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Was die Staatsoper nicht'spielt

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Man sage nicht, daß jeder Opernspielplan diskutabel sei und daß es immer Unzufriedene geben wird. Ein Vergleich mit dem Repertoire musterhaft geführter Opernhäuser öder mit früheren Spielplänen der Wiener Staatsoper wird auch den Skeptiker überzeugen. Doch wir wollen weder die Vergangenheit der Ära Mahjer-Weingartner-Schalk und Strauß beschwören, noch -in die Feme schweifen. Es sei auch. darauf verzichtet, „zu Unrecht vergessene Werke“ des 18. und 19, Jahrhunderts für Wiederbelebungsversuche zu empfehlen. Denn vieles, was beim milden Schein der Studierlampe wie ein Meisterwerk aussieht und alle Eigenschaften eines solchen . zu haben scheißt, kann, dem grellen Rampenlicht nicht standhalten; und der Griff in die Schatztruhe vergessener Kostbarkeiten ist in Wirklichkeit oft ein Griff in die Mottenkiste. Denn größer, als bei jeder anderen Kunstgattung, ist bei der Oper die Summe der Imponderabilien, und erfolgreiche Erneuerungen gehören zu den seltenen Sternstunden der Theatergeschichte. Wir beschränken uns daher darauf, die Aufmerksamkeit auf eine empfindliche Lücke im Spielplan der Wiener Staatsoper zu richten: auf das Fehlen repräsentativer neuerer und zeitgenössischer Werke. Gegenwärtig befindet sich, noch vom Ende der vergangenen Spielzeit her, ein einziges „modernes“ Werk im Repertoir der Volksoper: „Johanna auf dem Scheiterhaufen“ von Claude! und Honegger. Das ist, bei bescheidensten Ansprüchen auf Repräsentation und unter Berücksichtigung aller bekannter Schwierigkeiten, zu wonig. Andererseits verbietet das Defizit der Staatsoper — wie jedes größeren Opernhauses — das Experiment um des Experiments willen. Aber es gibt eine Reihe von neueren Opern, deren Aufnahme in den Spielplan eine „kulturelle Verpflichtung“ bedeuten würde und nicht zur Vergrößerung des Defizits beitragen müßte.

Unter diesem Gesichtspunkt seien vor allem jene Opernwerke empfohlen, d i e bei den Salzburger Festspie-1 e n. bereits die Feuerprobe bestanden haben, deren Rollen — fast ausnahmslos •— die Sänger der Wiener Staatsoper und deren Orchesterpart die Wiener Philharmoniker studiert haben. Von diesen Opern wurde weder Frank Martins „Zaubertrank“ noch Orffs „Antigonae“ noch die Novitäten der letzten Festspiele, Brittens „Raub der Lucrezia“ und Blachers „Romeo und Julia“, in den Wiener Spielplan übernommen. Wieviel Unkosten, Zeit und Mühe wurden auf diese Weise nicht entsprechend ausgenützt. . .

Vor 1933 war in der Staatsoper am Ring die Uraufführung von Kreneks großer Oper „Karl V.“ vorgesehen. Daß es nicht zu jener Premiere in der Heimatstadt des Komponisten kam, ist sehr zu bedauern. Das Leben Karls V., der sich am Ende seiner Tage in das Kloster San Geronimo de Yuste zurückgezogen hat und unter Tizians „Jüngstem Gericht“ seine Lebensbeichte ablegt, wobei die Stationen seiner Vergangenheit als Visionen vorbeiziehen — wo anders,wäre der Platz für dieses Werk, als in der Wiener Staatsoper.? Nun hat uns, zu Beginn dieses Jahres, eine deutsche Bühne, Essen, die deutschsprachige Erstaufführung „weggeschnappt“. Aber es ist noch nicht zu spät... Die Oper von Köln führte vor kurzem “Kreneks zweite „österreichische“' Oper, „Tarquin“. auf, ein hochaktuelles Werk nach einem Text von E. . Lavery, jn dem das. Problem- der Diktatur und der „Anschluß“ behandelt wird. Gewiß, Kreneks. musikalische Spräche ist nicht jedem verständlich. Aber das Werk ist zur Aufführung im Rahmen des IV. Internationalen Musik fest es in Wien vorgesehen; mag es sich bewähren, dann möge man die Aufnahme in den Spielplan erwägen.

