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Bekenntnis zur europäischen Musik

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Sprechen wir es doch einmal ganz offen aus: Wir leben in einer Zeit der Neoismen, und das scheint — ich sage: scheint — das Malheur der europäischen Musik bis herein in unsere Tage. Die einen schreiben Neoklassizismus (Beispiel: Strawinsky — „Persephone“), andere Neoveris-mus (Menotti — „Der Konsul“) oder Neoimpres-sionismus (Martin — Violinkonzert), und auch eine Neoromantik gibt es (Hindemith — Neufassung des „Cardillac“). Das hört sich aber schlimmer an, als es in Wirklichkeit ist. Das Grundübel liegt in der Meinung, man müsse jeder Richtung sofort einen möglichst wirksamen Namen geben und jedes Experiment wiederum müsse sofort zu einer bedeutsamen, neuen Richtung gestempelt werden. Auch wollen viele immer noch nicht glauben, daß wir uns in einem Interregnum befinden und schon deshalb keine einheitliche Richtung haben können. Das begann schon in der Wilhelminischen Zeit und gipfelte in den Stilentgleisungen des Nationalsozialismus. Der Volksmund trifft gar oft den Nagel auf den Kopf, und so nannten die Münchner das „Haus der Deutschen Kunst“ schon kurz nach seiner Entstehung den „Bahnhof Athen“. Da haben wir das ganze Malheur — ein Teil — moderner Bahnhofstil, ein'' anderer Teil — Akropolis! Aber das Bild hat sich schon wesentlich verändert: die so häufig zitierte Dekadenz unseres Erdteils wird reingewaschen von den Schöpfungen neuer, unübersehbarer Männer, und ich glaube, daß wir drauf und dran sind, uns vom Ende des Interregnums auf eine bedeutende Epoche hin zu bewegen.

Das will — so meine ich — begründet sein. Es begann mit einer Musikerpersönlichkeit ersten Ranges — mit Bela Bartök. in ihm erlebte die Musik ihre ausschlaggebende Erneuerung. Die Tonkonstruktion, der Intellekt verband sich mit einem Musikantentum von elementarer Kraft und Vitalität. So kam es, daß, während sich Westeuropa in Geist-reicheleien gefiel, vom Osten her etwas Ursprüngliches, Unwiderstehliches zum Triumphzug antrat. Bedenkt man dabei, daß sich die Musik des Ostens erst Weltgeltung verschaffte, als sich Mitteleuropa schon in Barock und Klassik verausgabt hatte, so ist es nicht verwunderlich, daß Osteuropa unverbraucht in das musikalische Geschehen eingreifen konnte. Strawinsky, Bartök, Martinu, Prokofieff, Schostakowitsch, sie alle sind mitbestimmend für das Musikprofil unserer Zeit. Im Westen mußte man zunächst einmal — und daraus resultieren die vielen Neoismen — den Anschluß an die Tradition finden und tätigen. So sind es in Italien der beinahe schon klassische Altmeister Malipiero, in der Schweiz Honegger, i“ Frankreich Milhaud, die in ihrem Altersstil alle avantgardistischen Ecken abgeschliffen und der Ueberlieferung die Hand zur Versöhnung entgegengestreckt haben. Für das europäische Rußland tat dies Strawinsky in seiner Wahlheimat Amerika, für Deutschland der in Zürich lehrende und ansässige Paul Hindemith. Man denke an die letzte Oper Strawinskys: „The Rake's Pro-gress“, in der sich der Meister auf Mozart und Rossini beginnt, und man denke an die vielen

Neulassungen Hinäemlth's, cfie einer Wiederannäherung an die Ausdruckswelt der deutschen Romantik dienlich sein wollen. So also ist Europa auf dem Weg, eine Abrundung der Gegensätze zu schaffen, und aus dieser Abrundung heraus wachsen die neuen Wegbahner, die, insbesondere in Deutschland, Beachtung verdienen.

