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Träumereien auf der Bühne

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Wien hat nun im Akademietheater die österreichische Erstaufführung eines Stückes erlebt, das in Paris, als es in den Kriegsjahren herauskam, größtes Aufsehen erregte. „D ie Irre von Chaillot“ von Jean Giraudoux will aus der verzweifelten Situation einer Generation von Denkern und Schöngeistern verständen wer den, die sich durch die brutale Übermacht der äußeren Verhältnisse dermaßen in die Enge gedrängt sahen, daß ihnen nur mehr folgende Auswege offenstanden: Die Flucht in einen letzten überspitzten Ästhetizismus, in Wahnsinn und Selbstmords die Flucht in den Existenzialismus — oder das „Sidi-Enga- gieren“ (ein Modewort seit der Befreiung 1944) in einem politischen Einsatz, einer religiösen Konfession, oft in beiden zugleich. Der Großteil, zumal die bedeutendsten und lebendigsten Geister Frankreichs, steht heute mitten im religösen und politischen Geisterkampf — ein Sartre macht hier ebensowenig eine Ausnahme wie ein Mauriac und Maritain ... Giraudoux, dessen Lebensabend von der Besatzungszeit überdämmert wurde, hatte — als .Propagandaminister Dala- diers — mit seinem politischen „Einsatz“ ni.lit‘die besten Erfahrungen gemacht. An das Religiöse wagt er sich nicht recht heran (trotz „Sodom und Gomorrha“) — also blieb ihm nur eine letzte und wahrhaft verzweifelte Flucht in die Zauberwelt des Poetischen. „Die Irre Von Chaillot“ verdankt ihre Schönheit, den zarten Schmelz feinster Farben ebenso wie ihre hektisch-tödliche

Schwäche, als Stück und Idee, der bodenlosen Verzweiflung — und Schwäche des Dichter- Menschen Giraudoux, der aus der Lage der Gegenwart nur einen Ausweg weiß: den in ein surrealistisch und tiefenpsychologisch fundiertes Märchen, das seine währen Ahnherrn bei E. Th., A. Hoffmann und bei den gfoß n deutschen Romantikern hat, die in ihren Visionen Zuflucht vor dem aufsteigenden Maschinenzeitalter und seiner Bestialität, und durch einen Gang zu den „Müttern" Hilfe vor der siegreichen grausamen Welt der „Väter“ der Nur-Männer, suchten.

Das Märchen von 1830 sieht dann, auf Paris 1944/45 und die Welt von 1948 übertragen, so aus: Grausam-gierige, kaltblütige Schurken — die Vertreter der Hochfinanz, der bürokratischen Korruption, der menschenmordenden Rechenhaftigkeit des technizisti- schen Zeitalters, fallen wie apokalyptische Heuschrecken über Paris her. Über Paris, die Weltstadt, die einst ein Ort der Menschen war. Die Menschen-Wesen, begabt mit dem menschlichen Vermögen des Mitleids und der Geduld, der Tapferkeit des Herzens und der Liebe, sind nur mehr in seltsamen Reduktionen zu finden. Als Lumpensammler, Taubstummer, Kanalräumer, Kellner, Blumenverkäuferin. Ihre ungekrönte Königin ist eine seltsame Gräfin: „Die Irre von Chaillot". Durch einen richtigen Theatercoup, dem es jedoch nicht an Grausamkeit und fanatischer Entschlossenheit zum „Handeln“ fehlt, beseitigt, vernichtet diese Frau in einem unterirdischen Kellergewölbe das Pack der Industrieritter, Spekulanten, Kor- ruptionisten und Seelenverkäufer. Grausamsinnloses Ende eines grausam-sinnhaften Anfangs, Dazwischen klingen zahlreiche süße Melodien auf — die wirkliche, großartige Inszenierung und schauspielerische Darbietung läßt diese zu einem Miterleben aufklingen, das nahe an den Höchstgrad dessen heranricht, war wir heute überhaupt an und in unserer Zeit zu erleben fähig sind: Die wunde Zwei- und Mehrdeutigkeit unserer in mehr als einer Hinsicht fragwürdigen „Existenz“ wird hier eingesogen in leuchtende Symbole, welche das magische Vermögen eines Dichters von hohen Graden erstellt. Und doch: diese Feenwelten des Poetischen bleiben Episoden — Traumstücke eines Weges, der ins Nichts führt.

