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Das wirkliche Problem

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Das heutige System der Bundestheaterleitung widerspricht dem überall bewährten arbeitsteiligen Verfahren. Solange das Bestreben vorherrscht, alles einseitig in die Verwaltung zu ziehen und die Direktionen zu deren Filialen zu erniedrigen, kann man keine Persönlichkeit von Format, zum Beispiel für die Leitung der Oper, gewinnen und werden gegen jeden Kandidaten je nach Bedarf politische oder andere Bedenken geltend gemacht.

Das System der Engagements ist mit dem einen Wort „Starsystem“ gekennzeichnet. Die hochbezahlten Stars sind die Sterne, um die andere Künstler wie kleine Planeten kreisen. Die teuersten Sänger der Welt werden zusammengekauft und abwechselnd eine Zeitlang in Wien gehalten. Dieses System ist für den Tag publikumssicher und erfolgreich, aber geistlos und kostspielig, schädlich und verschwenderisch, unsozial, unwürdig und aufreizend. Die einseitige Bevorzugung und oft marktschreierische Herausstellung einzelner Lieblinge widerspricht dem rechten Zusammenspiel und wahrer Kunst. Das geistige Bild, das kennzeichnende Gesicht des Theaters muß darunter leiden; es verfällt der gefährlichen Ruhe beamteten Schauspäelertums, das um Stars gruppiert wird; das Theater hat kein wirkliches Ensemble mehr, sondern Wanderstars und einen Rest von Schauspielern, die im Innersten bedrückt, verletzt, verbittert sind.

Das Starsystem ist verschwenderisch. Als Beispiel hierfür nehme ich nur den 28., 29. und 30. Mai dieses Jahres. Da wurde der „Heerrufer“ in „Lohengrin“ und „Posa“ in „Don Carlos“ gegen Höchsthonorar (3700 S) mit dem Flugzeug aus Berlin geholt, obwohl ein durchaus entsprechender Bariton in Wien zur Verfügung stand, allerdings mit einem Abendhonorar von „nur“ 1660 S. Die zwei Höchsthonorare kosteten 7400 S, der Flug Berlin—Wien und zurück 2000 S, wogegen der in Wien weilende Sänger nur 3220 S gekostete hätte. Man hätte also 6000 S ersparen können, ohne daß die Vorstellung eine künstlerische Einbuße erlitten hätte.

Für die beiden Nazarener in der „Salome“ brauchte man nicht einmal Sänger mit Abendhonorar, sondern genügen Solisten mit Monatsgage vollkommen; trotzdem traten zum Beispiel am 30. Mai als Nazarener zwei Sänger mit Abendhonoraren von zusammen mehr als 4000 S auf. Das Ideal des Starsystems ist e&en eine Vorstellung mit lauter klingenden Namen; man weist auf das ausverkaufte Haus hin, das reiche Leute anlocke, und übersieht, daß die Vorstellung dennoch ein Vielfaches dessen kostet, was sie einbringt.

Man zähle in Gedanken einmal nur die bekannten Künstlerinnen und Künster auf und rechne bei jedem nur dreißig Abende. Es ist erstaunlich, wievielmal da die 300 Abende, die das Theaterjahr höchstens hat, zu besetzen wären. Es ist einfach unmöglich, alle garantierten Abende zu erfüllen. Daher werden dreierlei Auswege benützt: formale Erfüllung, Verzicht und Absage. Die formale Erfüllung besteht darin, daß Stars auch kleinste Partien singen. So hatte man in der vergangenen Saison wiederholt Gelegenheit, in der „Zauberflöte“ den ersten Geharnischten seine drei Minuten lang gegen Abendhonorar von 3300 S zu hören; jede Minute kostet 1100 S.

Der Verzicht kapituliert vor der Tatsache, daß ein Sänger bei Repertoirebetrieb innerhalb von fünf Monaten nicht fünfundvierzigmal angesetzt werden kann, sondern vielleicht dreißigmal. Er erhält daher 15 Abende bezahlt, ohne daß er angesetzt war; das macht bei einem Abendhonorar vcn 3000 S immerhin 45.000 S aus. Wenn ein Sänger nicht auftritt, obwohl er angesetzt ist, verliert er von Rechts wegen den Anspruch auf das Honorar. Besonders verwöhnte Stars aber leisten sich Absagen, und werden dennoch honoriert, weil man sie schonen und bei guter Laune erhalten will.

