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Salzburg vor einem Wendepunkt?

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Die diesjährigen Salzburger Festspiele sind, da diese Zeilen geschrieben werden, in praxi vorüber, obschon es noch einen übervollen letzten Sonntag gibt mit einer Matinee, einem „Jedermann" und einem Ballett in der Felsenreitschule. Und dann, an einem Montag, hört es plötzlich mit einem Beethoven-Konzert der Wiener Philharmoniker unter der Leitung Furtwänglers auf… So oder ähnlich aufgebaut ist jedes Wochenende gewesen, mochte es sich um eine Oper an Stelle des Balletts, um ein Domkonzert an Stelle der Matinee gehandelt haben, und immer war der „Jedermann" dabei. In einem sehr ernsten, ja gefährlichen Sinne waren dieses Jahr die Salzburger Festspiele eigentlich schon kurz nach der Uraufführung von Strobel-Liebermanns ..Penelope” vorüber. Das Interesse der Oeffentlichkeit, das bis dahin schon durch die stolze Zahl von vier vorhergegangenen Premieren („Freischütz", „Don Giovanni", „Cosi" und „Ariadne") plus dazugehörigen Generalproben gespannt war, sank plötzlich in tiefste Tiefen, derart, daß die alte Salzburger Lokalforderung nach einer Verlängerung der „Saison", was ihre künstlerische Seite angeht, in einem recht problematischen Licht erscheinen mußte. Tatsächlich wird sie in diesem Jahre erstmals mit den sogenannten „Schloßkonzerten" in Mirabell und Residenz „verlängert"; es wird eine Fremdenverkehrsangelegenheit sein für ie Tausende vielleicht, die den jenseits des Doms (nicht am Residenzbrunnen!) parkenden Autobussen entströmen —, aber künstlerisch wird und muß der Plan die fallende Tendenz des Barometers mitmachen, denn was den Festspielen selbst nicht möglich war, die Basis der künstlerischen Diskussion zu erweitern, auf die es ja ankommt, w'ird den von einem Reisebüro arrangierten Salzburger Schloßkonzerten, sie mögen noch so verdienstvoll sein, gleichfalls nicht gelingen.

Leerlauf in der zweiten Hälfte

Woran liegt es eigentlich? Warum lief sich dieser Salzburger Festspielsommer so erschreckend schnell leer? Warum vermochten die Wiederholungen der Opern, der Ballette, die Vielzahl von Solisten-, Kammer- und Orchesterkonzerten mit doch immer neuen Programmen und schließlich die allerdings „nur" Mozart gewidmeten Serenaden und Matineen das Interesse der Oeffentlichkeit nicht in dem notwendigen Maße wachzuhalten ?

Die seit Jahren wie ein Ei dem andern gleichende, wohl eingelaufene Ordnung hatte sich, im Laufe eines Menschenalters etwa, organisch entwickelt. Die Festspiele bestehen nun über dreißig Jahre, und es scheint, daß der Wellenrhythmus der Geschichte auch von der heute führenden Salzburger Generation ihren Tribut fordern muß. Das mag der sozusagen generationsgesetzliche Grund sein. Denn diese Ordnung, diese Reihung der Salzburger Repertoirebühne (es kommt ja in erster Linie auf die Szene dabei an) ist, genau besehen, nicht aus lediglich künstlerischen oder publizistischen Er wägungen entstanden. Mehr und mehr wird die seit vielen Jahren nun. schon in der zeitlichen Mitte angesetzte Uraufführung eines neuen Bühnenw'erks zu einer Anhäufung von Opernabenden rundherum benutzt, um der zur „Welturaufführung" herbeiströmenden „Weltpresse" in kurzer Zeit möglichst viel vorzuführen. Das ist ebenso verständlich wie es klar sein muß, daß dies einer „Abnützung" der Salzburger Saison in wenigen Tagen gleichkommt. Wenn man hinzunimmt, daß es selbst einem Mitropoulos, erstmals an der Spitze der Wiener Philharmoniker in Salzburg und schon deshalb ein Kunstereignis ersten Ranges, nicht gelang, zweimal das Festspielhaus zu füllen —- ein Amerikaner sagte: „Warum soll ich seine Konzerte besuchen, ich ,sehe' ihn ja auch zu Hause!"-—, so ist wohl einleuchtend, daß die zweite Festspielhälfte ein oder mehrere szenische

Ereignisse benötigt wie das tägliche Brot. Und darum geht es tatsächlich; ein Crescendo zu halten, das kann bald einer, aber ein Decrescendo zu spannen bis zu einem Pianissimo hin, das dann selbst noch voller Erwartung ist, das ist schwer, aber auch eine Komponente des Fragenkomplexes für künstlerisches Sein oder Nichtsein Salzburgs.

