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OPERNKULTUR IN ITALIEN

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Wer von der „italienischen Oper“ spricht, von Sängern, Dirigenten, von ihrer künstlerischen Produktion im allgemeinen, der meint vorwiegend das Opernhaus in Mailand, die Scala, neben der Pariser und Wiener Staatsoper das glanzvollste des Kontinents. Stellt es doch einen wichtigen Knotenpunkt dar im europäischen Opernbetrieb, durch ständigen Austausch von Künstlern nach New York, Wien und den anderen deutsamen Opernhäusern der Welt. Allenfalls denkt man noch an das Teatro San Carlo in Neapel, das sich, auf älteste Tradition zurückblickend, seinen Ruf bewahrt hat und an die ehemals königliche Oper in Rom.

Der Hinweis auf eine Einrichtung, die als einzige eigentlich die italienische Opernkultur einem wesentlich weiteren Publikumskreis nahebringt, soll und kann die Wertschätzung, welche jene Häuser genießen, und ihre künstlerischen Verdienste nicht schmälern: Es sind die sogenannten Opernstagioni, Ensembles, zusammengestellt und einstudiert für eine Serie von Vorstellungen verschiedener Werke vorwiegend der italienischen Opernliteratur. Die zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel sind begrenzt, was sich in der Wahl der aufzuführenden Werke und an den Namen der engagierten Künstler erweist: es kommen ausnahmslos Stücke zur Aufführung, die in... Besetzung und Technik keinen allzu großen, Aufwand erfordern, und der Hauptsache nach sind es junge, meist sehr talentierte Kräfte, die auch in den Hauptpartien an die Rampe treten. Die Beschränkung macht sich also keineswegs so sehr in einem Qualitätsnachlaß bemerkbar, als vielmehr in einer Bescheidung in der Verwendung äußerlicher Mittel.

Nach mehrmaliger Wiederholung aller im Repertoire stehenden Opern (was in den größeren Städten fünf bis sechs Wochen dauern kann), zieht der Thespiskarren weiter, in den nächsten Ort, in die nächste Stadt. Aus der Zeit der Stadtstaaten vor der Einigung Italiens um 1870 besitzen auch die kleineren Städte, einst Residenzen eines Fürsten, jede ein Theater, was für die Durchführbarkeit des Stagione-Systems eine wichtige Voraussetzung darstellt.

So bleibt eine Stagione für einige Monate bestehen, wechselt nur den Aufführungsort, wenn Nachfrage und Interesse lokal gesättigt sind. Daher finden die künstlerischen Leistungen dieser Produktionen ein sehr zahlreiches und dem oftmaligen örtlichen Wechsel gemäß ein sehr verschiedenes Publikum, was dem Künstler Anreiz gibt, zugleich . aber kulturell verdienstvoll ist. Denn gerade die Stagioni besorgen neben den Monster-Freilichtaufführungen während des Sommers, die pro Vorstellung Tausende von Zuhörern aufnehmen, solcherart die Aufrechterhaltung, Verbreitung und Verbreiterung der Opernkultur in einem Lande, das sozial eine deutliche, nach beiden Seiten der Stufungsskala bis in die Extreme gehende Schichtung aufweist. Und wie viele kleine Städte gibt es hier, die kein eigenes Operntheater besitzen, dafür aber ein Publikum, dem neben dem anderer Städte aus Mangel an Gelegenheit oder aus finanzieller Unerschwinglichkeit jede andere Möglichkeit genommen wäre, am Musikleben teilzunehmen! Denn Musik ist hier gleichzusetzen mit Oper, in einem weit stärkeren Maße als bei uns. Diese Oper lebt im Volke, sie ist Volksmusik im eigentlichsten Sinn, sie ist die Musik des Landes, und ihr gilt in erster Linie die Musikpflege. Es ist kaum eine Uebertreibung, zu behaupten, der Schuhputzer an der Straßenecke kenne sämtliche halbwegs gängigen Arien des italienischen Opernrepertoires: Hier ist solches Wissen keine Spezialität, sondern Ausdruck einer kulturellen Tradition, deren Bildungsgut bis in die letzten verästelten Aederchen eines Volkes gedrungen ist.

