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LEOPOLD LINDTBERG / HUMANIST DES WELTTHEATERS

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Am 1. Juni 1962 ist Leopold Lindtberg sechzig Jahre alt geworden.

Die Welt kennt Lindtberg vor allem als Filmregisseur; Berlin, Hamburg, MtincUen und Zürich, seine zweite Heimatstadt, haben ihn als Mann des Theaters schätzen und lieben gelernt. Wien, seine erste Heimatstadt, hat in dem Oberregisseur des Burgtheaters, Leopold Lindtberg, einen guten Geist des Theaters. „Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze“; es ist nicht leicht, dem Lebenden Lorbeer zu reichen, auch dann nicht, wenn dieser Lebende und sehr Lebendige, dieser innerlich jugendliche Dienmütige (Demut kommt von „Dienmut“) sich so, als wäre es ganz selbstverständlich, in großer Bescheidung mit allen seinen guten Kräften dem Theater zur Verfügung stellt. So sprang er soeben, in 'seiner eigenen Inszenierung „Nathans des Weisen“ über Nacht für Attila Hörbiger als Al-Hafi ein und spielt nun Abend für Abend diese „kleine“ Rolle ... Diese Episode macht auf ein charakteristisches Element im Lebensweg und Schaffen dieses Mannes aufmerksam: Lindtberg hat als Schauspieler begonnen, er ging bei Josef Dann-egger und Hans Kirchner in die Schule und hat sich zeitlebens als ein Freund, ein Erzieher des Menschen auf der Bühne, des Schauspielers, eingesetzt. Der Professor Lindtberg ist jedoch im selben Atemzug ein Erzieher der Menschen vor der Bühne, des Publikums, die er zu reifen, verantwortlichen Mitmenschen machen möchte. Lindtberg ist ein Humanist im Vollsinn des Wortes. Nicht deshalb, weil er die Humaniora studiert hat, nämlich Germanistik, Kunstgeschichte und Musikwissenschaft; auch nicht einfach nur deshalb, weil dieser Mann des Theaters über eine seltene und universale Bildung verfügt. Durch das überaus vielfältige Schaffen Lindtbergs als Regisseur auf der Bühne und im Film, als Vortragender und Lehrer, als Schriftsteller, als Freund des Dichters, des Bühnenbildners, des Schauspielers und des Menschen vor der Bühne zieht sich eine Konstante, ein Element: Es ist das wache Bewußtsein, hohe Verantwortung zu tragen. Verantwortung für die „Toten“ und die „Lebenden“, für das Werk der „Klassiker“ und der „Moderne“. Verantwortung für den Menschen im Heute.

Leopold Lindtberg, der Freund des großen Brechtschen Werkes, das er vor allem am Züricher Schauspielhaus, diesem Hort und Hüter des freien deutschen Wortes in den Jahren 1933 bis 1945, selbst aus Deutschland kommend, so eindrucksvoll betreut hat, ist derselbe Lindtberg, der in Wien Shakespeares Königsdramen sich als großen Vorwurf gewählt hat. Der Freiheit eine Gasse: dem Menschen Auswege zu zeigen, aus Haß und Wahn und Dünkel, aus selbstverschuldeter Unmündigkeit also, echte Aufklärung zu mittein, im Geiste Lessings und Kants — das hat Leopold Lindtberg als vornehme Funktion des Theaters erkannt und praktiziert. Lindtberg hat viele Ehrungen erhalten-, nach dem letzten Weltkrieg. Gerade die ersten großen Ehrungen — der Grand Prix de la Paix, Cannes, 1946, und The Golden Globe, New York, 1946 -machen nicht nur auf seinen Film „Die letzte Chance“ (1944) aufmerksam, sondern auch darauf, daß diesem Humanisten, der mit den Mitteln des Theaters, des Films und des Wortes für eine freiere und menschlichere Welt kämpft, letzte, große Chancen noch nicht gegeben wurden: in der ganzen möglichen Weite und Vielfalt des Welttheaters den Menschen dem Menschen von heute vorzustellen. Es geht da nicht nur um Brecht, sondern hierzulande um die so schwierige Erhellung unseres Wiener Publikums, das sich ungern auf „Problemstücke“ einlassen w 'I. Wenn nicht alle Anzeichen trügen, stehen wir heute auch in Österreich am Beginn eines Klimawechsels: etwas, von der großen, echten Unruhe, die heute die lebendige Jugend (es gibt auch eine scheintote Jugend) und die lebendigen Geister in der ganzen Welt ergriffen hat, scheint auch auf Österreich überzugreifen. Hoffen wir — dies hier unser Wunsch für Lindtberg und für uns selbst —, daß dieser Klimawechsel, ein Erwachen also aus ichverliebter Provinzialität, sich verstärken, vertiefen und ausbreiten möge: Er ist eine wichtige Vorbedingung dafür, daß Lindtberg dem Theater von morgen das geben kann, was er auf der Bühne von gestern und im Film von 1944 begonnen hat: ein Zeugnis für die ungeheuren Möglichkeiten des Menschen, sich zu verderben, zu zerstören — und sich zu bilden: sich aufzubauen zu einem besseren Menschen.

Unsere Zeit erfährt täglich die Fragwürdigkeit und Hinfälligkeit aller direkten Erziehungsversuche. Aus vielen Gründen schließen sich heute Menschen gegen „Bekehrungen“, Schulungen, Missionierungen aller Art ab. Um so größer ist von Tag zu Tag die indirekte Einwirkung neuer Bildungsmächte geworden. Nicht nur der „verborgenen Verführer“ aus der Reklamewelt. Für das Theater bedeutet diese Situation eben dies: Es ist nicht die Stunde der Demagogie und der Mystifikation, der magischen Massenberauschung, der billigen Faszination, sondern die Stunde der neuen Erzieher; mehr als je kommt es auf die Zusammenarbeit, dien-mütig, demütig, sachlich und sauber, im Dienst am Dichter und am Publikum, zwischen Regisseur und Ensemble an. Leopold Lindtberg besitzt das Wissen und das Gewissen, die, beide, für diese Arbeit erforderlich sind.

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