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MUSIKSTADT PRAG — HEUTE

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Die durch Prag fließende Moldau heißt Vitava. Aber das an ihrem Ufer liegende Rudolflnum, offiziell an „Haus der Künstler“ umbenannt, heißt immer noch „Rudolflnum“. Hier ist der Sitz der Tschechischen Philharmonie und damit eines der musikalischen Zentren Prags. In dem großen amphi-theatralischen Saal wurde am 28. Oktober 1918 die Republik ausgerufen. Von 1918 bis 1938 tagte hier das tschechische Parlament. Heute finden im Rudolflnum wieder Konzerte statt. Der größere Saal ist freilich der des „Obecni dum“, des Gemeindehauses, auch Repräsentationshaus genannt. Es liegt in der Nähe des Pulverturms. Der sezessionistisch ausgeschmückte Saal heißt Smetana-Saal. Hier konzertiert das Städtische Sinfonieorchester. Aber Prag hatte einen noch größeren, 3000 Personen fassenden, den Luzerna-Saal. Daß er nicht mehr benützt wird, daran sind, der Fama zufolge, die Wiener Philharmoniker schuld. Als diese nämlich einmal unter Toscanini hier spielen sollten, fand der Maestro die Akustik schlecht und übersiedelte in den Smetana-Saal. Seither wollen auch die Prager Orchester nicht mehr in diesem Großraum konzertieren, sondern überließen ihn den Jazzfans... Die übrigen Musikstätten werden wir bei der Besprechung der Konzerte im Rahmen des „Prager Frühlings“ kennenlernen.

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Zweimal wöchentlich, am Donnerstag und Freitag, konzertiert die Tschechische Philharmonie. Sie ist ein direkt dem Ministerium unterstelltes Staatsorchester, zu dem ein eigener Chor und eine Reihe von Solisten gehören. Seit zwei Jahren absolviert sie jeweils am Samstag und Sonntag auch ein populäres Programm. Am Dienstag und am Mittwoch geben die Prager Symphoniker ihre Abonnementkonzerte. Außerdem veranstaltet das Orchester des Rundfunks pro Saison acht bis zehn öffentliche Konzerte gegen geringes Entree. Daneben gibt es noch das „Staatliche Filmorchester“ und das „Armeesymphonieorchester“, das zur Hälfte aus Berufsmusikern, zur anderen aus solchen besteht, die gerade ihren Wehrdienst ableisten und dies, die entsprechende Begabung vorausgesetzt, in einer ihnen mehr entsprechenden Form tun können.

Auf fast sämtlichen Konzertprogrammen findet sich je ein zeitgenössisches Werk. Dafür sorgt in erster Linie der Komponistenverband, der auch den Musikfonds verwaltet. In diesen müssen alle Konzertveranstalter, und zwar für alle von ihnen aufgeführten Werke, auch für die nicht mehr urheberrechtlich geschütteten, einen kleinen Betrag einzahlen. Aus diesem Fonds, der beträchtlich ist, werden durch ein Kuratorium die schaffenden Musiker und Musikwissenschaftler unterstützt. Entweder man finanziert ihnen, zur Fertigstellung einer Partitur oder eines“ Bucries, “einen längeren. Unlaub-(bis zu sechs Monaten) oder sie erhalten für ein bereits fertiggestelltes Werk eine bestimmte Summe (für eine Symphonie etwa so viel, daß der Autor zwei bis drei Monate davon leben kann). Da der Komponistenverband nur beratende Funktion hat und gewissermaßen der Partner der staatlichen Stellen ist, kann er den Orchestern und den Opernhäusern nur Ratschläge erteilen, nicht aber deren Repertoire vorschreiben. Dieses wird weitgehend vom Geschmack des Publikums bestimmt. Und dieser ist wie überall vorwiegend konservativ, das heißt, man will wie bei uns immer wieder die gleichen Meisterwerke hören. Wobei der Anteil der tschechischen Komponisten natürlich entsprechend groß ist.

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Wie steht man In Prag zur „Moderne“? Von ausländischen Komponisten genießen Bartök, Honegger, Hindemith, Britten, Strawinsky, Schostakowitsch und Prokofleff ein allgemeines Ansehen. An ihnen sowie an Mahler, Debussy und Ravel orientieren sich auch die meisten tschechischen Komponisten. Die mittlere Generation ging fast ausnahmslos durch die Schule von Noväk und Suk. Sehr im Unterschied etwa zu Warschau, dessen bekannteste Komponisten zum Großteil früher in Paris studiert haben und jetzt fast ausnahmslos von der deutschen und französischen dodekaphoni-schen oder seriellen Musik beeinflußt sind. Natürlich beschäftigen sich die jüngeren tschechischen Komponisten auch mit den neuen Techniken, einschließlich der Elektronik. Aber der Einfluß Schönbergs und seiner Schüler war hier nie sehr groß, zumal in Prag Alois Häba (in gewissem Sinne ein Antipode Schönbergs) residierte, der bereits in den zwanziger Jahren seine Viertelton- und Sechsteltontheorie entwickelte — und auch keine Schule machte ...