Versucht man hingegen, die Stars um jeden Preis und auch für die kleinste Partie anzusetzen, so sind wieder die Solisten mit Monatsgage überzählig, und man muß sich nicht wundern, daß zum Beispiel im Mai ein Tenor mit einer Monatsgage von 5200 S ein einziges Mal aufgetreten ist. Aehnliche Beispiele gibt es für jedes Fach. Der Witz der Eingeweihten spricht daher von Sängern, die man bezahlt, damit sie nicht singen, oder von Schmetterlingen, die man gefangen hat und jetzt in der Sammlung aufbewahrt — wahrlich eine teure Sammlung! Bisweilen passiert es allerdings, daß sich ein Schmetterling nicht fangen läßt. So antwortete eine heuer in Bayreuth sehr erfolgreiche Grazerin einem Wiener Besucher auf die Frage, warum sie nicht in Wien singe, folgendes: Sie war nach Wien zum Vorsingen eingeladen und wartete mit dem versammelten Orchester auf den Leiter der Bundestheaterverwaltung, der aber, anders als im Falle Gligor, plötzlich verhindert war und deshalb das Ganze absagte. So ging sie eben nach München und von dort nach Bayreuth, wo zwar nicht der Intendant, wohl aber der dazu berufene Operndirektor oder Kapellmeister für ihr Vorsingen Zeit hatte.

Das Starsystem überspitzt die Forderungen und wirkt wie Preistreiberei. In Wien drohen die Stars mit Abwanderung nach München, in München liebäugeln sie mit Berlin, in Berlin mit Mailand und in Mailand klagt und lacht man über Wien, weil hier in der Reitschulgasse ganz offen von „Marktpreisen“ geredet wird, als ob man sich in St. Marx befände.

Das Starsystem demoralisiert. Wie kommt der „Tristan“ dazu, fast den ganzen Abend auf der Bühne zu stehen, wenn in der gleichen Oper der „Hirte“ im dritten Akt für seine einzige Minute Anstrengung das gleiche Abendhonorar erhält? Und umgekehrt — warum soll der „Hirte“ eine große und schwere Rolle einstudieren, wenn er das gleiche Abendhonorar auch mit 18 Takten verdienen kann? Sie werden sagen — weil er eben ein Künstler ist und ihn das Singen freut. Dann will er aber große Partien singen und nicht nur 18 Takte!

Das Starsystem wirkt unsozial. Die ganze Aufmerksamkeit gilt nur noch den Stars, sie allein sind der Glanz der Oper, für sie muß das Geld da sein, mehr als sie in Deutschland bekommen, dafür muß sich eben der Inspizient und der Korrepetitor mit einem Drittel dessen begnügen, was sein Kollege in München hat.

Das Starsystem ist der Wiener Oper unwürdig. Stars haben ein Interesse daran, sich in Wien an der Höhe der Kunst und an der Feinheit des Geschmacks zu messen; für sie ist das Auftreten in Wien nicht in erster Linie eine Gelegenheit zum Geldverdienen, sondern eine künstlerische Approbation, so daß sie nicht mit Höchstzahlungen angeworben werden müssen.

Das Starsystem ist aufreizend, besonders wenn man die Stargagen mit anderen kulturellen Aufwendungen vergleicht. Soweit Sie Kinder in einer Mittelschule haben, wissen Sie von der Elternvereinigung her, daß für Sie ein Abendhonorar ein Vermögen bedeuten würde. Aber auch an der Hochschule ist es nicht besser. Für seine Handbücherei, für den Ankauf von Zeitschriften, Laadkarten usw. erhält an der philosophischen Fakultät der Universität Wien unter dem Titel „Unterrichtserfordernisse“ das Institut für Theaterwissenschaft 533 S im Vierteljahr, für Pädagogik ebenso 533 S, für englische Sprache und ebenso für romanische Philologie 761 S, für Geographie 1500 S, Radiumforschung 2500 S und das höchst' jtierte I. und II. Chemisch Institut 5330 S im Vierteljahr; Zur Anschaffung von Kanzleipapier, Schreibmaterial, Heften usw. unter dem Titel „Amtserfordernisse“ Theaterwissenschaft und Pädagogik je 27 S, Anglistik und Romanistik je 39 S, Geographie 78 S, Radiumforschung 123 S, Chemie 267 S im Vierteljahr.

Nun erwarten Sie mit Recht von mir einen Reformvorschlag. Er besteht vor allem nicht in blinder Sparwut. Am Beispiel der gewerblichen Wirtschaft kann man sehen, daß das Heil nicht im würgenden Sparen, sondern im vernünftigen Wirtschaften liegt. Wirtschaften heißt, mit den verfügbaren Mitteln den größtmöglichen Erfolg erzielen, die Mittel also dort aufwenden, wo sie am besten angelegt sind.

