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Österreich im Kulturraum der Welt

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Welche Stellung nimmt Österreich in der kulturellen Weltsituation von heute ein? Eine Vorbemerkung: Kultur ist nicht eine Ware wie andere, ihr Stand läßt sich demnach nicht ablesen etwa an Exportoder Importziffern für Bücher, Partituren, sie ist auch nicht einfach identisch mit Manifestationen der Reproduktion und Propaganda. Wir dürfen also die Konzert-, reisen unserer Sänger und Orchester, die Ausstellungen österreichischer Kunstschätze der Vergangenheit nicht in die Bilanz einbeziehen, wenn wir unseren Eigenstand innerhalb der kulturellen Neuschöpfung der Gegenwart erfassen wollen. Nur ein solcher läßt sich annähernd feststellen, die Wirkmacht und Gegenwartskraft der Kultur der Vergange nh e i t gehört zu den großen Imponderabilien der Weltgeschichte. Sie geht ihre verborgenen Wege, quer über Grenzen, durch Völker und Zeiten, hört nicht auf unsere Berechnungen, weil sie uns nicht gehört.

Wenn wir auch nur annähernd Wert, Wollen, Stand unserer eigenen Position begreifen wollen, müssen wir zuerst einen Blick auf die Welt um uns werfen.

Die Buntheit der Erscheinungen wirkt zunächst verwirrend. Das Amerika Faulk-ners, Mertons, Wolfes, das England Moores, Eliots, Frys, der Sitwell, das Frankreich Gides, Sartres, Bonnards, das Deutschland der Langgässer, Borcherts, Benns, das Italien Vittorinis, Manzus, Marinis, Rossellinis, das Rußland Eisensteins, Scholochows und des frühen Schostakowitsch — was eint diese Diskrepanzen, was verbindet die Gegensätze, welches Gesetz kultureller Schöpfung liegt diesen neuen Strukturen zugrunde?

Vereinfachend, aber für den Zweck dier ser Betrachtung genügend, läßt sich-sagen: In allen diesen Ländern und Kontinenten entwickelte sich die kulturelle Produktion der. Gegenwart aus dem Erlebnis, aus dem Bewußtsein starker Kontraste — aus dem Willen, gefährliche Spannungen im Leben der Nation, der Gesellschaft, zu überwinden, Krisen und Krankheiten zu meistern, mögen es nun nationale und gesellschaftliche gröberer, äußerer Art sein, dem Auge jedermanns sichtbar, oder tiefer schleichende Übel, die sich nur in dünnen Rissen und Sprüngen an der Oberfläche und bisweilen in Erdbeben bekunden.

A m e r i k a. Ein Kontinent erwacht, er-wachtzum Selbstbewußtsein, erschaut sich selbst zum erstenmal in einer Symphonie des Zarten und Grausamen, Schönen und Schrecklichen, Urtümlich-Barbarischen und Dekadent-Morbiden; erkennt schaudernd seine Chancen und seine Gefahren. Das

also sehen seine Dichter: die Brutalität _ sozialer Gegensätze, und die Dämmerung über den Gefilden Virginiens und Kentuckys. Dantes Inferno auf Erden, in den höllischen Erlebnissen einer Negerjugend (Richard Wright: „Native son“) und den Rausch der Schienen und Maschinen, Zauber der großen Städte.

Rußland: das Rußland des ersten Jahrzehnts nach der Oktoberrevolution. (Was nachher kommt, wächst in die hieratische Starre eines neuen Byzanz.) Das ungeheure erregende Geschehen gewaltigster Anstrengungen, eine Völkef-gemeinde aus dem Mittelalter ins 20. Jahrhundert zu übersiedeln, weckt bedeutende Talente. Majakowski, Elsenstein, Scholo-chow...

England, zwischen, nach zwei Weltkriegen. Nirgendwo sonst ist die Auseinandersetzung zwischen „Alt“ und „Neu“, Konservativem und Revolutionärem vielleicht so kompliziert, sind die Welten dergestalt ineinander gefaltet, ist Gegensätzliches intimer ineinander gebunden. Man denke nur an die Phänomene der englischen Staatskirche, an die Erhaltung ältester Traditionen in Recht und politischem Brauchtum. Eine Kunst, eine Kultur, die diese Schwierigkeiten eines Ausgleichs, einer Mittlung schroffster Gegensätze zum Ausdruck bringen will, muß gleichzeitigElemente des Archaischen und Modernsten, des Primitiven und Überfeinerten, des Sentimentalischen, und des extremsten Rationalismus in sich bergen.

