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SCHAUSPIELER UND SCHULE

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Bei keinem Künstler ist der Laie so geneigt, der Begabung fast alle, der Schulung hingegen nur geringe Bedeutung beizumessen, wie beim Schauspieler. Das Wort, die Mimik und die Gestik erscheinen dem Uneingeweihten als Kunstmittel gegenüber den analogen Ausdrucksmitteln des täglichen Lebens kaum anspruchsvoller als etwa der Stil eines Romans, verglichen mit jenem einer nicht literarischen Abhandlung; sehr zum Unterschied von der Musik, wo außerkünstlerische Entsprechungen überhaupt völlig fehlen, oder selbst von der bildenden Kunst, wo man immerhin sehr genau zwischen der Malerei als Kunst und als Handwerk, der Keramik und der Töpferei, zwischen Bildhauer und Steinmetz usw. begabungs- oder anforderungsmäßig zu unterscheiden geneigt ist. Das gleiche gilt für die zugehörigen Ausbildungsvorgänge. Der Film mit seinem Ueberkult der äußeren Erscheinung und seinen marktschreierischen Entdeckungen ungeschulter „Urtalente“ aller Art frisch von der Straße oder vom Schönheitswettbewerb weg hat überdies viel Verwirrung gestiftet, die von einer unseriösen und hemmungslosen Publizistik dauernd genährt wird. Demnach gelten auch heute noch für den Schauspieler im vollen Umfang Goethes Worte:

„Es ist weit mehr Positives, das heißt Lehrbares und lieberlieferbares in der Kunst, als man gewöhnlich glaubt, und der mechanischen Vorteile, wodurch man die geistigsten Effekte (versteht sich immer mit Geist) hervorbringen kann, sind sehr viele,“,-, ,.. c;n' wb “rti>S> •'.

Diese „mechanischen Vorteile“ heißen beim Schauspieler: Körperbeherrschung, Sprechtechnik, Gedächtnis, Werk- und Stilkenntnis. Sie können sich nach Goethes Forderung jedoch nur voll entfalten auf deT Grundlage einer Geistesbildung, kurz gesagt, im Rahmen echter Humanität. Die Schauspielkunst ist die menschlichste unter den Künsten. Damit halten wir bereits beim Kernproblem: Kann sich eine Schauspielschule mit der Aufgabe einer reinen Fertigkeitsschule, so wie dies viele Mal-, Ballett- und Musikschulen sind, begnügen? Die Antwort kann nur verneinend lauten. In einer vorbildlichen Schauspielschule wird das geistige Klima, die menschliche Atmosphäre, die künstlerische Gesinnung, die ethische Haltung ebenso wichtig sein wie der kunsthandwerklich vollendete Sprech-, B.ewe-gungs- und Theorieunterricht, wenn auch diese Disziplinen das äußere Tagesprogramm entscheidend beherrschen werden. Ein paar Beispiele dafür aus unserer Praxis: Die Schauspiel- und Regieschüler der Akademie für Musik und darstellende Kunst in Wien verbringen ihre Studienzeit angesichts des gewaltigen Komplexes des Schlosses Schönbrunn: geschichtliche Assoziationen, Naturgenuß und Kunstbetrachtung vereinen sich zu einer Harmonie, die fast unbewußt anregend auf jeden Studierenden wirken muß. Die Arbeit der Fortgeschrittenen spielt sich auf einer richtigen Bühne in einem Theater ab, das, mehr als 200 Jahre alt und ein Juwel barocker Baukunst, selbst im nicht stilgebundenen Schauspiel zu Ehrfurcht und Haltung zwingt. Wir lassen die Studierenden durch einen Dichter in die Geschichte der Literatur einführen, die Begegnung mit dem Schöpferischen soll auch trockenen Wissensstoff beleben, und wir sehen es gern, wenn die Studenten mit einem musischen Theologen über die metaphysische Seite ihres Tuns diskutieren.

Die lehrplanmäßigen Körperübungen sind nicht Selbstzweck. Wir betreiben zum Beispiel Fechten, aber keineswegs nur um des Bühnenfechtens willen, vielmehr, damit Reaktionsfähigkeit, Mut, Konzentration. Ausdauer und Ritterlichkeit, wie sie gerade dieser Sport verlangt, erarbeitet werden. Körperbildung wird von einer erfahrenen Vertreterin der Hellerauer Schule nach den gleichen Grundsätzen gelehrt, die auch den Unterricht im modernen Fach an der Abteilung für künstlerischen Tanz der Akademie leiten. Allgemeine Schulbildung bis zur Mittelschulreife, erweitertes Hochschulstudium sind erwünscht, wenn nicht, wie beim Regisseur, überhaupt gefordert, aber sie genügen nicht. Stanislawski, der große Erzieher von Schauspielern und Opernsängern, sagte: „Der Schauspieler ist ein Prediger und muß gebildet sein, er muß mehr als das Publikum wissen.“ Diese Forderung gilt ganz besonders auch für die Lehre im engeren Sinn, also — wie wir sie nennen — für den „dramatischen Unterricht“. Seine Aufgaben scheint mir am treffendsten Max Reinhardt in seiner Ansprache vom 23. Mai 1929 definiert zu haben: „Wir werden nicht eher ruhen, bis wir das Natürliche, das Menschliche, in Ihnen gefunden haben ... hören Sie auf, Komödie zu spielen . .. die stärkste Macht des Komödianten ist die Wahrheit.“