In der laufenden Saison wurden die staatlichen Subventionen für das Römische Opernhaus derart gekürzt, daß nach langen Schwierigkeiten die Eröffnung der Spielzeit endlich für den 2. Jänner angesetzt werden konnte. Diese bedauerliche Tatsache hätte eine völlige Still-legung des Opernbetriebes einer Weltstadt verursacht, wenn nicht in den vergangenen Monaten zwei Stagioni diesem Mangel abgeholfen hätten: die erste im September, die zweite, von fast sechs Wochen (November und Dezember), im Teatro Valle.

Letztere hatte eine lange Reise hinter sich: über Lucca, Livorno und Forte dei Marmi kam sie nach Rom. Der Direktion Todini-Mei, welche in diesem Jahre schon die zweite Stagione in Rom. veranstaltete, gelang es, ohne Subvention zum größten Teil ausgezeichnete junge Kräfte zu engagieren und den Betrieb während der Spielzeit erfolgreich aufrechtzuerhalten. In den Aufführungen von „Der Barbier von Sevilla“, „Rigoletto“, „Boheme“, „Traviata“, „Butterfly“, „Cavalleria rusticana“, „Bajazzo“, „Lucia di Dramas, ist ihm und dem Sinne, den es auszudrücken hat, unbedingt untergeordnet. Die Handlung bleibt intensiv, erscheint nie unterbrochen, die ständige Spannung läßt beim Zuhörer nicht einen Augenblick Langeweile aufLammermoor“ und „Tosca“ konnte man unter anderen Amelia Benvenuti, Dora Carral, Silvana Casuscelli, Maria Luisa Cioni, Salvatore Lisitano und Luciano Pansieri hören, die alle der jüngeren und jüngsten Generation angehören. Eines ist ihnen ausnahmslos gemeinsam: Sie beherrschen ihre Stimme als ein Instrument zur Darstellung dramatischer Vorgänge, die in musikalischer Form erhöht und transparent werden. Zudem sind sie alle vorzügliche Schauspieler, die das dramatische Geschehen unbedingt glaubhaft machen. Es finden sich keine unnötigen Gänge, kein Leerlauf, kein Sich-auf-die-Stimme-Ver-lassen. Hierdurch wird vieles ausgeglichen, was der Stimme, namentlich bei jungen Leuten, an Vollkommenheit, und souveräner Sicherheit fehlt, die ja beide erst durch langjährige Spielpraxis erworben werden.

Ueberhaupt läßt sich das Wesen des italienischen Opernstiles in wenigen Worten etwa so andeuten: Alles — Musik, Tempo, Phrasierung, Aktion auf der Bühne — steht im Dienst des kommen. Wenn solches bei neun verschiedenen Vorstellungen durchweg immer wieder in Erscheinung tritt, so muß es sich um ein echtes Phänomen handeln.

Wir könnten uns wünschen, solche Interpreten, von denen einzelne europäisches Format besitzen, bei uns zu hören. Orchester und musikalische Leitung können diesen Qualitätsanspruch Zwar nicht erheben; das Orchester wird in Her Hauptsache von den Substituten'der „Großen“ Oper gebildet. Man muß jedoch bei einer Bewertung auch berücksichtigen, daß für jede Premiere meist nur eine Orchester-Bühnen-Probe zur Verfügung steht.

Hervorzuheben sind von den gesanglichen und darstellerischen Leistungen vor allem Lisitanos Ganio in „Bajazzo“ und Amelia Benvenutis Lucia. In dieser Partie erntete sie unerhörten Beifall, der schließlich zu einer Huldigung für Toti Dal Monte wurde, ihre Lehrerin, die nach den ersten Vorhängen mit ihr auf die Bühne trat.