Unzulängliche Rettungsprojekte

Man weiß j . nur zu gut, daß all dies auch eine Folge des Terminkalenders der Prominenten ist. Aber für Salzburg darf es, auch für die Prominenz — andernfalls ist sie es nicht mehr im künstlerischen Sinne — nur die Richtschnur der Kunst geben, aus der ein wohlproportioniertes „Repertoire" erwächst, das freilich auch, nicht bloß aus publizistischen Gründen und solchen der Anziehungskraft, sorgsam verteilte Schwer punkte besitzen muff. Gerade letzteres wurde

1954 bereits zum Teil erkannt durch Beibehaltung der Opernpremiere, durch Einführung eines ins Repertoire eingefügten Ballettsabends. Es hat sich jedoch gezeigt, daß dies nicht genügt, zumal beide Premieren unmittelbar aufeinanderfolgten.

Die Tatsache, daß in Salzburg während dieses Sommers so viel über die Zukunft seiner Festspiele diskutiert wurde wie noch nie zuvor, beweist, daß Verschiedenes in der Luft liegt, aber es überzeugt noch nicht, daß man sich der dringenden Notwendigkeit einer Reorganisation in jeder Form genug bewußt ist. Man spricht davon, daß das Schauspiel, das in diesem Jahre eliminiert war, im Sinne der Konzeption Hofmannsthals der Salzburger Oper ebenbürtig sein müsse. Man spricht von Engagements ausländischer Sprechtheater, so vom Teatro piccolo Mailands, man schlägt vor, eine ganze Gruppe ausländischer führender Sprechbühnen (Old Vic, Comedie Franęaise usw.) nach Salzburg einzuladen. Man spricht schließlich von Schiller (Gedenktag 1955) und nicht zuletzt von Mozart, der 1956 zum 200. Gedenktag seiner Geburt eine weltweite „hausse" erleben soll. Im Grunde handelt es sich jedoch um all dies nicht. Natürlich muß dies oder jenes davon getan werden. Aber man kann sich bei all dem nicht des Gedankens erwehren, daß wieder einmal die Rechnung ohne den Wirt (lies: ein Programm ohne Berücksichtigung des „statistischen" Terminkalenders, der dann im letzten Augenblick befiehlt und verbietet) gemacht W'ird.

Folgende Gefahren zeichnen sich außerdem bei all diesen Plänen jetzt schon ab: Salzburg ist keine übersteigerte Londoner „Season"wie Edinburg; es muß Gastspiele dieser Art daher ablehnen. (Das im Vorjahr angehängte „Gastspiel" eines Pariser Balletts sollte lehrreich genug gewesen sein.) Außerdem darf Salzburg, das man mit Recht „Mutter der Festspiele" genannt hat, nicht die Züricher Festw'ochen oder Wiesbaden nachahmen, die von Bühnengastspielcn leben müssen. Und warum sollte Salzburg Schillers gedenken? Nichts gegen Schiller, aber jedes Hersfeld, jedes Wunsiedel wird

1955 in allen Farben „schillern"! Schließlich das Mo zart -Jahr ! Es begann sich in diesem Jahre bereits abzuzeichnen. Die Domkonzerte waren schon jetzt fast nur ihm gewidmet, daneben, wie immer, die Serenaden und Matineen. Gut und schön. Kann man sich jedoch vorstellen, daß 1956 Mozart in Salzburg restlos „ausverkauft" w'ird? Natürlich, es gibt da Verpflichtungen. Aber wenn sie in der Weise eingelöst werden, wie man es offenbar vor hat. dann Gnade Gott Mozart und — uns. Denn es wird eine Anhäufung von Mozart- Werken ergeben, aber nicht die Manifestation e i n e s ve rbindlichen Salzburger Mozart- Stils. Und genau das wäre die einzige Berechtigung eines Salzburger Mozart- Jahres, wenn es nicht in einer geistlosen Massenehrung versinken soll. Große Kunst soll man nicht zu häufig im Munde führen; was volkstümlich ist, wird leicht banal. Und gerade die Ausnahmeerscheinung Mozart kann nur vom geistigen Konzept her aufs Piedestal gehoben werden.