Die Aufgabe des Burgtheaters, die jeder Förderung wert ist, hat sich nicht geändert. Die Aufführungen der großen Werke der Weltdichtung, ebenso vieler neuer Werke, die an szenische Mittel große Anforderungen stellen und nicht dem reinen Unterhaltungstheater dienen, können bei den hohen Anforderungen, die heute vom Publikum gestellt werden, und bei den ebenso hohen Anforderungen, die Mle an der Theaterarbeit Beteiligten für sich stellen, nur zustande kommen, wenn der Staat ein großes Theater maßgeblich unterstützt.

Voraussetzung ist allerdings die Bildung in es Ensembles. Das Wesen des Ensembles liegt in einer ungewöhnlichen Verbundenheit über den persönlichen Kontakt hinaus, in der keiner dem andern im Wege steht, wo jeder dem anderen hilft und für ihn eintritt. Nur die Beachtung folgender Grundsätze kann wieder zu einem Ensemble führen: außer bereits großen werden auch die aufsteigenden jüngeren Kräfte engagiert, Gäste werden nur dann verpflichtet, wenn Aussicht besteht, sie für das Ensemble zu erproben und dann endgültig zu gewinnen. So werden aus dem Gastspieletat erhebliche Mittel frei, die es gestatten, eine Reihe wichtiger Künstler für sehr lange Zeiträume festzuhalten. Für eine solche Arbeit forderte Laube, der berühmte Reorganisator des Burgtheaters, schon mitten im 19. Jahrhundert mindestens drei Jahre Zeit.

Damals brauchte das Theater sich noch nicht in die begehrtesten Künstler mit dem Film oder dem Funk zu teilen, die planende Arbeit war noch nicht heftigen Verlockungen und Störungen ausgesetzt, ganz zu schweigen von dem Raubbau, der in beängstigend zunehmennem Maße die Substanz der Schauspieler bedroht, wenn sie mit dem Stundenkalender in der Hand aus dem Atelier auf die Probe und von dort ins Aufnahmestudio rasen. Die Harmonie der alten und neuen Schauspieler will abgestimmt sein, bis sich schließlich eine Gemeinschaft ergibt, wie sie das Burgtheater einmal besaß, jahrzehntelang übrigens. Mehr und mehr wird das Burgtheater auf die Wanderschwalben verzichten müssen. Nur ein Bündnis der führenden Bühnen kann, zum Besten auch für die Schauspieler selbst, sichernde Dämme bauen.

Der Opern betrieb steht heute auf der ganzen Welt vor dem Zwiespalt: Ensemble oder Stagione, Repertoire oder en suite. Die Frage heißt, ob man sich's leisten kann, ein hochwertiges Ensemble mit zahlreichen Opern ständig zu halten oder ob die großen Dirigenten abwechselnd wie die Jahreszeiten (le stagioni) in den ersten Opernhäusern _ der Welt einige wenige Opern dirigieren sollen. Je kleiner die Welt wird, um so mehr verschärft sich die Auslese. Während früher große Dirigenten und Sänger des Auslandes meist nur dem Namen nach bekannt waren, läßt sich heute ihre Leistung durch den Rundfunk oder durch einen Flug ins Ausland unmittelbar prüfen. Die wenigen, die solchen Prüfungen standhalten und sich als erste Qualität erweisen, sind dafür aber auch in der ganzen Welt bekannt und begehrt und gehören praktisch der ganzen Welt. Wenn Wien zur Stagione übergeht, muß es auf das große Repertoire-Ensemble natürlich verzichten und mit wenigen Opern, die in Perioden wechseln, vorliebnehmen. Vorerst neigt jedoch Wien zur gewohnten Repertoireoper. Die Tatsache, daß alle Werke Mozarts im Repertoire stehen, die Verdi-Pflege und der bedeutsame Stil der Richard-Strauß-Auffühamgen sprechen für den Repertoirebetrieb. Dieser verlangt aber einen gewandten, mitreißenden und verantwortungsbewußten Musiker als Anziehungspunkt, Erzieher und Leiter, der mit intensivster Arbeit, Entdeckertalent und Sachkunde ein Ensemble von jungen Künstlern heranzieht, die zunächst ständig und ausschließlich an die Wiener Oper gebunden sind. Später gehen sie sicherlich in die Welt, aber Wien ist berühmt genug, Ausgangspunkt zu sein, und hat es nicht nötig, sich zur Durchgangsstation für Stars zu erniedrigen. Das erfordert aber eine ständige und besonders musikalische Leitung, nicht Durchzugsgäste, die sich nicht verantwortlich fühlen müssen, eine geistvolle, anregende Regiearbeit und ein wachsames Auge für die jungen Talente.

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