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Programm und Publikum

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Die Programmgestaltung jedes Kulturinstituts kann entweder nach der Breite oder nach der Tiefe hin aufgebaut werden. Nach der Breite dann, wenn mit den Programmen eine möglichst große Zahl von Hörern angesprochen werden soll; nach der Tiefe hingegen, wenn unabhängig vom augenblicklichen Geschmack im Programm gleichsam ein Querschnitt durch das künstlerische Leben erblickt wird. Beide Typen sind grundsätzlich akzeptabel, führen aber dann in eine Sackgasse, wenn sie starr zur Durchführung kommen, und zwar einerseits zu künstlerischen Durchschnittsleistungen (nicht in der Interpretation!) und andererseits zu einer finanziellen Krise. Die erste Art kennzeichnete die Programme der Musikfreunde, die zweite die der Konzerthausgesellschaft.

Das Haus am Karlsplatz versammelte in der verflossenen Saison eine illustre Reihe erster Dirigenten. Ihr Auftreten war offensichtlich das Prävalierende der Programmgestaltung: es war nicht wesentlich, welches Werk gespielt wurde, sondern wer es dirigierte. Damit hat sich das künstlerische Schwergewicht entscheidend zugunsten der Interpretation verschoben. So reizvoll und interessant die verschiedenen Ausdeutungen für den Kenner sein mögen, so ist doch in einem höheren Sinne mit Konzerten dieses Genres keine vollkommene Wirkung erzielt worden. Im Gegenteil: der unserer Zeit so übel anhaftende Hang nach der Sensation gelangt damit auch in der reinen Sphäre der Musik zum Durchbruch. Am sinnfälligsten vielleicht in jenem Plakat ausgedrückt, das nicht etwa einen Bruckner- oder Beethoven-, sondern einen Karajan-Zyklus ankündigte.

Demgegenüber hatte sich die Konaert- hausgesellschaft der Pflege der zeitgenössischen Musik verschrieben. Dagegen gab es so lange keinen Einwand, als dies in der richtigen Dosierung geschah. Hierin hat sich die Direktion des Hauses nun zweifellos vergriffen. Die Musikgeschichte Wiens weiß ein Lied vom Konservativismus unseres Musikpublikums zu singen. Mit ihm ist unter allen Umständen zu rechnen, und zwar heute mehr denn je, weil im Zuge der gesellschaftlichen Umschichtung der letzten Jahre jener an sich kleine Kreis fortschrittlich empfindender Musikenthusiasten durch die finanzielle Notlage aller geistig Schaffenden noch weiter eingeengt worden ist. Dazu kommt, daß die Jugend, die früher die Avantgarde stellte, den Dingen fernesteht. Nicht so sehr, weil sie daran nicht interessiert ist, sondern weil sie, jahrelang kulturpolitisch gleichgeschaltet, plötzlich Hals über Kopf vor künstlerische Probleme gestellt wurde, die sie einfach nicht zu fassen vermag und sie daher kopfscheu machten. Man hat daher je nach Temperament die Programme der Konzerthauskonzerte als snobistisch oder wirklichkeitsfremd bezeichnet. Eine gewisse Ungeschicklichkeit ist tatsächlich festzustellen, wenn man sich zum Beispiel daran erinnert, daß im ersten Jahr der Wiederaufnahme der ehemals so beliebten Sonntagnachmittagskonzerte dem aus einfachen Leuten zusammengesetzten Publikum problematische Werke modernster Prägung zugemutet wurden, was zwangsläufig zu einem finanziellen Debakel führte, während dieselben Konzerte, künstlerisch auf wesensgemäße Programme gestellt, zu den erfolgreichsten Veranstaltungen des-verflossenen Konzertwinters wurden. Ein schwerwiegender organisatorischer Fehler der Konzerthausgesellschaft war außerdem der, daß die im Jahresprospekt angekündigten Konzerte sowohl im Programm wie bezüglich der Ausführenden wiederholt geändert wurden. Nichts aber stört das Einvennehmen zwischen Publikum und Konzertgeber mehr als derartig Mängel in der Planung.

Die zukünftig Programmgestaltung wird daher dann zweckmäßig sein, wenn sie di Faktoren der Breite und der Tiefe in ein richtiges Verhältnis stellt. Wir entsinnen uns der Jahr vor 1938, da der Konzertzyklu der Gesellschaft der

Musikfreunde eine Gemeinschaftsveranstaltung mit der Ravag war. Diese Konzerte, die unter keinem Dirigentenstar standen und obendrein noch von allen österreichischen Sendern übertragen wurden, waren ständig ausgezeichnet besucht. Der Grund hiefür lag einzig in der geradezu vorbildlichen Programmierung, die in den interessantesten Variationen Novitäten mit den Standardwerken der Musikliteratur zu verbinden wußte. An diese Form müßte angeknüpft werden. Der Erfolg wäre ein doppelter: einerseits würde die zeitgenössische Musik den ihr gemäßen Rahmen erhalten, und andererseits wäre es möglich, auf diese Weise die reinen Pultvirtuosenkonzerte auf ein erträgliches Maß zu reduzieren.

Von entscheidender Bedeutung für das Zustandekommen einer solchen programmatischen Reform, die natürlich auch ihrerseits nicht in schematische Starrheit ausarten darf, ist die Programmgestaltung der philharmonischen Konzerte. Hier ist in den letzten Jahren eine bedenkliche Entwicklung eingetreten, was um so bedauerlicher ist, als das philharmonische Orchester dank seiner bevorzugten sozialen Stellung wie keine andere Institution in der Lage wäre, seine Geschäftsinteressen in den Hintergrund zu stellen. Wie sehr die Sachlage von den Philharmonikern selbst als unbefriedigend empfunden wird, erhellt die Tatsache der in den letzten Konzerten gestellten Programmrundfrage an das Publikum. Wie vorauszusehen war, hat dieses Plebiszit keine neuen Perspektiven eröffnet. Fest steht nur, daß die Reorganisation des philharmonischen Programms zunächst von der Eindämmung der Sonderwünsche der Stardirigenten ausgehen müßte. Dieses Problem wird schwer zu lösen sein, muß aber, soll das vollkommene Abgleiten in das Niveau des „Sensationsgastspiels“ vermieden werden, zu einer Lösung kommen. Es ist unwürdig, wenn Hans Pfitzner in einem philharmonischen Konzert mit einem Opernbruchstück begrüßt wjrd; es ist unkünstlerisch, wenn von Joseph Marx ein Fragment aus einem symphonischen Werk zur Aufführung kommt, und es ist unter dem Niveau, wenn ein philharmonisches Programm die „Nußknackersuite“ und eine jener „beliebten“ Opernouvertüren — womit nichts gegen diese Werke an sich gesagt sein soll — beinhaltet.

Die Wiedergabe der großen Symphonien wird immer eine der Hauptaufgaben der Philharmoniker sein und infolge der einmaligen und unübertroffenen Klangkultur dieser Vereinigung auch die Glanzpunkte ihrer Programme bilden. Daneben aber ist die weltoffene Pflege der musikalischen Moderne eine Dringlichkeit ersten Ranges. Wir reden damit keineswegs programmatischen Experimenten das Wort. Zwischen solchen und der gefährlichen Sterilität der verflossenen Vortragsfolgen ist ein weiter, mit Meisterwerken reich gesegneter Spielraum, dem sich zuzuwenden wir die Philharmoniker im Interesse unseres Rufes als Herzland der Musik dringend bitten.

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