand — er ist ja überlastet mit wichtigeren Aufgaben! Er gibt den jungen Künstlern leichthin Tips, Ratschläge, ohne ihnen zu helfen, diese innerlich aufzuarbeiten) er züchtet damit eine unreife, nicht verarbeitete (nrcht erarbeitete) Routine — das schlimmste Hindernis für den werdenden Künstler. Gibt es in Österreich wirklich keinen bedeutenden Regisseur, keinen erfahrenen Schauspieler, der den Idealismus besitzt, sich ernsthaft der jungen Talente anzunehmen, die wirklich Begabten und Arbeitsbesessenen herauszusuchen und sie aus ihrem künstlerischen Halbweltdasein zu führen? Ist man bei uns schon so sehr auf unsere Tradition als Kulturnation eingeschworen, daß man nicht mehr die Verpflichtung spürt, diese Tradition durch Verwandlung und Verjüngung lebendig zu halten? Sind das Startum oder die Pensionsberechtigung die einzig möglichen Ziele? Auch dieses Abreißen der lebendigen Beziehung zum Nachwuchs ist ein Zeichen der Kulturkrise, von der so viel gesprochen wird.

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