Dem Stoff nach müßte uns auch die gleichfalls in Westdeutschland uraufge-iührte Oper nach Calderans „Leben- ein Traum“ von Braunfels interessieren,'desgleichen Dariüs Milhauds „Maximilien“ nach Werfeis Drama „Jüarez und Maximilian“, das seinerzeit im Burgtheater gespielt wurde. Vom gleichen Autor gibt es, nach einem Text von Paul Claudel, einen „Christoph Colomb“, der im Rahmen' des Internationalen Kirchenmusik-kongiesses in Köln einen großen Erfolg hatte. Dieses Werk, das nach den Worten Claudels „Welttheater, Tedeum und Halleluja“ sein will, „eine Messe, bei der die Mertge ständig mitwirkt“, wurde von der Presse als „einer der epochalen Würfe des modernen episch-oratorischen Opernschaffens“ -gefeiert, „dessen Musik-strom in immer neuen Wellen das faszinierte Auditorium überflutete“.

Es sei auch an eine Reihe neuerer Opern unserer Nachbarn erinnert, die sich bereits auf verschiedenen Bühnen bewährt haben: Janaceks „Jenufa“, „Katja Kabanowa“ und „Aus einem Totenhaus“ nach Dostojewski, Kodilys „Harry Janos“ und der Einakter „Szekler Spinnstuhe“; Tscherepnins „Hochzeit der Sobeide“, die seinerzeit in der Volksoper aufgeführt wurde (nach dem gleichnamigen Drama Hofmannsthals); und „Krieg und Frieden“ nach dem Roman Tolstois; schließlich auch Jaroslav Krickas amüsanter „Spuk im Schloß“ nach Qrcar Wildes „Gespenst von Canlerville“, das zum Vergnügen der Zuschauer — und Zuhörer! — in der Mitte der dreißiger Jahre monatelang im alten Opernhaus gm Ring sein Wesen trieb ... ' über den großen Erfolg, den der Schweizer Heinrich Sutermeister mit seiner Raskolnikow-Oper in Stockholm hatte, wurde in der „Furche“ ausführlich berichtet. Das Werk wanderte über zahlreiche deutsche Bühnen (München, Hamburg, Wiesbaden) und wurde von Bern für die Schweizer und von der Scala für rjie italienische Erstaufführung angenommen. Vom gleichen Komponisten gibt es eine „Romeo- und JuIia“-Oper nach Shakespeare und eine weitere nach Gott-helfs „Schwarzer Spinne“, über welche die Fachpresse sehr anerkennend urteilte.

Ein erregendes Werk mit einem sehr zeitnahen Thema, das in Amerika großen Erfolg hatte, ist Menottis „Konsul“. Er schildert mit dem Pathos der Auflehnung den Kampf gegen die Bürokratie um ein lebensnotwendiges „Papier“, eine Jagd, bei der schließlich der Jäger auf der Strecke bleibt, ohne den Konsul zu Gesicht bekommen zu haben. Der Gesamteindruck wird beschrieben: .als ob Puccini einen Roman von Kafka vertont habe.“ — Sehr interessant wäre es auch, die Nationaloper der Amerikaner kennenzulernen: das in Südcarolina spielende Singspiel „Porgy und Bess von George Gershwin.

Mehr am Herzen läge uns freilich die Produktion der zeitgenössischen deutschen Opernkomponisten, von denen wir seit 1945 noch keine einzige Probe gehört haben. Hier bedürfen die folgenden Werke, die sich jahrelang auf den Spielplänen der deutschen Bühnen gehalten haben, kaum mehr einer Empfehlung: Werner Egks „Peer Gynt“ und „Columbus“. Wagner-Regenys „Günstling“ und „Die Bürger von Calais“, Hermann Reutters „Doktor Johannes Faust“ und ein neues, zeitnahes Werk des gleichen Komponisten, die szenische Ballade „Der Weg nach Freudenstadt“. Den größten Erfolg unter den neuen deutschen Komponisten hat gegenwärtig Carl Orff. Seine Erneuerung des „Orfeo“ von Monteverdi wurde gemeinsam mit den „Carmina burana“ in einer der ärmsten Städte Westdeutschlands, in Kiel, gegeben und war dort — Verdi und Puccini in den Schatten stellend — die ersten elfmal völlig ausverkauft, von den rund 60 „Vorhängen“ bei der Premiere, von denen die Presse berichtete, ganz zu schweigen. Es gibt heute kaum eine deutsche Bühne, die die „Carmina“ nicht schon gespielt hätte. Orffs „Kluge“ erweist sich nicht nur als kluge, sondern auch als sehr tüchtige Frau, die überall, wo sie hinkommt, ein volles Haus macht und schon mancher Bühne aus der Verlegenheit geholfen hat. Man konnte mit ihr selbst Ensuite-Vorstellungen wagen, und nun hat sie sich sogar — und zwar im Sturm — das Negertheater „Karamu“ in Cleveland erobert....

