6536672-1946_19_10.jpg
Digital In Arbeit

Neue russische Kammermusik

Werbung
Werbung
Werbung

Eine „russische Schule“ gibt es — wenn wir vom Altmeister der historischen Oper, Glinka, absehen ;— seit Tschaikcwki und Rubinstein. Beiden schwebte als Ideal eine Verschmelzung der Ausdruckswerte der. russischen Volksmusik mit der westeuropäischen Tonsprache vor. Sie waren auch die.ersten, die der russischen Musik Weltgeltung verschafft haben. Unter . ihren.. NadiJolgern zeigte sich aber bald ein. Gegensatz zwischen nationalen und internationalen Strömungen, der in den beiden sich in der Folgezeit bildenden Schulen, der Moskauer und der Leningrader, im Sinne, eines Obergewichts des nationalen, volksgcbundenen Stiles, entschieden wurde.

In der Moskauer Schule, der heute die Komponisten der mittleren und jüngeren Generation wie Mjaskowski, Glier„Schebalin, Chatschaturian und andere angehören, ist der Einfluß der klassischen Meister stärker spürbar als bei dem L e n in g.r a d e r Komponisten kreis, der das Erbe von Glink'a, Rymski-Korssakow, Glasunöw, Borodin und Mussorgski angetreten hat. Hier begründete Balakirew das „mächtige Häuflein“ (eine ähnliche Gruppe, wie die der „Six“ in Frankreich), das vor allem die national-russische Note betonte. Die Schüler dieser Meister zeigen sich aber audi westeuropäischen Einflüssen aufgeschlossen, was man sowohl in dm Werken der Älteren (Rachmaninow und Prokofieff) als auch bei den Jüngeren (Schostakowitsch, Tscherbe-schew Und Kobalewski) feststellen kann.

Eigenartig ist die Rolle, die der I m p r.cj-s i-o n i s m u s bei den neueren russischen Komponisten spielt. Für Westeuropa bedeutete er — als die letzte, fest abgrenzbare Bewegung — die Ablaufphase der Romantik und ihre letzte Verfeinerung In der russischen Musik dagegen wird er über Debussy hinaus weiterentwickelt,'' löst gebundene Kräfte und verschmilzt mit autochthonen Strebungen. Die elementaren Kräfte eines unverbrauchten Volkstums wirken als Gegengewicht gegen dje impressionistisdie 'Auflösung, wie man es am deutlichsten vielleicht an Mussorgskis „Boris Godunow“ verfolgen vkann, der in impressionistischer Art. eine .lose, verknüpfte Folge, von. farbigen Bildern - aus. der wssisdien Gesdiichte. und dem russischen-Leben..aneinanderreiht, ohne daß man jedoch den Eindruck des.Zerfließens des Ganzen .oder der. Teile hätte......

Während früher in Rußland die; Kammermusik mehr als Anhängsel der großen symphonischen Werke galt und nur von einem kleinen Kreise gepflegt wurde, nimmt sie heute sowohl im Schaffen der Komponisten als auch in den Konzerten, einen breiten Raum ein. Dies ist unter anderem dem Einfluß M j a s ko w s k i s (geb. 1831) zu danken, der das.Erbe. Tschaikowskis und Tanejews antrat und. — als Kompösitions-lehrer am Moskauer.. Konservatorium — eine ganze Generation von Schülern in der Liebe zur klassischen Kammermusik erzogen hat. Er nimmt als schaffender Künstler von Format und hochärigesehener Musikpädagoge in der neuen russischen Musik eine ähnliche Stellung ein wie Faure in Fränkrexh oder Joseph Marx bei uns. Mjaskowski produziert mit großer Leichtigkeit und hat unter anderem drei Quartette, KTaviersonaten, eine Cellösonäte und zahlreiche Lieder geschrieben. . .' .- •.. \ • ■ . - - ■

Eine markante Musikerpersönlichkeit, deren Ruhm weit über die Grenzen der Sowjetunion hinausreicht, ist der 1891 geborene P r o k 0 f i e ff, .der sich lange Jahre in Amerika aufgehalten hat und dessen Werke sich dort besonderer Beliebtheit erfreuen. Sein Jebhaftes Temperament wird von einem stets wachen Kunstverstand, von einer überlegenen Intelligenz ständig kontrolliert und im Zaum gehalten. Das verleiht seinen Kompositionen einen besonderen Reiz. Neben Symphonien, Opern und Balletten schrieb. Prokofieff zwei Quartette, acht Klaviersonaten und andere Kammermusikwerke. Seine Siebente Klaviersonate, op. 83, wurde im Jahre 1944 in New York uraufgeführt und mit dem höchsten russi-sdien Staatspreis ausgezeichnet. Prokofieff ist vor allem der Meister motorisch bewegter Ecksätze. Aber auch der lyrische, langsame Teil gelingt ihm gut, so zum Beispiel.in dem Andante caldoroso seiner Siebenten Sonate, wo er fast Chopin-Töne anschlägt, ohne auch nur* einen Augenblick ins Romantisdi-Sentimentale abzugleiten.

Der um zehn Jahre ältere Strawinski, der gegenwärtig in Amerika lebt und von dessen Werken die europäische Musik der letzten Jahrzehnte stärkte rhythmische Impulse empfangen hat, braucht in diesem Zusammenhang nicht erläutert zu werden: sein Werk ist schon ;fast klassisch geworden und sein Name wird überall dort ehrenvoll erwähnt, wo von neuer Musik die Rede ist.

Zwischen den Generationen und zwischen den Stilen steht der 1902 geborene S c h e-b a 1 i n, Schüler Mjaskowskis und seit 1942 Direktor des Moskauer Konservatoriums. Er hat ein umfangreiches kammermusikalisches Opus geschaffen, unter anderem eine Sonate für Violine und Bratsche, in der er sich als bedeutender technischer Könner erweist, und ein Streichquartett op. 33 nach slawischen Themen — eine gefällige und geschmackvolle Komposition.

Auch das Liedschaffen erfreut sich eifriger Pflege. Von Gretschaninoffs ergreifenden „Sträflingen“ (nach A. Tolstoi) und seinem anmutigen Kinderliederzyklus nach Volksgediditen und von Mussorgskis „Liedern aus der, Kinderstube“ führt eine ununterbrochene Reihe zu den Puschkin-

Vertonungen Schostakowitsch“. Und damit haben wir den Namen genannt, der der Stolz der Sowjetmusik und eine große

Hoffnung des europäischen Musiklebens ist.

Dimitrij Schostakowitsch, 1916 geboren, schrieb mit 17 Jahren seine erste Symphonie und, hat heute die heilige Neunzahl bereits um eine überschritten. Schostakowitsch hat eine ausgezeichnete Sdiule absolviert und kann sehr viel, ohne mit seiner Technik zu prunken; er ist ein ausgezeichneter Instrumentator, aber er ist nicht auf Effekte ,aus, er ist originell ohne zu experimentieren; und er versteht es, dankbare Soloparts zu schreiben, ohne dem Nur-Virtuosen Zugeständnisse zu machen. Stilistisch ist Schostakowitsch nicht einzuordnen, auch nicht in eine der beiden russischen Schulen Bezeichnenderweise war er Schüler des „Leningraders“ Glasunow und des „Moskauers“ Mjaskowski. Außer den bereits erwähnten zehn Symphonien schrieb Schostakowitsch zwei Opern, zwei Ballette und an Kammermusik zwei Quartette, ein Klavierquintett, ein Trio, zwei Sonaten, 24 Klavierpräludien und Lieder. Er kennt so ziemlich alle Stile und Errungenschaften der europäischen Musik der letzten 50 Jahre und hat sich keiner Richtung verschrieben. Seiner starken Künstlerpdrsönlichkeit gelingt es, die disparatesten Elemente zur Einheit zu binden, wofür sein zweites Streichquartett op. 69, Nr. 2. als Beispiel herangezogen sei. Der erste Satz ist musikantisch, formal geschlossen und bringt prägnant- Themen in geistvoller Verarbeitung Da Adagio erneuert auf originelle Art die alte Form des Rezitativs. Eine Valse-Allegretto steht als Scherzo ohne jene karikaturistischen Effekte, die seit Mahler? Walzer-Scherzi Mode geworden sind, in impressionistisdie Farben getaucht, con sordino dahinhuschend. Ein Variationensatz, mit einem ausdrucksvollen Adagio beginnend und ein Thema symphonischen Charakters im Brucknerstil phantasievoll variierend, schließt das Werk ab.

Es wäre noch eine Reihe von Komponisten zu nennen, deren Werke Wien hoffentlich bald kennenlernen wird und die erst ein vollständiges Bild aer neuen“ russischen Musik geben würden. Die hier bei sprochenen Kompositionen wurden uns in drei von der ,.Gesellschaft zur Pflege der kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen zur Sowjet-Union“ veranstalteten Kammermusikkonzerten vorgestellt, bei denen die genannten Werke in sehr guten Ausführungen dargeboten wurden.

Absdiließend muß noch hervorgehoben werden, daß das konzertante un4 virtuose Element in manchen der neuen russ'schen Kammermusikwerke stark betont wird. Man schreibt also — im Untersdiied zu manchen unserer , modernen Komponisten — nicht gegen, sondern für ein Instrument oder eine Singstimme. Auch kann man im allgemeinen feststellen, daß geschlossene Formen, klare Linien und Klangschönheit angestrebt werden. Uber das Stad um des Experimentierens ist manA hinaus und hat eine ganze Reihe überzeugender Lösungen gefunden. Die neue russische Kammermusik ist modern, fortschrittlich und zugleidi volkstümlich — im Sinne von allgemeinverständlich. Das kommt in erster Linie daher, daß man nicht viel theoretisiert, sondern auf der Basis einer unverbrauchten und lebendigen Folklore musiziert, die die Schaffenden, die Aasführenden und das Publikum verbindet.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung