6644520-1958_15_12.jpg
Digital In Arbeit

Die Stufenleiter der Romane

Werbung
Werbung
Werbung

Unschuld der Sünde. Von Edzard Schaper. S. Fischer-Verlag, Frankfurt. 71 Seiten. .

Ein ganz anderer „Schaper“ schreibt dieses Büchlein über die tragische Grenze zwischen Kindheit und Mannbarkeit des kleinen Hirten Lukas. Hier ist die Tragik aufgezeigt im umgekehrten Sinne der Schelerschen Auffassung: wie der Knabe unschuldig bleibt an schuldigem Tun. Es ist, als überschreite der menschliche Körper eigenmächtig und selbständig die Grenze von einer Stufe zur anderen und überläßt es dem „unbehausten“ Geiste, mit dieser Last fertig zu werden. Daß der Knabe bei einem Bergrutsch verunglückt, während er ein verirrtes Schaf zu retten versucht, ist die dramatische Lösung: an ihr zeigt der Dichter, wie anders das Gesicht von Schuld und Unschuld und göttlichem Erbarmen wird, wenn der Tod kommt. „Wie alle Sterbenden fällt er dem entgegen, was wir Lebenden als den Abgrund der Schuld, den unser Leben unter uns gehöhlt hat, fürchten. Er aber, in seligem Fall, trägt schon die Gewißheit in sich, die das Begreifen derer, die nicht den gleichen Fall tun, übersteigt: daß dieser.. Abgrund nicht die tiefste der Tiefen ist, so wenig wie das Böse dieser Welt ganz böse ist; daß in der ver-“ lorensten und verlassensten Sünde immer noch — wenn auch noch so armselig — Hoffnung lebt, sie könnte von ihrer Fessel gelöst werden, und daß unter der Tiefe der Sünde und des Todes noch tiefer eine Barmherzigkeit wacht, welche die Sünde der Lebendigen erdulden muß. Wie könnten die Lebendigen sonst leben!“

Cosmas Damian. Fast ein Schelmenroman. Von Jakob Wyrsch. Benziger-Verlag, Einsiedeln. 351 Seiten.

Als Motto steht auf der ersten Seite: „Jeder ist, wie Gott ihn schuf und noch ein bißchen schlimmer.“ Ein spanisches Sprichwort. Das 'Findelkind Cosmas Damian beweist mit seinem Leben, daß das Schlimmere in uns durch die Dummheit oder Unbeweglich-keit, die Bosheit oder falsche Güte unserer Mitmenschen geweckt wird. So wird der Held zum Don Quichote, zum Hochstapler, zum Gesetzesbrecher, zum Don Juan — zu einem Schelm, den man liebhaben muß, weil er wie ein fliegender Fisch, wie ein schwimmender Vogel lebt. Wenn dieses spannende Buch uns Lesern die verhinderten Möglichkeiten unseres Lebens aufdeckt, hat es sein Ziel erreicht. Denn: wer nicht schlimmer wurde, als er ohnehin schon ist, den hat Gott in besonderer Güte bewahrt.Wenn alles schief geht. Roman. Von Francisco Jose Alcantara. Aus dem Spanischen übertragen von Alfredo B ä s c h 1 i n und Herbert Meier. Benziger-Verlag, Einsiedeln. 224 Seiten. Preis 12.35 sfrs.

Donna Paula ist gestorben. Gutsbesitzerin, unverheiratet, ohne Verwandte, fromm, gottesfürchtig und von den Menschen gefürchtet — das ist für ein kastilisches Dorf eine Aufregung wert: wer wird erben? Der Pfarrer, der Bürgermeister, der Staat, das Nonnenkloster? Der Roman berichtet über diesen Tag, an dem die Klosterfrauen, die sich an der Erbjagd nicht beteiligen, Sieger sind. Aber das ganze Dorf erhält das Seinige: die abendliche Höllenpredigt des Pfarrers vor allen Gläubigen und Ungläubigen seiner Pfarrei. Wenn alles schief geht, bekommt jeder etwas anderes, als er'erwartet hatte — aber jeder erhält das Seinige. Alcantara hat seine Kunst, das Kleine und Menschliche zu schildern, von neuem bewiesen.

Lucy Gayheart. Roman. Von Willa C a t h e r. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Elisabeth Schnack. Benziger-Verlag, Einsiedeln. 238 Seiten.

