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Eine Stimme aus Deutschland

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Darf ich sagen, was mich am meisten bewegte, al6 ich nach langer Zeit zum erstenmal wieder in Wien angekommen war, wohin uns Musiker und Musikforscher aus aller Welt die Gesellschaft der Musikfreunde eingeladen hatte? Man hatte mir gesagt, Wien sei eine sterbende Stadt; was ich fand, war eine zwar verarmte, aber nicht abgesunkene, eine ern6t gewordene Stadt, und manche Vergleiche mit dem bedenkenlosen Wohlleben vieler Kreise in Deutschland drängten sich mir auf.

Vertreter dieses geistigen Wiens versammelten sich eine Woche lang täglich im Brahms-Saal des Musikverednsgebäu- d e s, um mit ausländischen Kollegen zusammen grundsätzliche Fragen unserer Musik und des gegenwärtigen Musiklebens zu besprechen. In fast fünfzig Referaten mit anschließender Diskussion wurde ausschließlich über Themen gesprochen, die uns als Menschen der Gegenwart angehen: Musik und Ethos (darf man etwa der modernen Musik eine ethische Wirkung absprechen? Kann man überhaupt von einer ethischen, praktischen Beeinflussung des Menschen durch Musik sprechen?), nationale und internationale Musik (wobei vielfach unklar blieb, ob der Begriff international sich auf den europäischen Kulturkreis bezog oder ob man heute von einem Weltstil der Musik sprechen kann, so wie heute überall • auf der Welt dieselben Hochhäuser gebaut werden?), die positive und negative Wirkung des Rundfunks in der Musik (hier wurden manche klugen Worte gesprochen, die nur leider ohne Wirkung bleiben werden, weil sie die Millionen, die den Rundfunk als „Musikberieselungsmaschine mißbrauchen, gar nicht erreichen werden), vor allem aber über die Probleme der modernen Musik, besonders ihrer theoretischen Grundlegung.

Hier wurde offenbar, daß in den schon 6eit Jahren geführten Diskussionen die Parteien deswegen so oft aneinander vorbeireden, weil diese Grundlagen noch viel zu wenig gefestigt sind: der eine versteht unter Tonalität die der klassischen Dreiklangharmonik, die er für überwunden hält, der andere meint, daß mit Wagners „Tristan“ die Grenzen der Tonalität schon erreicht und mit Debussy überschritten seien, während doch (wie ein deutscher Teilnehmer feststellte) das Wesen der Tonalität darin besteht, daß sie — unbeschadet aller Freiheit der Stile — die von der Natur gegebene Hierarchie der Konsonanzen der Oktave, Quinte usw. anerkennt, so wie 6ie seit zweitausend Jahren besteht und immer weiter ausgebaut wurde, während die grundsätzlich Atonalen sie bekanntlich ganz verwerfen. So gehören auf die Seite der „tonalen“ Musik der Gegenwart zum Beispiel Hindemith, Bai tök, Strawinsky, Honegger und viele andere — auf die andere „atonale“ Seite nur Schönberg und seine Schule. Die Kämpfe um diese Prinzipien werden natürlich nicht in akademischen Vorträgen, sondern auf dem Podium der Konzertsäle ausgetragen, aber eine leidenschaftslose Besinnung darüber könnte doch unendlich viel Nutzen stiften.

Es ist nicht möglich, hier auf die einzelnen Referate, die sehr ungleich an Wert waren, einzugehen, ebenso wie es verfehlt wäre, Von einem solchen Kongreß greifbare Ergebnisse zu verlangen. Seine Hauptbedeutung liegt darin, daß eine große Zahl von Persönlichkeiten des internationalen Musiklebens überhaupt zusammengerufen worden war, um sich — in Anwesenheit vieler interessierter Gäste, die auch vielfach in die Diskussion ein- griffen — über alle diese Fragen auszusprechen. Dies ermöglicht zu haben, ist das Verdienst des Präsidenten der Gesellschaft der Musikfreunde, Dr. A. FIryntschak, dem man dafür nicht genug dankbar sein kann. Wenn Goethe das Gespräch für das Edelste erklärt hat, was dem Menschen geschenkt 6ei — hier kam es zustande.

Wenn der Kongreß am letzten Tag noch eine Resolution formuliert hat, 60 mußte diese daher ganz allgemein gehalten 6ein; 6ie forderte die stärkere Einbeziehung der Musik als eines der wichtigsten Mittel zur internationalen Verständigung, Vertiefung der Musikerziehung (ein Thema, das nur in einigen wenigen Referaten behandelt wurde) und der Mu6ikpflege, vor allem aber eine Forte Setzung der begonnenen Arbeit. Die nächsten Kongresse sollen in anderen europäischen Städten stattfinden; ob aber da6 Ausland solche geradezu ideale Bedingungen und Voraussetzungen für ein Gelingen wird schaffen können wie Wien, bleibt fraglich.

Bei aller Anerkennung des Geleisteten bleiben noch einige Wünsche offen: von manchen allzu gleichgerichteten Referaten wäre mindestens eines entbehrlich gewesen, und bei der Diskussion um moderne Musik fehlte die praktische Hörbarmadvung völlig. Es erscheint fast unmöglich (auch vor einem Fachpublikum), in die Klang- und Formprobleme der Neuen Musik hineinzuleuchten, ohne sie tatsächlich zur Erscheinung zu bringen. Ein Schweizer Referat über Strawinsky zog wenigstens vervielfältigte Notenbeispiele zur Verdeutlichung heran, aber die Kluft zwischen der Wissenschaft der Musik, um die wir uns tagsüber bemühten, und ihrer künstlerischen Verwirklichung, die wir Abend für Abend beglückt erleben durften, war doch allzu groß. Arnold Schering hat vor fünfzig Jahren einmal auf die Verpflichtung der Musikwissenschaft der Gegenwart gegenüber nachdrücklich hinge- wlesen (er meinte, viele Forscher wüßten über irgendeinen Kleinmeister des 18. Jahrhunderts besser Bescheid als über den zweiten Akt .Tristan“), und heute ist durch die außerordentlich rasche Entwicklung der modernen Musik diese Kluft eher noch tiefer geworden.

Man muß es als eine unabdingbare Forderung an die Musikwissenschaft aufstellen, die theoretischen Grundlagen der modernen Musik nachzuprüfen, also etwa zu Hindemiths .Unterweisung im Tonsatz’, oder zu Eimerts .Lehrbuch der Zwölftonmusik“ kritisch und grundsätzlich Stellung zu nehmen, Wohl hat die Musikwissenschaft zu den Erschemungsformen der Neuen Musik ei ±i da und dort erklärend und erläuternd vernehmen lassen, aber es fehlen, wie auf diesem Kongreß wohl zum erstenmal mit aller Deutlichkeit ausgesprochen worden ist, noch die allgemein verbindlichen Begriffe, über die man sich vorher verständigen müßte. Auch diese Erkenntnis ist ein wichtiges, nur scheinbar negatives Ergebnis de6 Kongresses. Mit einer gemeinsamen Fahrt zu den Haydn-Gedenk- stätfen des Burgenlandes schloß der Kongreß. In bewegten Worten gab am letzten Tag Hans Joachim Moser dem Dank der ausländischen Teilnehmer Ausdruck, ein Dank, der sich nicht nur auf die alle Erwartungen übersteigende Herzlichkeit der Aufnahme bezog, sondern ebenso auf die vielen und wertvollen Anregungen, mit denen die Teilnehmer von Wien schieden.

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