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Totale Festspiele

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Die Wiener Festwochen 1964, die letzten, für die ich verantwortlich zeichne, fallen mit der Erfüllung einer Idee zusammen, die mich seit meiner Berufung Im Jahre 1960 durch Vizebürgermeister Mandl nicht mehr losgelassen hat. Diese Idee ist nicht patentiert und nicht vor Nachahmung geschützt, sie kann daher ohne weiteres verraten werden: mit einem Schlagwort könnte man sie als die Idee der „totalen Festspiele“ bezeichnen. Etwas weniger journalistisch ausgedrückt, sollte sie um jaicht&.>weiüger wirksam-sein:. Deaa,. sie besteht in der Einreihung sämtlicher kultureller Manifestationen — Konzerte, Musik- und Sprechbühne, bildende Kunst und selbst die Kleinkunst — unter ein bestimmendes Leitmotiv, unter ein Motto, das aus der unübersehbaren Fülle der Möglichkeiten von vornherein einen Ausschnitt, einen überschaubaren Sektor zur Darstellung bringt.

Was ist der Sinn eines solchen Unternehmens? Ist ein solches geistiges Prokrustesbett überhaupt sinnvoll? Natürlich gibt es auch Festspiele, die nicht anderes sind' als eine mehr oder minder zufällig zusammengetragene Mischung der verschiedensten Programme. Solche Festspiele mögen unter Umständen eine fremdenverkehrsfördernde Wirkung haben, keinesfalls aber eine kulturelle. Aber selbst das erstere wage ich anzuzweifeln: Denn wer begibt sich schon an einen Ort, wo er dasselbe hören kann, das er auch anderswo vorgesetzt bekommt, womöglich noch zu erhöhten Preisen? Das Außerordentliche allein rechtfertigt Festspiele. Und da bei dem hohen Stand unseres Kulturlebens das Außerordentliche in der Interpretation weltweite Verbreitung genießt, muß als weiterer unentbehrlicher Faktor auch das außerordentliche Programm hinzutreten, soll die Institution von Festspielen überhaupt Sinn und Zweck haben.

Das Außerordentliche im Programm von Festspielen kann jedoch der Zielsetzung noch nicht genügen. Das abseits vom Wege Liegende, das Seltene muß auch koordiniert werden, die verschiedenen Komponenten müssen sich zu einer Resultierenden vereinigen. Nirgendswo ist dies wichtiger als in Wien, wo eine Vielzahl von Veranstaltern Initiative und Sachkenntnis einsetzen, ohne immer am gleichen Strick zu ziehen. Sicher sind auch solche Festwochen möglich, in denen jeder das spielt oder aufführt, was im Terminkalender gerade bequem unterzubringen ist, Festwochen, in denen die Programmzusammenstellung den Künstlern selbst überlassen wird und die Buntheit das oberste, weil so leicht zu befolgende Gebot ist. Doch es ist meine feste Überzeugung, daß Festspiele mehr sein sollen als die Summe der Konzerte und sonstigen Veranstaltungen: Festwochen müssen ein Profil haben, eine Idee muß am Beginn der Planung stehen, und je umfassender diese Idee in den Programmen durchgesetzt wird, desto klarer, desto bestimmter und deutlicher wird sie auch hervortreten. Sicher wird es dem einzelnen nicht möglich sein, sämtliche kulturelle Manifestationen, die sich einer solchen Idee einfügen, zu besuchen. Er wird aber unter dem Dargebotenen, das sich bereits auf eine

Idee konzentriert, jene Auswahl treffen, die für ihn das reinste Destillat darstellt, und so das Typische der Aussage erfassen können. Ich will damit sagen: Die Idee, das Festwochenmotto, ist kein Aufputz, kein Schlagwort, keine Zutat, sondern das Fundament des Festspielgedankens. Nutzen soll es dem Publikum bringen, dem kulturell interessierten Menschen, der in der Fülle der Ereignisse das ihm besonders- Zusagende wähtt, und jenem, der aus einer größeren Zahl von .Eindrücken ein urnfassenaer.es Bild, gewinnen, will. Kunst ist nicht zur Unterhaltung da, sondern zur Bereicherung. Und reicher kann man nur werden, wenn man sparsam ist. Deshalb die Einordnung unter eine Idee, die gewollte Beschränkung auf ein bestimmtes Teilgebiet, dafür aber dessen gründliche Erfassung.