Vor zehn Jahren ging diese große Künstlerin, vor deren Genius sich auch die bedeutendsten Sänger unserer Zeit mir in Ehrfurcht neigen, mit ihrer Abschiedsvorstellung als Butterfly von der Bühne. Von ihr hat einst Mascagni in einer Widmung gesagt, sie singe „schöner als die Feen“.

Seit jenem Abschied von der Bühne konnte sie endlich ruhiger leben: „Ich liebe mein Heim“, sagt sie, „nach so vielen Jahren des Reisens und Wanderns.“

Von da an widmete sie sich vornehmlich dem Gesangunterricht. Sie hat stets nur wen;ge, aber ausgezeichnete Schüler, mit denen sie täglich arbeitet. Neben der erwähnten Amelia Benvenuti hatten Maria Eira und Franco Ventriglia schon große Erfolge zu verzeichnen. Andere wie Dolores Wilson, Gianna dAngelo oder Dody Protero gehören längst zur Spitzenklasse und singen an den bedeutendsten Bühnen der Welt.

Toti Dal Monte liebt Geselligkeit mit ihren Freunden und nimmt regen Anteil an den Ereignissen in der Welt. Wenn sie sich in den Sommermonaten auf ihr Landgut, die Villa Toti bei Treviso, begibt, dann folgen ihr ihre. Schüler, andere, schon „Fertige“, kommen, um sich den letzten künstlerischen Schliff zu holen und ihre Stimmtechnik für die nächste Saison korrigieren zu lassen. Sie alle quartieren sich in der Umgebung ein, um in der Nähe ihrer Meisterin zu bleiben.

Jene Villa Toti ist für ihre Gastfreundschaft berühmt. Freunde von nah und fern gehen hier Tag für Tag ein und aus. Doch am Namenstage des heiligen Antonius findet ihm zu Ehren ein großes Fest statt, an dem zahlreiche Gäste teilnehmen. Dfe Bauern der Umgebung tanzen in ihren alten Volkstrachten, Feuerwerke werden losgelassen, Tiere am Spieß gebraten, der Wein fließt aus vollen Schläuchen ...

Die Sängerin verbinden frohe Erinnerungen mit Wien, wo sie 1936 und 193 8 als „Lucia“ und „Nachtwandlerin“ Triumphe gefeiert hat. Es fehlte damals auch nicht an skurrilen Erlebnissen: etwa als ein Herr nach einem großen Gesangsabend im Konzerthaus sich eines Souvenirs versicherte, indem er sich unbemerkt ihr rotes Taschentuch aneignete, das sie dann, zwei Jahre später, wiedererkannte, als er, damit freundlich winkend, zugleich durch Gesten zu verstehen gab, daß er sich davon keinesfalls trennen wolle. Oder eine andere Geschichte, von dem Bänkelsänger eines Beisels,' der mit rauher Kehle sein „Ach wie so trügerisch...“ schmetterte und nur von ihr Beifall erntete, dem sich der in ihrer Begleitung befindliche Kapellmeister als Zirkusdirektor, der Tenor als Preisstemmer und dem sie selbst sich als Seiltänzerin vorstellte: er hatte sie nicht erkannt, während Kinder sie eine Viertelstunde nach ihrer Ankunft in Wien bei einem Spaziergang um ein Autogramm baten.

So bekannt war sie, so verehrt wurde sie allerorts. Mit dem jüngst verschiedenen Benjamino Gigli verband sie enge, langjährige Freundschaft. Wie viele Male waren sie doch gemeinsam auf der Bühne gestanden! In Italien ist sie, mehr noch als er, eine nahezu legendäre Figur geworden.

Heute wirkt sie in aller Stille. Sie gibt weiter, was lehrbar ist. Das Gut künstlerischer Begnadung, mit der sie einst die Welt beglückte, bleibt einmalig: das in Vergangenheit und und Zukunft gültige Vorbild der dramatischen Gesangskunst.

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