1935, also zwölf Jahre vor ihrem Tode, ist dieser Roman Willa Cathers in New York erschienen — jetzt erst bei uns. Es ist gut, daß wenigstens nur diese Geschichte zu uns kommt: weil sie .ein Lied,v eine Dichtung ist, die von einem Madchen spricht, däPÄdttf Jurist, leiden kann'und iti“ stefBeri“veYi', steht ohne den zeitgenössischen Zynismus. „Alles ist unwichtig, nur nicht das Leben“ — das Auf und Ab ist nur ein bald deutliches, bald undeutbares Lebens-Zeichen. Und das Leben selbst? „Wenn ihr Ihn wahrlich sucht mit eurem ganzen Herzen, so werdet ihr Ihn sicher finden“ — dies Lied hatte Lucys Geliebter ganz zu Anfang ihrer Liebe einmal gesungen, und nach vielem Leid verstand sie es. — Cather schreibt Schweres und Leichte's in einem Stil und Rhythmus, der dem Inhalt des Romans genau entspricht: so bleibt das Ganze die bezaubernde Geschichte eines Mädchens.

Der grünende Stab. Roman. Von Ann Stafford. Deutsch von Karl Heinz K r a m e r. Verlag Bachem, Köln. 355 Seiten. Preis 13.80 DM.

Das Leben der Evelyn Carew, verehelichte Grey, zieht sich nach einer Verschüttung in einem Bombentrichter immer mehr nach innen zurück. Wie ein Symbol ist es, daß sie ihre rechte Hand nicht mehr bewegen kann. Natürlich erregt sie das Interesse der Psychiater, die sie bereden wollen und derart zu heilen versuchen. Aber Evelyn zieht es vor, sich in den Bannkreis einer okkulten Bewegung zu begeben, in der Annahme, daß Leib und Seele durch Umgang mit den Mächten des Hintergrundes zu heilen sind. Als dritte Möglichkeit galt ihr die Ehe mit Alan — die aber an einem eingebildeten Problem leidet und nur vorübergehend eine Besserung für Evelyn wird. Die große Kunst der Schriftstellerin verwebt in dieses Einzelschicksal die Geschichte des englischen Karmeliterklosters von Aylesford, das vom hl. Simon Stock 1241 gegründet war und nach mehrmaligem Wechsel des Besitzers 1941 wieder in den Besitz des

Ordens zurückkommt. Dorthin verschlägt es einmal Evelyn, und sie, die Ungläubige, erfährt die heilende Nähe Gottes. Die Ehe, die Psychologie und der Okkultismus bemühen sich umsonst; letztlich hilft die Religion. Die Geschichte des Klosters und die Evelyns sind gottgeführte Parallelen, die Gottes Willen in der großen und in der kleinen Geschichte in-einanderwebt. — Allen Psychologiebesessenen ist der Schluß des Romans zu empfehlen, in dem berichtet wird, wie Mrs. Pink, die Psychologin, dem religiösen Erlebnis ihrer Patientin begegnet und schließlich sich selbst vor sich selbst rechtfertigen muß. Es ist dies einer der seltenen Romane, in denen Form und Inhalt einande ebenbürtig sind.

Der merkwürdige Herr Severinen. Roman. Von Walter Breedveld. Aus dem Holländischen übertragen von Georg Hermanowski. Verlag Bachem, Köln. 249 Seiten. Preis 11.80 DM.

Nur ein Volksschullehrer ist dieser Gabriel Severinen — aber das ist er mit aller Verantwortlichkeit für die ihm anvertrauten Kinder und deren Eltern. Er ist unerbittlich ehrlich und läßt sich auf allerhand gewagte Unternehmungen ein, um an seiner kleinen Stelle das kleinste Unrecht an den „Kleinen“ zu verhindern. Die Welt der Erwachsenen (und deren Gerechtigkeit) ist sehr gewöhnlich und gewalt-. tätig, darum muß einmal einer „merkwürdig“ sein. Das schafft viele Feinde und einige wirkliche Freunde. Der „Sieg“ ist niemals glänzend, aber voller Ironie für die Umgebung und voller Sinn für den Helden. Breedveld beschreibt beste holländische Landschaft und Menschlichkeit. Anfangende und enttäuschte Menschen sollten dieses Buch lesen. *

Mister Monroes Millionen. Roman einer geheimnisvollen Reise. Von Wolfgang Richter. Verlag Bachem, Köln. 259 Seiten. Preis 11.80 DM.