Dieses Ziel konnte naturgemäß nicht von heute auf morgen erreicht werden. Einen gewissen Ansatzpunkt fand ich bei meinem Amtsantritt als Intendant der Wiener Festwochen in der Möglichkeit, zunächst einmal Konzerte in zyklischer Form darzubieten. 1960 konnte ein solcher Zyklus im Zeichen Gustav Mahlers durchgeführt werden, bei dem Bruno Walter und Dr. Otto Klemperer denkwürdige Konzerte leiteten. Im folgenden Jahr wurde der Versuch unternommen, die Sparte des Sprechtheaters einer Idee einzuordnen. Das Motto hieß damals „Die Idee der Freiheit im Drama“ und konnte, wenn nicht in allen, so doch in den meisten Beiträgen der Wiener Theater zum Ausdruck gebracht werden. Im Jahre 1962 konnte ebenfalls eine Idee für den Theatersektor verbindlich gemacht werden: „Meisterwerke des Volkstheaters“. Im Rahmen dieser Idee hat die 100-Jahr-Feier für Nestroy einen idealen Platz eingenommen. Auf musikalischem Ge-

biet sollte ebenfalls ein Leitgedanke bis zu einem hohen Grad verwirklicht werden. Anlaß dazu bot die Wiedereröffnung des Theaters an der Wien, das durch die Munifizenz der Stadt Wien zu neuem Leben erwachte und fortan als Mittelpunkt der Wiener Festwochen eine besondere Aufgabe erfüllt. Im Eröffnungsjahr wurden in einer Reihe von Konzerten Meisterwerke zur Aufführung gebracht, die seinerzeit in diesem Theater ihre Uraufführung erlebten. Die überaus erfolgreiche szenische Erstaufführung von Alban Bergs Oper „Lulu“ hat eine weitere Idee reifen lassen, die im darauffolgenden Jahr zum Leitmotiv gewählt wurde.

Dieses Jahr gehen wir noch einen Schritt weiter, das heißt, eigentlich sind es gleich zwei Schritte: Während bisher ein verbindliches Motto nur jeweils für ein bestimmtes Gebiet gewählt und befolgt werden konnte, wird heuer die grundlegende Idee von allen drei Sparten der Kunst eingehalten: von der Musik — sowohl in den Konzerten wie in ihrer Verbindung mit der Bühne —, vom Sprechtheater und von der bildenden Kunst. Die Idee „Anbruch unseres Jahrhunderts — Kunst und Kultur nach der Jahrhundertwende“ schließt eine der interessantesten Umbruchsepochen der Kulturgeschichte ein,

eine Umbruchsepoche, in der das Genie eines Richard Strauss, dessen 100. Geburtstages heuer gedacht wird, ebenso seinen Platz hatte wie die ungeheure Kraft, die den Strom der Kunst in ein neues Flußbett leitete. Es muß für jeden kunstinteressierten Menschen ein Erlebnis sein, diese oft hart aufeinanderprallenden Strömungen und Richtungen, die Genietaten und die Pioniertaten am „Anbruch des Jahrhunderts“ miteinander konfrontiert zu sehen, und dies über die sonst so streng abgesonderten Territorien der Künste hinaus: von der Musik zur Malerei, von der Malerei zur Literatur, von der Sprechbühne zur Musikbühne und von dieser zum Konzert.

Ich will hier nicht von den Schwierigkeiten reden, die sich der Durchführung der ersten wirklich umfassenden Festwochen entgegenstellten, nicht von den Mühen, die ihre Überwindung kosteten. Aber mit einem gewissen Stolz darf ich auf das Ergebnis hinweisen: Mehr als 90 Prozent aller kulturellen Manifestationen fügen sich dem Motto ein.

Ein letztes Wort als scheidender Festwochenintendant: Bei der Veranstaltung von Festspielen muß der Geist das Programm bestimmen, dann wird auch das Programm den Geist erkennen lassen.

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