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Probleme und Charakterköpfe

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Rom, im April 1954

Rund 200 Vertreter aus 25 Staaten hatte das Zentrum Europäischer Kultur in Genf für zwei Wochen nach Rom geladen, um in Referaten und freien Aussprachen ein Gesamtbild der zeitgenössischen Musik zu gewinnen und über ihre Förderung zu beraten. Neben zahlreichen berühmten Interpreten und bekannten Musikschriftstellern und Kritikern waren vor allem zahlreiche Komponisten, deren Werke im Rahmen von etwa einem Dutzend Konzerten aufgeführt wurden, dem Ruf gefolgt und verliehen durch ihre Anwesenheit und ihre lebhafte Beteiligung an den Debatten dieser eindrucksvollen Manifestation besondere Bedeutung. Das Gastland Italien, das ein Viertel der Kongreßteilnehmer stellte, war durch Malipiero, Petrassi, Dallapiccola, Nono und Peragallo vertreten. Aus Frankreich waren Milhaud, Auric, Ibert, Poulenc und Sauguet gekommen. Deutschland war durch Hartmann, Blacher, Henze und Klebe, Oesterreich durch Alexander von Spitzmüller,. Theodor Berger und Gottfried von Einem vertreten, die Schweiz durch Conrad Beck und Rolf Liebermann. Ferner waren der gebürtige Rumäne Roman Vlad und der Deutschrusse Wladimir Vogel anwesend, schließlich — als ungekrönter König dieses Festivals — der sich ganz im Hintergrund haltende und nur bei seinem Kompositionskonzert hervortretende Igor Strawinsky.

„Die Musik in der zeitgenössischen Gesellschaft" war das Thema des ersten Referates Roland-Manuel und Arbeitstages. . Die Frage nach dem Platz der Musik in unserer Gegenwart stellen müssen — heißt das nicht bereits die Schwäche und Problematik ihrer Position zugeben? Aber wenn es schon so ist, daß der durchschnittliche Musikfreund „mit den Ohren seines Großvaters“ hört und sich in dessen Gehrock Wohler fühlt als in der modernen Jacke, so mögenv sich wenigstens nicht der Schneider unS sein Kunde gegenseitig die Verantwortung an diesem Zustand zuschieben. Der „Modernisierungskomplex" ist nichts Neues in der Kunstgeschichte. Die Weiterentwicklung der Musik erfordert kühne Experimente und feinste Analysen in den Laboratorien, und man möge diese Arbeit in der Werkstatt nicht verachten.

Die zeitgenössische Musik — so argumentierte F. Goldbeck in seiner Untersuchung über A e s t h e- tik und Technik — ist viel weniger „zeitgenössisch" und „modern", als es etwa die Musik vor 100 Jahren war. Nicht einmal Extremisten sprechen von einer Ablösung der klassischen durch die’ moderne Kunst. Ihre’ Situation ist vielmehr durch die um sieben Jahrhunderte erweiterte Perspektive gekennzeichnet, ihre Aufgabe — die von den besten der Schaffenden klar erkannt wird — besteht in der Auseinandersetzung mit der wieder vergegenwärtigten Vergangenheit.

„M u s i k und Politik" erwies sich weniger als ein heikles, sondern vielmehr als ein undankbares und wenig ergiebiges Thema, da der zweite Begriff schwer zu fixieren ist. Natürlich lehnte man einmütig Kunst, die zu politischen Propagandazwecken nvßbraucht wird, ab. Aber gibt es nicht auch Werke, die einer politischen Ueberzeugung, ja einer Kampfstellung des Künstlers ihr Entstehen verdanken? Anderseits: darf sich der Künstler in den elfenbeinernen Turm zurückziehen, oder ist er seiner Gesellschaft verpflichtet? Der bekannte deutsche Kritiker H. H. Stuckenschmidt plädierte sehr entschieden für den „elfenbeinernen Turm und fand in Fedele d’Amico einen ebenso überzeugten wie redegewandten Gegner. Leider war keiner von den zehn Komponisten anwesend, die aus jenen Staaten zum Kongreß geladen waren, die für sich das Recht in Anspruch nehmen, Kunstgesetze zu erlassen unter anderen waren Kabalewsky, Schostakowitsch, Gha- tschaturian, der Ungar Kodaly und der Pole Panuf- nik zur Teilnahme aufgefordert worden, so daß diese grundlegende These des Kongresses unwidersprochen blieb.

Dasselbe Thema wurde in dem Referat Roman Vlads über „Komponist, Interpret und Publikum" nochmals angeschlagen. Im schöpferischen Moment kann der Künstler gar nichts tun, um dem Publikum näher zu kommen, er darf nur an sein Werk denken und wie er sich darin zum Ausdruck bringt. Nur ganz spontan kann, was er erstrebt, mit dem Geschmack des Publikums zu- satnmenfallen; oft muß er der Gesellschaft ‘gerade das, was sie von ihm erwartet, verweigern, um seiner wahren Verpflichtung eben dieser Gesellschaft gegenüber treu zu bleiben.

Henri Sauguet sieht die Schwierigkeiten, mit denen heute die Oper kämpft, nicht im Mangel schöpferischer Kräfte deren es zahlreiche und vielfältige gibt, sondern in technischen, organisatorischen und finanziellen Problemen, die gelöst werden müssen. Der große und kostspielige Apparat, den manche modernen Werke erfordern, das Absetzen nach der zweiten oder dritten Aufführung, die allzu konservative Spielplangestaltung, die teuren Wanderstars, die jede Ensemblebildung verhindern: hier liegen die wirklichen Gefahren für die Zukunft der Oper.

Ueber das Verhältnis des Komponisten zum Kritiker sprach schließlich der Amerikaner Virgil Thomson aus einer jahrzehntelangen Praxis als Komponist und Journalist; er wurde durch den Deutschen H. Strobel ergänzt, der die Verdienste unterstrich, die sich zahlreiche mutige und verantwortungsbewußte Kritiker um die neue Musik erworben. haben.

Bei vielen Debatten war es weniger das Was als das Wie, das interessierte, sowie der Sprecher, von dem diese oder jene These verfochten wurde. Die knappe Zeit nötigte zu scharfen, pointierten Formulierungen und verbot jedes Abgleiten ins Fachsimpeln und in nebensächliche Details. Besonders eindrucksvoll, ja unvergeßlich etwa, was der schwerkranke Darius Milhaud, der sich nur mit Hilfe von Stöcken fortbewegen kann und der seine 5. Symphonie im Studio der RAI sitzend dirigierte, über die Einsamkeit des Künstlers sagte, der nur sich und seinem Werk verantwortlich ist und der vor allem zwei Dinge haben müsse: Geduld und Ehrfurcht. Oft scheinbar geistesabwesend, aber von Zeit zu Zeit energisch in die Debatten eingreifend, beherrschte Francesco Malipiero schon durch seine Anwesenheit und den weißhaarigen Charakterkopf manche turbulente Debatte. — Der junge Rumäne Roman Vlad, der italienisch nicht nur wie seine Muttersprache, sondern auch mit ‘Virtuosität spricht, glänzte als Rhetor, während Yvonne Lefebure freundliche Bosheiten nach allen Seiten verabreichte. F. Goldbeck, einer der Helfer und Organisatoren des Kongresses, verstand es, die Körner aus den Diskussionen aufzupicken und aneinanderzureihen und manchmal glänzten sie dann wie echte Perlen, während Nicolas Nabo- k o v die Gespräche geschickt dahin — und zuweilen auch zu jenen Zielen — zu lenken wußte, wo er sie haben wollte.

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