Prag besitzt drei Opernhäuser: das Nationaltheater am Moldauufer, das eigentliche tschechische Nationaltheater seit 1883, wo ungefähr fünfmal wöchentlich Opern und zweimal Schauspiele gegeben werden. Dann das ehemalige Deutsche Theater, jetzt Smetana-Theater genannt, am Ende einer Parkanlage in der Nähe des Bahnhofs gelegen, wo täglich Opernaufführungen stattfinden, Samstag und Sonntag auch nachmittags. Das dritte Staatstheater ist das ehemalige Ständetheater, jetzt Tyl-Theater genannt. Es wurde 1783 mit Lessings „Emilia Galotti“ eröffnet, und vier Jahre später wurde hier Mozarts „Don Giovanni“ uraufgeführt. „Mozart-Theater“ wäre wohl der passendste Name für dieses Haus gewesen, in dem auch heute alle Mozart-Opern gespielt w er-

den. Aber leider hat der Lokalpatriotismus gesiegt, und man nannte es nach dem wenig bedeutenden Josef Kajetan Tyl, in dessen Lustspiel „Fidlovacka“ (1834) zum erstenmal das Lied von Frantisek Skroup „Kde domov müj“ erklang, das bekanntlich die tschechische Nationalhymne ist...

Der Anteil tschechischer Komponisten auf dem Gebiet der Volksoper ist bedeutend. Außer Prag gibt es noch elf Opernhäuser in der CSSR. In der abgelaufenen Spielzeit wurden hier insgesamt 110 Opern gegeben, davon stammen 51 von tschechischen und mährischen Autoren, der Anteil des zeitgenössischen Repertoires betrug 61 Prozent — eine sehr hohe Quote! Auf dem Gebiet des Welttheaters allerdings führen in der ÖSSR, wie in anderen Ländern und Musikzentren, Verdi, Mozart, Puccini, Rossini, Wagner, Bizet und Tschai-kowsky...

Tsweils einmal im Jahr, etwa von Mitte Mai bis Mitte Juni, gibt die Musikstadt Prag sich und-ihren Gästen ein Fest, den „Prager Frühling“, der heuer zum zwanzigstenmal, also als Jubiläumsfestival, stattfand. Vor 20 Jahren hatte die Tschechische Philharmonie beschlossen, ihren 50jährigen Bestand mit einer Reihe von Konzerten zu begehen. Daraus entstand im Lauf der Zeit dieses internationale Musikfest mit kräftigem nationalem Akzent. — Auf dem Programm des traditionellen ^Eröffnungskonzertes steht, von der Prager Philharmonie gespielt, „Mä Vlast“ von Smetana, der auf das Titelblatt seiner großen sechsteiligen symphonischen Dichtung 1879 die Widmung schrieb „Zugeeignet der königlichen Hauptstadt Prag“. Dieses Konzert findet jeweils im Vladislav-Saal oder im Großen Smetana-Saal des „Obecni dum“ statt.

Hier gab es während des Festwochenmonats rund 20 große Konzerte, die von den besten Orchestern der ÖSSR und von drei Gastorchestern ausgeführt wurden. Außer der Tschechischen Philharmonie spielten das Rundfunkorchester, das Städtische Sinfonieorchester Prag, die Staatliche Philharmonie Brünn, das London Symphony Orchestra unter Solti, das Moskauer Rundfunk- und Fernsehorchester (das vor kurzem in Wien sein erstes „westliches“ Gastspiel absolviert hat) unter Roshdestwenskij sowie das Cleveland Orchestra unter Szell. Die tschechischen Orchester wurden teils von ihren eigenen, teils von Gastdirigenten geleitet (Klima, Klecki, Freccia, Iliew, Rajter, Celibidache, Neumann und anderen). Auf sämtlichen Programmen stand je ein zeitgenössisches Werk, auf einigen mehrere neue Stücke, mit Ausnahme dreier von Karel Ancerl geleiteter Konzerte mit Beethovens IX. Symphonie.

Szenenbild aus „Krütnava“ von Suchon

Im „Haus der Künste“ fand etwa die gleiche Anzahl (20) Kammerkonzerte statt. Hier sowie in historischen Räumen und Gebäuden (im Veitsdom, der St.-Georgs-Basilika, in der Bethlehemskapelle und auf den Ledebur-Terrassen) konzertierten etwa ein halbes Dutzend ausländischer Kammermusikensembles und rund ein Dutzend nahmhafter in- und ausländischer Solisten. Der Anteil des Nachbarlandes Österreich war, sowohl was die aufgeführten Werke wie die Interpreten betrifft, nicht zu überhören. Man spielte (wenn wir von den in allen Programmen der Welt aufscheinenden Wiener Klassikern absehen) Werke von Mahler, Schönberg und Gottfried von Einem. Eines der am meisten akklamier-ten Konzerte war das des Mczarteumorchesters unter der Leitung von Prof. Bernhard Paumgartner, und im „Haus der Künste“ konzertierte das Wiener Ensemble „Die Reihe“ unter Dr. Friedrich Cerha.

