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An der Grenze des Fruchtlandes

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Gemeinsam mit der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik veranstaltete die Konzerthausgesellschaft einen Abend im vollbesetzten Mozartsaal, an dem eine Symphonie von Anton von W e- b e r n, Karlheinz Stockhausens Kontra-Punkte und „Le Marteau sans Maitre“ von Pierre B o u 1 e z auf geführt wurden: drei der kühnsten und neuartigsten Werke der europäischen Avantgarde. Am Ende des ersten Programmteils standen Debussys „Danses“ für Harfe und Streichorchester: ein Bekenntnis zu jenem Meister, mit dem die Neue Musik begonnen hat. Pierre B o u 1 e z, SOjährig, Sohn französischer Bauern, ehemaliger Student der höheren Mathematik und des Polytechnikums, wurde als Musiker zunächst von der fernöstlichen Klangwelt beeindruckt. Seinem Lehrer Messiaen dankt er viele Anregungen, vor allem die „rhythmische Unruhe", welche ihn seither nicht mehr verließ. Renė Leibo- witz führte ihn in die hohe Schule der Dodeka- phonik ein, und in Webems Klangfarbenmelodie fand Boulez einiges von dem verwirklicht, was ihm als ars nova vorschwebte. Zu leisten war noch die konsequente Durchorganisation auch der rhythmischen und dynamischen Werte. So kam Boulez zu seiner Tonsprache, und soweit kann man seine Musik „erklären". Ihr Wesen hat ein Freund des Komponisten treffend beschrieben: sie sei, meint er, „raffiniert und brutal, hypersensibel und kühn, fiebrig, abe r streng organisiert, einheitlich, faszinierend und genau" — wie unsere Zeit. Messiaen hat seinen eigenwilligen Schüler, dessen Talent er bald erkannte, in einer Rede gefeiert, in der er u. a. sagte: „Vielleicht fehlen ihm noch die großen Stimmen der Natur: die Bäume, die Vögel, die Wasserquellen und jenes wunderbare Rauschen, bei dem jeder Musiker in die Lehre gehen sollte." Boulez ist noch jung, vielleicht wird er auch noch diese Töne finden. Die Komposition, die wir hörten, heißt „Le Marteau sans Maitre“, ist für Altstimme, Gitarre, Xylophon, Vibraphon, Bratsche, Flöte und Schlagwerk geschrieben, hat neun kurze Sätze und dauert etwa eine halbe Stunde. (Die Singstimme, in meist großen Intervallen surreale Verse von Renė Char rezitierend, tritt nur in vier Stücken hervor.) Was sich innerhalb dieser 30 Minuten musikalisch ereignet, ist von so extremer Neuartigkeit, daß man es schwer beschreiben kann.

Form, Struktur, Rhythmus im herkömmlichen Sinn gelten nicht mehr. Und doch ist da eine Kraft vorhanden, die das Ganze zusammenhält, eine Kunstgesinnung von unbedingter Ehrlichkeit, ja, so paradox es scheinen mag: ein Vollbjutmusiker am Werk. Vor den Taten dieser kühnen Pioniere (in deren vorderster Linie auch Stockhausen steht), die sich’s bei ihrer Begabung hätten leichter machen und musikalisch hätten „richten" können, sind Angriffe und Witze, wie sie in einigen Wiener Tagesblättern zu lesen waren, fehl am Platz. Wir wissen nicht, ob dies die „Musik der Zukunft" ist. Wir müssen aber dem strengen Bemühen nachweislich hochtalentierter Jugend Achtung erweisen. Wenn nicht durch Verständnis, dann zumindest durch Schweigen. (Ausführende des „Marteau sans Maitre“ war ein aus Paris gekommenes Ensemble, das von Pierre Boulez dirigiert wurde; die übrigen Werke des Programms spielten Mitglieder des Kammerorchesters der Kon- zerthausgesellschaft.)

Wie unblutig, harmlos und übersichtlich waren dagegen die „Revolutionen“ vor 25 oder 50 Jahren! Man wurde zu Vergleichen herausgefordert in einem Konzert Hermann Scherchens, der Strawin- skys „P e t r u s c h k a“-Suite von 1911 und Ra- vels Klavierkonzert von 1931 (mit dem Orchester der Symphoniker und Walter Klien als Solisten) aufführte. Dort, bei Strawinsky, einige polytonale Stellen, harmonische und klangliche Härten, ein paar unregelmäßige Rhythmen und die Grelle des Jahrmarktbetriebes; hier, bei Ravel, eine diskrete Beimischung von Jazzelementen und eine ebenso diskrete Chopin-Parodie im langsamen Satz: das genügte für die „Revolution“ von damals, obwohl diese Neuerungen und Reformen sich durchaus im Gebiet des bekannten „Fruchtlandes" der Musik abspielten. Heute werden an den Hörer ganz andere Anforderungen gestellt (siehe oben). Mögen vor ihnen wenigstens die „Fachleute“ nicht versagen. Wer sich eingehend mit den Problemen der neuesten Musik beschäftigen will, sei auf die in der Universal-Edition erschienenen Schriften der „Reihe“ I und II über Elektronische Musik und über das Werk Anton von Webems verwiesen. Im zweiten Heft findet sich auch eine Studie von Boulez, deren Titel wir über dieses Referat gesetzt haben.

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