Ein Traumstück ganz anderer Art ist „Der K i r s c h g a r t e n“ des großen A. P. Tschechow. Dieses Stück, kurz vor der russischen Revolution von 1905 geschrieben, malt den Abgesang einer sterbenden adeligen Gesellschaft. Späte Menschen, zu schwach, um das Neue zu wagen, zu stark einer Vergangenheit verbunden, die immer mehr zum Traum vergilbt, werden hier vom Dichter lyrisch umfangen und behutsam zum Ausgang — an die Schwelle der Zukunft, der „Neuen Zeit“, geleitet. Der „Kirschgarten“, das alte Gut mit seinem Blühen um des Blühens willens, fällt der Axt Lopa chins, des betriebsamen Unternehmers, zum Opfer. Was tut’s? Anja, das Kind der ,,alten Welt", wird, ganz Frische und Frühe, mutig ins veränderte harte Leben der Zukunft hineinspringen!

Merkwürdig: Wie sicher dieser Russe von 1904 Grandeur et misžre, Größe und Elend einer untergehenden Gesellschaft ab zeichnet, ohne sie mit der falschen Gloriole eines ihr nicht zustehenden Heldentums zu überhöhen, ohne sie aber auch böswillig zu verzeichnen: Einen Adel im Untergang, ohne Pathos und Pathetik; seine fragilen Figuren atmen dennoch die ganze Schwere eines achten eigenen Lebens.,. Tschechows „Kirschgarten“: ein Vorbild für jene, welche es wagen wollten, Altösterreich zwischen 1848 und 1918 darzustellen. So wie es eben gewesen ist.

Die „Alte Welt“ — von einer anderen Seite — bringt das Volkstheater in seinem neuen Stück „Lied aus der Vorstad t“; ein Wiener Stück von Dora Maria Brandt und Georg Fraser, mit der Musik von Robert Stolz. — Glück, Leid und Lied der „kleinen Leute" aus der Vorstadt, gelebt, gespielt, gesungen von den Mitgliedern einer Volkssängergesellschaft, die beim Wirt von der „Goldenen Kugel“ ihr Podium auf ein paar Bierfässern aufgeschlagen hat. Dazu die Liebschaft des kleinen Stars Luise mit dem feschen und verkrachten Herrn Baron. — Stoff, Klischee genug für Abgeschmacktheiten am laufenden Band: Daß diese vermieden werden, daß in diesem sauber gearbeiteten Stück kaum ein falscher, unechter Ton vorkommt, daß auch gefährliche Klippen des „Romantischen“ mit Geschick und Schwung umschifft werden, darf diesem Frühlings- und Sommerstück des Volkstheaters gut angerechnet werden. — Hier vollzieht sich eine echt Bluttransfusion: Das „Stadt“-Theater reichert sich, sehr zu seinem Vorteil, an mit der Lebenswärme „der Vorstadt“, mit der naivrealistischen, starkherzigen Kraft jenes Milieus des „Volkes", das vom Barock bis zu Nestroy mit seiner gesunden Vitalität die gesündeste Basis des Wiener Theaterlebens erstellt hat.