Nichts aber wird dem „zivilisierten Menschen“ schwerer gemacht als Natürlichkeit und Wahrheit. Die durch die Zivilisation verursachten Hemmungen und Schädigungen zu beseitigten, muß Aufgabe der Schauspielschule sein, ehe sie mit dem eigentlichen Aufbau der zumeist verschütteten Persönlichkeit Lernender beginnen kann. „Wir wissen jedoch, daß der Weg zu uns selbst schwer und oft nur auf weiten Umwegen zu erreichen ist“, sagte Reinhardt. Diese Umwege muß die Schauspielschule mit ihren Zöglingen gehen. „Anseilen auf den Abhängen zu dem Innersten des Menschen“ nennt es Reinhardt. Das letzte Ziel aber definierte wiederum Stanislawski:

„Der Schauspieler schafft das menschliche Körperleben der Rolle, zugleich das menschliche Geistesleben der Rolle.“ Und ein andermal noch konkreter: „Zahlreiche Schauspieler beherrschen die Elemente des Systems, sie haben es gelernt, auf der Bühne nicht theatralisch, sondern lebenswahr zu spielen, das heißt wahrheitsgetreu, natürlich, und haben sich damit zufrieden gegeben. Das genügt aber jetzt nicht mehr .. Wir müssen alles der durchgehenden Handlung und der Ueberaufgabe unterordnen.“

Die Ueberaufgabe besteht in der Festigung des Ideengehaltes, die darauf gerichtete durchgehende Handlung in der Kontrolle der Handlungslogik des Schauspielers, die von dem Aufsuchen der gemeinsamen Züge, die den Schauspieler mit der Rolle verbinden, auszugehen hat. Das zu wissen und darnach vorzugehen, ist unendlich wichtig: es ist letztlich der Schlüssel zur Freimachung der künstlerischen Persönlichkeit, und zwar in einer Weise, daß sie sich im Wege des künstlerischen Erlebnisses dem Publikum zwangsläufig mitzuteilen vermag. Darauf aber kommt es heute mehr denn je an. Mit anderen Worten: Je mehr wir heute durch Mode, Presse, Radio, Kino, kurz Massenbeeinflussung aller Art, durch Ueberwindung und dadurch Abbau völkischer, örtlicher und zeitlicher Besonderheiten durch die moderne Verkehrsentwicklung, durch die Vermassungstendenz der modernen Wirtschaft und Technik insbesondere im Leben entpersönlicht werden, desto mehr suchen wir Persönlichkeit in der Kunst. So wie wir von Verlorenem besonders nachhaltig träumen

„Die Persönlichkeit des Schauspielers ist Grundvoraussetzung echter Schauspielkunst. Je stärker und umfassender die Persönlichkeit, um so stärker die schauspielerische Wirkung“, schrieb vor zwei Jahren unser unvergeßlicher Roaul Aslan*. der selbst ein tief gebildeter, musisch weit interessierter und metaphysisch wohlverankerter Mensch war, und weiter: „Das schauspielerische Talent ist die Fähigkeit zur Enthüllung der Persönlichkeit.“ Diese Fähigkeit zu entwickeln, sorgsam zu hüten und zu steigern, ist die Aufgabe der Schauspielschule und müßte eigentlich auch noch Pflicht der Regisseure und Direktoren sein. Ihr stellt sich oft schon frühzeitig, immer aber noch viel zu früh und nur selten — in begnadeten Fällen — gar nicht, eine tödliche Gefahr in den Weg: die Routine. Sie ist manchmal sozusagen angeboren und täuscht den nicht selbst von ihr Freien leicht bei der Prüfung über Wert oder Unwert einer Begabung. Sie muß sich einstellen bei zu sehr auf das Technische gerichteter, effektsuchender, äußerlich-platter Unterweisung, sie wird gefährlich gefördert durch kommerzielles En-suite-Spiel. Max Reinhardt war ein Feind der Wiederholungen, ihm ging es nur um Proben und Premieren; er wußte genau, warum.

Um hier wieder an den Beginn unserer Betrachtungen anzuknüpfen, wird also das Programm der Schauspielschule von heute lauten müssen: Aneignung der ,.mechanischen Vorteile“ nicht nur als eines bloßen Handwerkszeugs für die spätere Praxis, sondern zugleich mit der intensivsten Formung der menschlichen Persönlichkeit, denn - und auch das hat Goethe gültig formuliert - „es soll nicht genügen, daß man Schritte tue. die einst zum Ziele führen, sondern jeder Schritt soll Ziel sein und als Schritt gelten.“ ,

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