Gefahren des Ein-Mann-Systems

Damit sind wir beim Kärdinalproblem Salzburgs angelangt. Seine Festspiele werden, wie bekannt, seit Jahren einem großen Künstler, seinem Wunsch und Willen, was auch heißt: seinem Terminkalender, untergeordnet. Gänzlich unabhängig von der Person dieses Künstlers, vor dessen Leistung für die deutsche Musik sich jedermann beugt, muß einmal deutlich gesagt werden, daß ein derartiges „Ein-Mann-System" für ein Festspiel wie das Salzburger eines Tages zu einer Katastrophe führen muß. Sie wird anderer Art sein als die, die Bayreuth mit Markevitch erlebt hat. Sie resultiert aus vielen offen zutage liegenden, aber noch mehr geheimen Wunden unseres Zeitalters, das nicht nur in der Kunst einem übertriebenen Personenkult huldigt, mit der unausbleiblichen Folge eines ins Persönliche ausartenden Konkurrenzkampfes der Künstler untereinander. Natürlich hat es das immer gegeben, und es mag auch für die Leistungssteigerung nicht unwichtig sein. Aber all das darf nicht Forderung und Verwirklichung eines Festspiels beeinflussen. Nicht der Konkurrenzkampf zweier’ oder mehrerer Künstler ist interessant, sondern der Wettbewerb der führenden Festspiele, ja, dieser ist lebenswichtig für sie und für die Kunst, um die allein es sich handeln kann. Bekanntlich können die Salzburger Festspiele ohne die Wiener Staatspper nicht leben, auch nicht ohne die Wiener Philharmoniker, die, es sei in Parenthese gesagt, augenblicklich eine offenbar mit Pensionsfragen zusammenhängende, „hörbare" künstlerische Krise durchzumachen scheinen. (Dr. Karl Böhm, der neue Opernchef Wiens, versprach den Philharmonikern bei einem Salzburger Empfang, den das Orchester ihm zu Ehren anläßlich seines 60. Geburtstages gab, seine Hilfe.) Diese Symbiose Wien- Salzburg ist ganz einfach naturgegeben. Was sagt man aber dazu, wenn die Wiener Staatsoper, wie man hört, die fünf großen Mozart- Opern im Zusammenhang mit der Wiedereröffnung des Hauses am Ring und eben der Bestellung Böhms neu herausbringen wird, offenbar mit O. F. Schuh als leitendem Regisseur und dann natürlich mit Caspar Neher als Bühnenbildner, anderseits jedoch Furtwängler nicht weniger als drei Mozart- Opern, und dann wohl Don Giovanni, Zauberflöte und Figaro, im Mozart-Jahr 1956 in Salzburg dirigieren will? Wird Furtwängler auch die Wiener Neuinszenierungen leiten? Doch wohl kaum. Mit diesen Plänen zeichnet sich nicht eine bloße Ueberschnei- dung ab, es besteht vielmehr die Gefahr eines künstlerischen Wettkampfes auf Mozarts Rücken, der sich für Salzburg 1956 keinesfalls günstig auswirken kann. Die Frage lautet klipp und klar: Mozart darf 1956 einen verbindlichen Salzburger Stil seiner Bühnenwerke erwarten, wie will man ihn unter solchen Auspizien erreichen?

Zuerst: das geistige Konzept

Man stellt mit einem Wort Programme auf, ohne die notwendige Voraussetzung für ihre Durchführung geschaffen zu haben. Zuerst muß man sich über die künstlerischen Möglichkeiten klar sein, also wissen, welche Künstler zur Verfügung stehen. An ihrer Spitze muß ein Kunstteam stehen, das für die geistige Linie verantwortlich ist. Dann erst kann man Programme machen. Die Mitglieder dieses Kunstteams müssen so viel Achtung voreinander haben, daß sie alle Probleme gemeinsam behandeln. Es ist deprimierend, wenn ein Künstler von einem Kollegen, mit dem er zusammen an der Realisierung eines großen Werkes arbeitet, sagt, er könne sich mit ihm über dieses Werk nicht unterhalten. So geschehen in Salzburg 1954. Genau das muß aber in Salzburg nicht nur möglich, sondern selbstverständlich sein, zumal, wenn es sich darum handeln wird, 1956 Salzburg als führende Mozart-Stätte der Welt zu proklamieren. Das kommt dieser Stadt zu, aber es handelt sich um einen Besitz, der in einem umfassenden Sinne neu erworben werden muß. Sonst machen ihn andere Festspiele Salzburg streitig. Es handelt sich um Mozart, um Salzburg. Ihnen, nicht einzelnen Stars, gelten unsere Wünsche, unsere Sorgen.

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