Und noch zwei Traumstücke. Das Studio der. Hochschulen bringt die österreichische Uraufführung von „C h i t r a“ und „Das Postamt“ des indischen Denker-Dichters Rabindranath Tagore, dessen „S a d h a n a“ vor zwanzig Jahren die Gedankenwelt vieler Europäer eroberte. „Chitra“ ist ein Legendenspiel von der Liebe zweier Königskinder, die sich — in Indien — mit Hilfe der Götter finden. Das Märchen von der häßlichen Prinzessin, die doch noch den schönsten, stärksten Prinzen gewinnt. „Das Postamt“ malt in pastosen Farben das Sterben eines Knaben. Wie ein Blütenblatt fällt er in den Schoß des Todesgottes. Ein indisches Seitenstück zu Hauptmanns „Hanneles Himmelfahrt“ — nur in keiner Weise so stark, auch nicht so tief — und sehr undramatisch. Lyrismen, die in manchem an europäische Vorbilder gemahnen, an Francis Jammes, Maeterlinck, auch Hofmannsthal-Lesestücke, die es fast als Gewalttat empfinden, wenn sie in die harte Dimension der Spielbühne überführt werden. Dermcxh gelang es dem Studio, zumal im „Postamt“, etwas von jener ver- schwebenden. traumwassererfüllten Atmosphäre wadizurufen, in der diese Stücke, wie zarter Dunst vom Mond angesogen, emporsteigen — und untergehen.

In die illusionslose Welt unseres Alltags führt das neue Stück Franz Theodor Cso- k o r s, das dis „I n s e 1“ in einer sehr liebevollen, gepflegten Aufführung, unter Aufbietung eines großen weiblichen Ensembles zur Uraufführung bringt — und zur Diskussion stellt. „W enn Sie zurückkommt...“ — ein Frauenstück in zehn Bildern“ — will, wie Csokor in seinem Prolog erklärt, „ein Beitrag zu einer historischen Wandlung, die sich vorbereitet“, sein.

„In grenzenloser Verlassenheit erlebt die Frau heute wieder das Werk des Mannes." Die beiden letzten großen Kriege sind nur Symptome, welche anzeigen, daß eine neue Beziehung zwischen Mann und Frau im Werden, daß ein neues Frauen- und Mannesbild im Heraufsteigen begriffen ist. Csokor hat also einen großen dramatischen Vorwurf

— er münzt ihn aber — und dies tut uns aufrichtig leid — nur zu einem kleinen Spiel aus. Die Frau, die er in zehn psychologisch teilweise sehr gut gelungenen Momentaufnahmen, aus den Armen des Mannes in ihre Welt, in ihre Einsamkeit, Zweideutigkeit und Iohverfangenheit zurückkehren läßt, ist nicht die Frau — wie wir sie heute bereits auf allen Schlachtfeldern des Lebens, des Geistes und der Materie neu erleben. Jene Frau, die als Künstlerin, als Dichterin und Seherin, als Arzt und Wissenschaftler — immer wieder eben einfach als „Frau“ und „Mutter“ die Not und Narrheit der Männer in ihr wissendes Schweigen birgt; die große Frau, die im Tragen und Ertragen, im aktiven kämpferisch tapferen Leben, je schlimmer unsere Tage werden, immer stärker in den Vordergrund tritt: Machtvollste Garantin des Menschlichen. Mehrfach wurde es bereits in den letzten Jahren erkannt und von berufenen Deutern unserer Zeit festgestellt: Die Frau ist der letzte

Garant des Humanen — an ihr zerbrechen alle totalitären Systeme — weil sie selbst immer wieder die dogmatizistische und absolutistische tyrannische Starrheit männlich-absoluter Weltbeglüdiungs- und Verknechtungssysteme zerbricht.

Nichts davon bei Csokor. Seine Frauen sind nur Geschlechtswesen, Gefangene ihrer Triebe, ihrer Gefühle, bestenfalls ihrer Empfindsamkeiten. Sie treiben das kleine Spiel einer vergangenen Zeit, keine von ihnen tritt in das Tor des Neuen, einer Zukunft, in der Mann und Frau eingeborgen werden von einer neuen Ordnung des Menschlichen, in einem .neuen Dienst an konkreten umfassenden Aufgaben: Dort allein erblüht die Hoffnung, erwächst die sichere Gewißheit der Überwindung des „Kampfes der Geschlediter“ jener Epoche, deren Zeichen von Strindberg, Wedekind, Schnitzler, Freud und Weininger schauerlich groß aufgerichtet worden sind. Von dieser großen Hoffnung — vom Licht des Morgens findet sich in dem neuen Stück Csokors keine Spur. Es ist ganz und gar der Vergangenheit und ihren veraschenden Bränden zugeneigt.

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