Fast selbstverständlich wäre es, daß man uns mit dem Meisterwerk der neueren deutschen Opernproduktion, mit Hmdemiths Grünewald-Oper „Mathis der Maler“ bekannt macht; ihr Entree ist durch die oftgespielte „Mathis-Suite“ genügend vorbereitet. Vor allem aber hoffen wir, in der Wiener Staatsoper — vor oder nach der Aufführung bei den Salzburger Festspielen — Alban Bergs „Woz-zeck“ zu sehen, mit dem ein Wiener Regisseur und ein Wiener Dirigent im Theater San Carlo in Neapel einen sensationellen Erfolg hatten. Dem gleichen Regisseur, der in Wien als dernier cri „Gasparone“ von Millöcker inszenieren wird und den die internationale Presse als einen der Besten bezeichnet, werden im Ausland die interessantesten Aufgaben gestellt: zuletzt in Berlin die Inszenierung des „Armen Matrosen“ von Milhaud ...

Ein Blick auf den heurigen Spielplan der- beiden Pariser Opernhäuser zeigt in der „Opera Comique“ sechs zeitgenössische Werke (darunter neue Opern von Bondeville, Henri Rabaud und Germaine Tailleferre) und an der konservativeren „Grand Opera“ fünf neue Ballette (darunter eines von Messiaen und eines von Rabaud). Bei uns mußte man nach Linz fahren, um Kreneks „Leben des Orest“ oder Frederick Blocks „Samum“, nach Graz um Brittens „Peter Grimes“, Hin-demiths „Cardillac“, Bartöks „König Blaubarts Burg“ oder eine konzertante Aufführung von Strawinskys „Oedipus Rex“, nach Innsbruck, um Egks „Joan von Zarissa“ und Orffs „Carmina burana“ zu hören...

Erfahrungsgemäß werden zeitgenössische Opernwerke nur dort gegeben und zum Erfolg geführt, wo sich ein Dirigent oder ein verantwortlicher Leiter mit seiner ganzen Autorität einsetzt. Ein solcher Mann fehlt gegenwärtig an der Wiener Staatsoper, an der seit fünf Jahren ein Provisorium besteht, dem spätestens mit dem Einzug in das neue Haus ein Ende bereitet werden muß, und zwar nicht nur aus Gründen der Repräsentation, sondern vor allem im künstlerischen Interesse des Instituts. Zwei namhafte Dirigenten, die sich als Opernchefs vor 1933 — der eine in Berlin, der andere in Dresden — bestens bewährt haben, könnten für die Wiener Staatsoper gewonnen werden. Welcher von beiden — das mögen die Berufenen entscheiden; ob — was natürlich die ideale Lösung wäre —• für die ganze Spielzeit oder nur auf einige Monate ist, leider, vor allem eine Frage des Budgets. Jedenfalls haben wir gesehen, daß es mit halben Lösungen und mit zaghaften Versuchen, dem zeitgenössischen Schatten etwa auf der Linie „Tarassenko“ — „Tote Augen“ — „Die

Kathrin“ zu dienen, nicht geht, weil an deren Gelingen nicht einmal die Initiatoren einen rechten Glauben haben. Wenn man sich dagegen entschließt, einen diesem Institut angemessenen und voll verantwortlichen Leiter zu berufen, dem man freilich auch die entsprechenden Vollmachten zu übertragen haben wird, dann erst besteht Hoffnung, daß auch der Spielplan ein neues Gesicht bekommt.

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