Frankreich: das Land, das der Welt Pascal und sein Wort von „Größe und Elend des Menschen“ schenkte, hat mit der ungemeinen Reizbarkeit und Sensibilität, die ihm eigen ist, aus den Jahrzehnten der Unruhe und Angst, aus den Jahren der Verdemütigung, den größten Reichtum heimgebracht in die Häfen seiner Kultur. Aus dem Atheismus seiner .Bürgerzeit schuf es die Dichtung des Renouveau Catholique, aus der Unsicherheit des Lebensgefühls der Nation gebar es die klassische Form wieder (Valery), aus der Niederdrückung unter das Gewicht des östlichen Kolosses entließ es eine erlesene Schar wacher Geister. Einer der ihren war Mounnier.

Die lateinische Schwester Italien weist, bei starker nationaler und regionaler Differenzierung von Frankreich, die größte kulturelle Strukturverwandtschaft mit diesem Lande auf. Auch hier dieselbe Ungeborgenheit, dasselbe Elend vor, zwischen den Kriegen — und ein Schaffen aus diesen Brüchen.

Deutschland, wie nahe sind wir hier bereits der eigenen Situation gerücktl Waren die Schicksale zu groß, sind die im kulturellen Schaffen zu überwindenden Bruchstellen und Gegensätze zu tief? Tatsache ist, daß hier am wenigsten das kulturelle Gefüge des Tages Ausdruck und

Aussage echter Begegnung und Uberwindung der furchtbaren inneren Spannungen ist. Die meistdiskutierten und stärksten Köpfe: Heidegger, Jünger, Benn, schufen und schaffen bereits aus Problemstellungen einer Vergangenheit. Träger einer neuen Bewältigung des hier und heute Aufgegebenen starben an Schwindsucht, wie Bordiert, an Uberanstrengung und gebrochenem Herzen wie die Langgässer.

Wir sind in Österreich. Merkwürdig unsere kulturell-geistige Situation in dieser einen Welt. Im Zerbrechen der Ordnung des alten Reiches, in der inneren

Auflösung dieser letzten Heilswelt Alt-Europas wurden, in der Anspannung äußerster Konfrontation, Kräfte frei, die, Gestalt und Person geworden, zumindest die westliche Welt ungeheuer befruchtet haben. Neben und nach vielen Wissenschaftlern gehen Freud und Adler, Kafka und Rilke aus diesem Raum aus, hinaus in die Welt. Wir selbst aber haben dreißig Jahre gebraucht, um zu erfahren, daß etwa in Wien am Vorabend des ersten Weltkrieges nicht nur Stalin, Mussolini, Hitler nahezu gleichzeitig arbeiteten, sondern daß wir selbst einen Romako und

Schiele als Wegbereiter der modwröen“

Malerei „besaßen“; was wir an einem Karl Kraus und Ferdinand Ebner als Wegbereiter eines neuen Denkens und einer bekennenden Publizistik hatten, wissen viele von uns heute noch nicht.