Doch zunächst noch einige Worte zu einem anderen Thema: Vielfach konnte man hören, eine Neubelebung der europäischen Musik müsse von außen kommen, Europa selbst sei erschöpft. Wir werden dies widerlegen, aber zuerst wollen wir uns mit dieser Möglichkeit auseinandersetzen. Der Orient schenkte keine entscheidende, neue Bereicherung. Schon in der „Aida“ wird damit sympathisiert, und in vielen Werken der Musikliteratur finden wir Anklänge an die Instrumentation, das Kolorit und die Rhythmik des Orients. Ebenso steht es mit musikalischen Streifzügen nach Asien. Tschaikowsky schon befaßte sich damit, die „Butterfly“ spiegelt asiatische Atmosphäre, und in den „Bildern einer Ausstellung“ von Modest Moussorgsky, kongenial instrumentiert von Ravel, finden wir ein echt empfundenes Asien. Spanisches verlieh dem Impressionismus lange Zeit sein Temperament in de Falla, Lalo und Ravel, und wenn auch Spanien noch ein Teil Europa ist, so ist es doch Grenze, wie etwa das Rußland Chatschaturians. Aber all diese Anlehnungen verliefen ohne nachhaltigen Einfluß. Wie nun steht es mit Amerika? „Unsere neue Musik“ nennt der amerikanische Komponist Aaron Copland ein Buch über die modernen Amerikaner. Als repräsentative Vertreter seines Kontinents zählt er darin auf: Charles Ives, Roy Harris, Roger Sessions, Walter Piston, Virgil Thomson und Marc Blitzstein. Sieht man in die Partituren dieser Männer hinein, ist man oft enttäuscht. Die einen kokettieren mit der deutschen Spätromantik, andere mit Debussy, viele setzen das Virtuosentum Rachmaninoffs fort, und der Rest scheint zu singen: „Machen wir's dem Gershwin nach.“ In Wirklichkeit lebt Amerikas Musik von eingewanderten Größen Europas, und es ist deshalb völlig unmotiviert, von einer eigenlebigen amerikanischen Musik zu sprechen. Ernster zu nehmen ist dahingegen der Jazz. Nicht wie wir ihn von Tanzkapellen her kennen, nicht wie man ihn in New-Yorker Bars spielt, sondern in seiner kultischen Ursprünglichkeit und mit seiner Kunst der freien Improvisation. Hier bestehen auch Möglichkeiten, der europäischen Musik Neuland zu erschließen. Es werden aber und müssen Anregungen bleiben, es wird einer oder der andere Komponist dies oder jenes interessant finden, aber letztlich wird er europäische Musik machen, Musik auf der Basis einer Tradition von Jahrhunderten, geläutert durch unzählige Stilepochen, Weltanschauungen und Ideologien, mitbestimmt durch eine sich ewig wandelnde Völkergeschichte. Immer wird der Geist ein Wörtchen mitreden, eine metaphysische Hintergründigkeit wird zu spüren sein, und Revolutionen werden von Gegenrevolutionen abgelöst werden. Europa von außen her neu beleben zu wollen, hieße soviel, wie einen Kranken dadurch heilen wollen, daß man ihn in die Gesellschaft Gesunder bringt. Nein, der Kranke muß aus sich selbst heraus, zu neuer Vitalität erwachen und damit alle Abwehrstoffe des Körpers mobil machen, um frische Kräfte zu erzeugen.

Solch frische Kräfte sind bereits vorhanden. In Italien sind das in erster Linie Dallapiccola und Nono, in Frankreich Boulez und Messiaen, in der Schweiz Liebermann und Sutermeister, in England Britten, in Oesterreich von Einem und Berger, in Deutschland Hartmann, Orff, Egk, Fortner, Henze, Blacher und andere.

Oswald Spenglers berühmtes Werk nennt sich „Der Untergang des Abendlandes“, aber es ist sein Abendland, das untergeht oder gar schon untergegangen ist, das Abendland aus der Perspektive einer sterbenden Kulturepoche. Das Abendland selbst aber lebt, lebt über Stile und Gegensätze hinweg — das alte Europa ist tot, es lebe und wirke ein neues!

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