Im Nationaltheater wurden während des „Prager Frühlings“ 23 Opern und ein Strawinsky-BaUettabend gegeben.

Oratorienaufführung im Veitsdom

Neun Abende waren Werken tschechischer Komponisten gewidmet. Von Smetana gab man „Dalibor“, von Dvofdk „Rusalka“, von Janäcek „Katja Kabanova“ und „Aus einem Totenhaus“. An neueren Werken standen auf dem Spielplan „Die Fackel des Prometheus“ von Jan Hanus als Uraufführung, Cikkers „Auferstehung“ nach Tolstoj, Suchons „Krütnava“ und Martinas „Julietta“. Außerdem konnte man noch die folgenden neueren Opernwerke sehen: „The Rake's Progress“ von Strawinsky und „Peter Grimes“ von Britten als Gastspiel der Sadler's Wells Opera sowie „Jekatarina Ismailowa“ von Schostakowitsch.

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Das schwierigste und anspruchsvollste Werk, In dessen Realisierung viel Arbeit investiert wurde, war „Die Fackel des Prometheus“ von Jan Hanus. Den vielschichtigen •kültnlrphilosophischen Text schrieb Jaroslav Pokorny. Die“ Aktualisierung des griechischen..Mythus .erfolgt; nach der Methode Cocteaus („die Antike aus dem Flugzeug photo-graphiert“). Überdies verbindet der Textautor damit die moderne „Science-fiction“. Natürlich fehlt auch der antike Chor nicht, der die Handlung kommentiert, aber auch aktiv eingreift. Die auch für den des Tschechischen Kundigen nicht leicht verständliche Aktion (von der der Gast sich nur eine ungefähre Vorstellung machen konnte) spielt auf mehreren Ebenen und wird von Sängern und Tänzern dargestellt. Im Personenverzeichnis finden wir neben dem modernen Prometheus auch seine „Sekretärin“ — und beide als Tanzrollen in antikem Gewand, also doppelt besetzt. Außer Zeus, Hera und Hephaistos gibt es einen „Ankläger“ und eine Barsängerin, allegorische Gestalten, Agenten, Erinnyen usw. Jan Hanus, Jahrgang 1915, hat dazu eine sehr moderne und komplizierte Partitur geschrieben, in die auch von Tonbändern abgespielte elektronische Klänge eingeblendet werden. Der Gesamteindruck von der Leistung des Regisseurs Hanus Thein, des Bühnenbildners Josef Svoboda, des Choreographen Jifi Nemecek sowie des Dirigenten Jan Tichy war imponierend, der von dem Werk verwirrend.. Aber weshalb soll nicht auch Prag seine typische „Festival-Oper“ haben?

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Aus anderem Holz Ist Eugen Suchons Oper („nach einer slowakischen literarischen Vorlage“) „Krütnava“, die unter dem Namen „Katrena“ schon an einigen, auch westlichen, Bühnen aufgeführt wurde. Eigentlich müßte sie „Stelina“ heißen, denn im Mittelpunkt steht — eine Figur von antikem Format — der alte Bauer Stelina, dem man seinen einzigen Sohn gemordet hat. Er findet den Mörder im Nebenbuhler seines Sohnes, und er findet einen Enkel, der ihm den Sohn ersetzen wird, nachdem durch die Überführung des Mörders die verletzte Ordnung wiederhergestellt ist. Eine Choroper auch diese, dramatisch, packend, mit großartigen Rollen ausgestattet, einfallsreich im Melodischen, das von der slowakischen Folklore inspiriert ist, und wirkungsvoll instrumentiert. Das Bühnenbild von Josef Svoboda befremdet zunächst durch seine Kargheit, aber nach und nach begreift man die Intentionen von Regisseur (Bohumil Hrdlicka) und Bühnenbildner: durch Sparsamkeit der Ausstattung das Augenmerk auf den In sieben, acht übereinanderliegenden Stufen postierten Chor im Hintergrund zu lenken, der immer präsent ist und dem Geschehen Allgemeingültigkeit verleiht. Großartig auch der Hauptdarsteller Vladimir Jedenaktik, ein gewaltiger Schauspieler und Sänger von schöfflerschem Format. Eine hervorragende Sängerin, wenn auch der Rolle der jungen Katrena bereits entwachsen, Drahomira Tikalovä.

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Tn einer Aufführung des „Rosenkavaliers“, an dessen -■ tschechische Übertragung man sich schnell gewöhnt, überrascht zunächst das stilisierte, nur angedeutete Bühnenbild des 1. Aktes. Auch die Kostüme, besonders die der vielen Livrierten, sind spärlicher, als wir es gewohnt sind, dafür gibt es verschiedene „Einlagen“ des Regisseurs Karel Jernek, die nicht im Libretto stehen. Aber das Orchester unter Albert Rosen scheint mit der Partitur vertraut, und es wird sehr schön gesungen: von Drahomira Tikalovä als Marschallin, von Zdenek Kroupa als Ochs, von Helena Tatter-muschovä als Sophie und — natürlich — von unserer Sena Jurinac als Okiavian. . : .

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