Wir haben im Heute: ein Schock acht barer Dichter und Schriftsteller, von Weltformat wohl den einzigen Hermann Broch, der in Amerika lebt, dann ein halbes Dutzend Maler und Bildhauer, die sich international sehen lassen können, einige wenige Komponisten (geistlich und weltlich), einen Papiersack voll junger begabter Kerle (Lyriker, Dramatiker, Essay isten), die zu Hoffnungen berechtigen, wenn sie nicht verhungern. Nicht für uns in Beschlag nehmen dürfen wir jene etliche Dutzend hervorragender Wissenschaftler, die seit langem oder kurzem ins Ausland gingen. Die nach 1945 einsetzende Begegnung mit dem Kulturschaffen der anderen Länder hat noch keine sichtbaren Früchte getragen; man sollte uns darob nicht zu sehr schelten. Zu sehr differieren die seelischen und soziologischen Voraussetzungen, unter denen diese Werke entstanden, von unseren Gegebenheiten. Anders verhält es sich mit der Bewältigung des Existenzgrundes, des Quellbrunnens, aus dem eine echte österreichische Kulturproduktion schaffen könnte, müßte. Dieser wird kaum angetastet. Es geht uns hier wie imBereich desPolitischen und Wirtschaftlichen: an das Wesentliche und Wendende (zum Heil Wendende) wagen wir uns nicht heran. Dem halb-schlächtigen Griff, unserem steten „Sowohl — als-auch“, „Dies,-aber-auch-das“ verwehren.sich die „Drachen und Abgründe“, die Mächte der Tiefe und der Geschichte, die, dem Wort des Psalms gemäß, Gott loben. Das ist es ja, was das hier soeben kurz skizzierte Kulturschaffen einer ganzen Welt uns endlich selbst vor Augen stellen sollte: Schaffen, Schöpfung wächst nur aus einem inneren und innerlichen Ringen mit den eigenen Lebensfragen, mit den sichtbaren und unsichtbaren, äußersten und innersten Spannungen der eigenen Existenz, des Volkes, des persönlichen Schicksals. War seine Last zu groß, so daß wir heute noch nicht sein Gesicht sehen können? Wissen wir wirklich noch nichts, lehren uns Leid und Zeit nichts erkennen und einsehen von den Kräften des Unheils und Heil in unserem Raum Österreich?

Wer wagte dies zu behaupten? Vielleicht verrät unser Film, woran es uns sehr fehlt: keineswegs an Begabungen und Talenten, wohl aber an Charakter; das ist ganz wörtlich zu nehmen — Charakter kommt von charasso, eingraben, einschürfen, prägend formen; es fehlt an einem letzten Ernst, an der Unerbittlichkeit der Aussage. Die Mißverständnisse eines gereizten Austriazismus um „Cordula“, die den Film für bittere Wahrheiten anklagen, die uns bereits Wildgans gesagt hat, sprechen eine deutliche Sprache. Das aber Ist die Sprache der Tatsachen: wir müssen uns ganz wagen, wenn wir bestehen wollen als österreichische Kulturschaffende in dieser Welt und vor dies er Welt. Diese Welt und Wirklichkeit ist eine, unteilbar, untrennbar verknüpft sind alle Bereiche in ihr, Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur. Unser Kulturschaffen ist auf vielen Gebieten heute inferior, dem Sketch, dem Kitsch, mindestens einer sanften Verkleisterung und Verklitterung zuneigend, weil wir es nicht wagen, wahr zu sein: und uns unserer eigenen Tragödie in der Vergangenheit, der Sicht der realen Spannungen in der Gegenwart zu widmen, dieser Schwierigkeit unser Schaffen zu weihen.' Wir brauchen also nicht nur eine neue Moral in der Wirtschaft, in der Politik, sondern auch in der Kultur. Lernen wir von unserer Umwelt, der wir gestern noch selbst soviel geschenkt haben.

Die Moral des kulturellen Schaffens heißt aber, den Dingen und Erscheinungen unseres Lebens, das aus der Vergangenheit in die Zukunft wachsen will, als Objekt ins Antlitz hinein zu widerstehen, bis sie uns ihr inneres Gesicht enthüllen. Mag sein, daß uns daraus ein Gericht wird. Mit dem Gericht aber wird auch die Gnade sichtbar. Die befreiende, erlösende Funktion, die schöpferische Funktion der österreichischen Kultur ist unabdingbar an diese Bezeugung gebunden. Es gibt für den Weltraum, der in seinem Barock, in seinem Grillparzer und Stifter, in seinem Rilke und Kafka die Begegnung mit den Gründen der Zeit wagte, kein Zurück hinter diese Dokumentation der Selbst-findung und -bindung im Ringen mit den Mächten eines furchtbaren Tages. Was also wird von uns verlangt? Eine neue Redlichkeit. Eine neue Schlichtheit. Oft: ein Schweigen. Nicht auf die „Größe“, „Weite“, „Tiefe“ unseres Zeugnisses kommt es zunächst an, sondern allein auf seine Echtheit und innere Gegen w ä r t i g k e i t. Das ist die Lehre, die uns österreichischen Kulturschaffenden die schöpferische Kultur einer Welt um uns heute zu geben hat.

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