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Schweizer Gast am Dirigentenpult

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Der Name Hermann Scherchen ist mit der Entwicklung der neuen Musik aufs engste verbunden. Scherchen gehört zu jener kleinen Gruppe von Dirigenten, die nicht nur gelegentlich auf ihre Konzertprogramme ein zeitgenössisches Werk setzen, sondern die das Schaffen der lebenden Komponisten ernst nehmen und sich unermüdlich dafür einsetzen. Die Aufführung eines „Modernen“ zwischen 1920 und 1933 (in diese Zeit fällt die regste Tätigkeit Scherchens) war in der Tat fast jedesmal ein „Einsatz“, denn wie noch nie zuvor hatte die Avantgarde der neuen Musik zwischen sich und dem Publikum einen luftleeren Raum geschaffen, der sich immer mehr zu erweitern drohte. Erfolg oder Mißerfolg eines neuen Werkes schienen Scherchen kaum zu interessieren. Mit der gewissenhaften Einstudierung und Aufführung hielt er seine Aufgabe für erfüllt. Ein Komponist, der Scherchen ein Opus zur Uraufführung anvertraute, konnte überzeugt sein, daß sein Werk in sicheren Händen ist. Wie manche Dirigenten die Fähigkeit haben, klassisdie Musik so lebendig zu dirigieren, als sei es zeitgenössische, — so ist es Scherchens Ehrgeiz, moderne Werke mit der gleichen Sorgfalt darzubieten, als seien sie bereits klassisch und allgemein anerkannt.

Manches von dem, wofür sich Hermann Scherchen einsetzte, konnte sich nicht behaupten. Aber wie vielen anderen Kompositionen, die bis 1933, bei uns bis 1938, zum festen Bestand eines fortschrittlichen Konzertrepertoires gehörten, hat Scherchen den Weg bereitet! Als die Reichskulturkammer diese Werke verbot und ihre Schöpfer ins Ausland verwies, verließ auch Scherdien Deutschland und ging ins neutrale Ausland — in die Schweiz, wo er früher einmal als Leiter des Collegium musicum in Winterthur tätig gewesen war. Hier konnte er hoffen, der neuen Musik weiterhin ungehindert dienen zu dürfen. Auch kl Wien hat Hermann Scherchen, besonders zwischen 1933 und 1938, wiederholt dirigiert. So trat er nicht als Fremder mit den Symphonikern vor das Wiener Publikum und schenkte uns einen der anregendsten Konzertabende dieser Spielzeit.

Mit einer in jeder Hinsicht vollkommenen Wiedergabe von Haydns Militärsymphonie wurde das Konzert eingeleitet. Bei diesem Werk erwies sich Scherchen als ausgezeichneter Orchesterpädagoge, dem es nach wenigen Proben gelang, das Orchester der Wiener Symphonfker zu einer Leistung zu führen, die es in die Reihe der besten Klangkörper stellt.

Mehr experimentellen Charakter hatte die Aufführung von Darius Milhauds Chor „A uf den Tod eines Tyrann n e n“. Der einem spätrömischen Geschichtswerk entnommene Text bezieht sidi auf den Tod des Tyrannen Comodus und hat unverkennbar aktuellen Bezug. Milhaud ist ein ebenso origineller wie in der Wahl der Mittel unbedenklicher Komponist. Zu einem kjeinen Chor, der den Text teils sprechchor-mäßig rezitiert, teils parlando singt, treten als Begleitinstrumente einige Bläser und ein großer Schlagwerkapparat. Exotische Harmonik und Melodieführung sowie die mo-noman-rythmischen Wiederholungen geben dem Stück das eigentümliche Gepräge und stellen es außerhalb der abendländischen Musiktradition. Es war eine jener extremmodernen Kompositionen, wie sie eben nur ein Scherchen seinem Publikum zumuten kann.

Im Mittelpunkt des Konzerts stand Alban Bergs letztes Werk, das V i o 1 i n-konzert, dessen Uraufführung Scherdien beim internationalen Musikfest in Barcelona geleitet hat. Das 1935 entstandene Werk des österreichischen Meisters ist in doppelter Hinsicht als ein Requiem zu betrachten: es ist dem Andenken eines mit 18 Jahren gestorbenen Mädchens gewidmet und ist zugleich der Abschied seines Schöpfers von der Musik, vom Leben. Trauer, Schmerz und Klage bestimmen seinen Grundcharakter. Das von Tibor Varga mit Musikalität und Verständnis gespielte Konzert ist sehr kompliziert, kann beim ersten Hören unmöglich ganz erfaßt werden und hinterläßt doch, besonders mit seinem letzten Teil, einen tiefen Eindruck. Dem Schlußsatz liegt die Melodie eines Bachschen Chorals zugrunde: „Es ist genug! — Herr, wenn es dir gefällt, — so spanne mich doch aus! — Mein Jesus kommt: Nun gute Nacht, o Welt! — Ich fahr ins Himmelshaus. — Ich fahre sicher hin mit Frieden, — Mein großer Jammer bleibt darnieden. — Es ist genug! Es ist genug!“ Der Bachsche Choral erscheint hier in den vielfach gebrochenen Harmonien des modernen Musikers, wirkt aber durchaus nicht verzerrt, sondern leidvoll-ergreifend.

Auch Verdis „Tedeu m“ aus den Quattro pezzi sacri ist ein Abschiedswerk. Aber wieviel sdilichter und zugleich klangvoller, harmonischer ist dieser Abschied vom Leben! Sehr verinnerlichte Stellen wechseln mit wirkungsvollen, sich großartig steigernden Chorsätzen, die an Verdis beste Opernzeit gemahnen und in denen der Sl lats-opernchor sich glanzvoll bewähren konnte. Nicht weniger der Dirigent, der sich mdk als überlegener Meister eines großen Aufführungsapparats erwies.

So war dies Konzert ein echter Scherchen-Abend: originell in der Zusammenstellung des auf den ersten Blick durchaus Disparaten und reich an Anregungen für Musiker und Musikfreunde.

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