„Ein Hasardeur mit Psychologie“ kann es heute zu etwas bringen, denn der Snobismus wächst üppigst im Zeitalter der Demokratien. Eigentlich war dieser „Millionär“ ein Hoteldieb, der in einem Hotel stahl, was er als Millionär im nderen ausgab. Aber in Luxuslimousinen und vorgespiegeltem Amerikanerwahn ein Inkognito wahren zu müssen, vermögen allzu viele. — Eine tüchtige Lektion für unsere Zeit, geschrieben in platzendem Humor. Bitte lesen Siel *

Tanz an unsichtbaren Fäden. Erzählungen. Die Auswahl besorgte Gerhard Wolter. Agentur des Rauhen Hauses, Hamburg. 182 Seiten. Preis 8.50 DM.

Die Zusammenstellung dieser Erzählungen scheint zunächst Kindergeschichten zu bevorzugen, die geglückt ist. Die Wahl der übrigen beglückt, aber man sieht nicht ganz, warum gerade diese gewählt v/ut-de*iZWanzigErräMimgeB vk'bekanrmin; und un-bekannten, älteren Und -neueren Schriftstellern werden junge und alte Leser erfreuen, weil sie gelebtes Leben zu lesen bekommen. „Besser Sünder wie wir, unverschämt, gierig und lügenhaft, als diese Musterschüler, die sich nie in ihren eigenen Worten fangen. Was für Freude kann Gott haben an solchen Geschöpfen? Und was ist das Leben, wenn nicht Sünde, Gewissensnot, Tränen?“ - das könnte die Erfahrung dieses Buches sein. (Aus: Dino Buzzati „Don Pietro und die Herren vom anderen Stern“.)

Der Zeuge. Roman. Von Mario Pomilio. Aus dem Italienischen übertragen von Charlotte Birnbaum. Agentur des Rauhen Hauses, Hamburg. 152 Seiten.

Mario Pomilio zeigt an einem kriminellen Fall seine hohe Kunst. Durch die Tatsache, daß wir Geschöpfe sind, müssen wir den geschöpflichen Gesetzen und den geheimen Gesetzen des Schöpfers gehorchen: die Rechtsprechung auf Erden „leidet“ immer an der anderen Gerechtigkeit, an der analogen, an der göttlichen, die wir nicht kennen. „Hast du je daran gedacht, daß der moralische Schaden, den man anrichtet, wenn man ein Wesen leiden macht, bisweilen größer sein könnte als der Vorteil, den man der Gesellschaft dadurch verschafft, daß man einen Schuldigen verhaftet?“ Diese menschliche Betrachtungsweise des Verbrechers ist möglich — darf sie sein, wenn sie wider die juristische Gerechtigkeit ist? Dieses kurze, eindringliche Werk Pomilios weckt den Leser, daß er aufmerksam bleibt: unser Leben ist keine Stahlkonstruktion ...

Polen — woher, wohin? Von Tadeusz P o r a j-K o b i e I s k i. Verlag Wort und Werk, Köln. 147 Seiten.

Tadeusz Poraj-Kobielski braucht den Lesern der „Furche“ nicht vorgestellt werden. Seine aus zahlreichen Beiträgen bekannte Fach- und Personalkenntnis befähigen den Verfasser wie kaum einen zweiten zur Abfassung der vorliegenden, ebenso instruktiven wie kritischen Uebersicht über die Geschichte und Geschicke Polens vom Ende des zweiten Weltkrieges bis in unsere Gegenwart. Die Ereignisse des „Frühlings im Oktober“, die zur Rückkehr Gomulkas und zum nationalkommunistischen Kurs führten, werden in einer minuziösen Darstellung wiedergegeben. Die bange Frage, was von jenem Oktoberfrühling an in die Gegenwart und Zukunft gerettet werden kann, beherrscht die letzten Kapitel. Dennoch ist dem Verfasser bei seinem Ausblick nicht schwarzer Pessimismus mit in die Feder geflossen.

Ein politischer Leitfaden — nicht zuletzt für jene, die es nicht wahrhaben wollen, daß die Wasser der Weichsel ebenso wie die der Moldau und der Theiß weiterfließen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung