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Die Polen in Venedig

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Als das Kammerorchester der Krakauer Philharmonie zur XXIV. Biennale für zeitgenössische Musik nach Venedig kam, war die Sensation dieses Musikfestes vorüber und, nach dem Schock, den Luigi Nonos Oper „Intolle- ranza 1960“ ausgelöst hatte, die Atmosphäre schon wieder entspannt. (Wir berichten hierüber sowie über das Gesamtprogramm und die Problematik der venezianischen Musikfeste auf einer unserer nächsten Kunstsonderseiten). Höchstwahrscheinlich wäre zu einem anderen, früheren Zeitpunkt die Begegnung mit den Kra- kauern erregender, das Interesse lebhafter gewesen. Denn seit vielen Jahren kam zum ersten Mal ein größeres polnisches Ensemble nach Italien. Und es kam mit einem Programm, das alle Achtung und Aufmerksamkeit verdient.

Unter der Leitung von Andrzej Markowski, der als Pionier und als einer der besten Interpreten zeitgenössischer Musik in Polen gilt, präsentierte sich das Orkiestra Kameralna Philhar- monii Krakowskeij in zwei Konzerten mit einem Riesenprogramm. Nicht weniger als 19 Werke wurden in zwei Konzerten in einem der schönsten Opernhäuser Europas, im Teatro La F e n i c e, aufgeführt. Von den acht polnischen Werken stammte eines, ein „A v e Regina Coeloru m“, aus dem 18. Jahrhundert, und zwei Stücke von Adam Jarzebski aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Die übrigen polnischen Komponisten sind Zeitgenossen, meist jüngeren Jahrgängen angehörend. Mit fünf Werken huldigte man dem Gastland Italien, und mit drei Stücken der europäischen Moderne, jener Wiener Schule, die auch auf die jungen polnischen Komponisten den größten Einfluß ausübt.

Gewissermaßen als Motto stand am Beginn des ersten Konzerts des Krakauer Kammerorchesters ein Stück von Edgar V a r e s e, dem gegenwärtig in Amerika lebenden, früher in Paris beheimateten Weltbürger, der zu den kühnsten Pionieren der Moderne gehört. Und in der Tat hat sein „Octandre“ aus dem Jahre 1924 für sieben Bläser und Kontrabaß nichts von seinem revolutionären Elan, der Härte seiner Kontur und der Sprengkraft seiner dynamischen Energie eingebüßt. — Ebenso programmatisch war die Aufnahme In die Spielfolge der Krakauer eines aus dem Nachlaß herausgegebenen frühen Schönberg -Werkes, der aus dem Jahre 191C stammenden „Drei kleinen Stücke füi Kammerorchester“ (die insgesamt drei Minuten dauern) sowie zweier Werke vor Webern: der fünf Orchesterstücke op. 10 sowie der Instrumentation einei sechsstimmigen, Fuge aus J. S. Bachs „Musikalischem Opfer", einem herrlicher Stück Musik, das in der ebenso feinfühligen wie eigenwilligen Orchestrierung Weberns einen solchen Zauber ausstrahlt daß manches Zeitgenössische davon einen Schlagschatten empfing.

Dabei fehlt es den Polen nicht an Talenten, die alle, ausnahmslos — vom jüngsten der aufgeführten Komponisten, dem 1933 geborenen Krzysztof Penderecki, bis zum ältesten, dem international bekannten Witold Lutoslawski, Jahrgang 1913 — an den Meistern der Neuer Wiener Schule orientiert sind. Sie alle: Kotonski, Haubenstock- Ra m a t i, L u c i u c, die poetische Grazyna B a c e w i c z sowie die beider eben Genannten (Penderecki und Lutoslawski) sprechen den Zwölftondialekt mit erstaunlicher Geläufigkeit. Diese Sprache scheint in Polen so allgemein „verbindlich“ zu sein, daß auch ältere Komponisten, die früher anders geschrieben haben, gegenwärtig auf Dodekaphonik umschalten Damit befinden sich die Polen, wie aul dem Gebiet der Nachbarkünste, in offensichtlichem Gegensatz zu anderen östlichen Ländern, speziell zur UdSSR, wo — wie vor kurzem bei einer Pressekonferenz dei bekannte russische Dirigent Mrawinski und einige Wochen später der Sowjetkomponist Chatschaturjan übereinstimmend versichert haben — „für dodekaphonische Musik nur geringes Interesse besteht“.

Man weiß von dieser Entwicklung schon seit einigen Jahren, vor allem durch die jeweils im Herbst stattfindenden Internationalen Musikfeste in Warschau, deren Programme sich kaum von denen westeuropäischer Musikfestivals unterscheiden. Hier, in Venedig, konnte man sich davon überzeugen, daß auch die polnischen Orchestermusiker als Interpreten mit diesen anspruchsvollen und vertrackten Partituren umzugehen wissen, als sei es ihr „tägliches Brot“.

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