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BEETHOVEN KANNTEN ALLE

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April in Paris: das ist eine eigenartige Mischung aus Regen und frischem Grün, aus Sonne über Malraux-geputz- ten Fassaden, aus langhaarigen Anhängern der „grünen Welle“ und aus Touristen, die in Scharen den Reiseautobussen entströmen…

In diesem Paris, das sich zeitweilig mit Erfolg bemühte, den kitschbunten Ansichtskarten zu gleichen, die überall verkauft werden, trafen sich vom 9. bis 14. April fast 1500 junge Menschen aus aller Welt zum 20. Weltkongreß des „Jeunesses Musicales", der zugleich eine Geburtstagsfeier für diese größte Konzertorganisation der Welt war, die vor einem Vierteljahrhundert in Belgien gegründet worden war. Ein würdiges Geburtstagsfest: das war dieser Kongreß, dessen musikalischer Bogen sich von Symphoniekonzerten im „Theatre des Champs Elysees“ bis zu flotten Marschklängen einer Regimentskapelle in Fontainebleau spannte.

Zu den beiden Gründungsländern sind inzwischen 24 weitere Mitgliedsländer dazugekommen, die über alle Erdteile verteilt gind. Erfreulich für Österreich, daß die Organisation unseres Landes eine führende Rolle spielt, was dadurch unterstrichen wurde, daß der Obmann der österreichischen „Musikalischen Jugend“, Dr. Franz Eckert, zum „Trėsorier“ des Internationalen Bureaus gewählt wurde.

Die frischen Stimmen der „petits Chanteurs ė la croix de bois“ leiteten den Kongreß ein, zweifellos eine letzte Perfektion vermissen lassend, eine Perfektion, deren Glätte freilich wahrscheinlich langweilig gewirkt hätte. Von Palestrina bis zu mexikanischen Volksliedern reichte das Repertoire des Bubenchors, der durch seine Schallplatten wie durch seine Filme und Fernsehsendungen auch außerhalb Frankreichs zahlreiche Freunde gefunden hat.

Christian Ferras — auf dessen Entdeckung die „Jeunesses Musioales de France“ nicht wenig stolz sind, und Samson Franęoiswaren die Solisten des ersten Konzerts im „Theatre des Champs Elysėes“, das unter der Leitung von Pierre Der- vaux stand, dessen Programm von Richard Wagners „Lohen- grin“-Vorspiel bis zu „Daphnis und Chloe“ von Ravel reichte.

Ein Abend war einer „Florilėge JMF“, einer Blütenlese JMF, gewidmet: Die Sonate für Violoncello von Zoltan Kodaly, gespielt von Guy Fallot,war Anlaß für eine spontane, begeisterte Ehrung des großen Ungarn, der — Ehrenpräsident der „Jeunesses“ seines Landes — für eine Woche nach Paris gekommen war.

Das Orchestra de la Radio-Tėlevision Belgeunter Andrė Vandemoot brachte Brahms, Footund einen wunderbaren „wunderbaren Mandarin“ von Bartok, auf dem Programm eines geistlichen Konzertes in der Kirche Saint Louis des Invalides standen Bach, Faurėund Charpentier, in der prunkvollen Oper schließlich gab es „Carmen“ mit Franęoise Arrauzau und Guy Chauvet, in einer Inszenierung mit vielen Felsen aus Pappendeckel, echten Pferden, Eseln, selbst einem wirklichen Hund…

Das Schlußkonzert endlich, das die Fernseher in ganz

Europa auf ihren Bildschirmen erleben konnten, war — wie jedes Jahr — die deutlichste Demonstration der Idee, die in den schweren Jahren des Krieges zur Gründung der „Jeunesses Musicales“ geführt hatte. Mit Hilfe der Musik täglich aufs Neue das Wunderbare näherzubringen, das einem denkenden Wesen die Sprache der Musik vermitteln kann: So steht es in den Satzungen der Organisation, dem dient während jedes Kongresses das Internationale Orchester der „Jeunesses Musicales“, das nur für den Kongreß zusammengestellt wird und nach intensiver Probentätigkeit den Kongreß musikalisch schließt. Auch heuer wieder war Österreich durch zwei Musiker im Orchester vertreten, das unter der Leitung von Jean-Claude Hartemann mit den Solisten Bruno-

Leonardo Gelber, Jean Mouillėreund Claude Naveau Rossini, Mozart, Brahms und Dukaszur Aufführung brachten.

Sämtliche Orchestermitglieder spielen zum erstenmal in einem Ensemble solcher Intemationalität, wenn auch fast alle von Ihnen Berufsmusiker sind, spielen sie doch für gewöhnlich in ständigen Orchestern, etwa im Konservatoriumsorchester von Rabat, im Symphonieorchester von Radio Lissa bon, im Nationalen Jugendorchester von Kanada, zumindest im Orchester der „Jeunesses Musicales“ ihres Landes. Wählte man einerseits aus dem „Jeunesses“-Orchestero, so fragte man zum Beispiel in Lissabon oder in Rabat, wer von den jüngeren Orchestermitgliedern denn Lust hätte' für eine Woche nach Paris zu fahren… Freilich, mit dem strengen Probenbetrieb hatten sie alle nicht gerechnet: während die anderen Teilnehmer auf die Spitze des Eiffelturms kletterten, den Louvre besichtigten oder einfach spazierengingen, saßen 80 von ihnen Tag für Tag beisammen, um für den Höhepunkt des Kongresses zu proben, offiziell fünf Stunden am Tag, in Wirklichkeit jedoch länger, viel länger, um gewisse Passagen immer wieder durchzuspielen. Gewiß: Rossini und Mozart boten kein Problem, auch Brahms machte keine großen Schwierigkeiten; die traten bemerkenswerterweise bei Dukas’ „Zauberlehrling“ auf.

Für den Dirigenten des Orchesters kam es vor allem darauf an, die Mitglieder nach dem Grad ihrer Orchestererfahrung zu plazieren. Für den jungen Jean-Claude Hartemann war dies die erste Erfahrung dieser Art, die er machte. Die Lösung der schwierigen Aufgabe ist ihm gelungen, selbst unter der nicht geringen Nervenanspannung einer Fernsehaufnahme für die Eurovision.

Und jedes Jahr ist das Bedauern ähnlich groß: nach dem Konzert gehen die jungen Musiker, die in den paar Tagen wirklich Freunde geworden sind, wieder auseinander. Die Anregung einer großen Tournee durch alle Mitgliedsländer verdient aufgegriffen zu werden …

Junge Künstler aus allen Ländern hatten außerdem Gelegenheit, vor ein sachkundiges Publikum zu treten und so für den immer wieder verlangten, doch nie zustandegekomme- nen Austausch junger Musiker und Ensembles der einzelnen Mitgliedsländer zu werben. Konnte man 1965 beim Kongreß in Wien noch eine höchstens schülermäßige Ausbildung merken, so waren die Gruppen und Solisten, die heuer in Paris zu hören waren, sehr sorgfältig ausgesucht und wirk-

liehe Vertreter der Musikausbildung ihrer Heimat. Österreich war durch das Duo Günther Pichler/Heinz Medjimorec vertreten, das mit Webern, Bartok und Debussy einen beachtlichen Erfolg erreichen konnte.

Hinter dieser glanzvollen Kulisse aus Konzerten, Empfängen und Opembesuch wurde freilich auch gearbeitet. Im „Forum des Jeunes“ diskutierten Jugendliche aus fast allen Mitgliedsländern über das Verhältnis des jungen Menschen zur Musik. Aus den Diskussionen kristallisierten sich vier Fragen heraus:

Nimmt die Musik einen wichtigen Platz im Leben des jungen Menschen ein?

Die Antwort mußte überraschen: Man kam nämlich zu der Ansicht, daß Musik nur eine Minderheit der Jugendlichen unter Dreißig zu interessieren vermag.

In welchem Alter und unter welchen Umständen haben Sie die Musik entdeckt?

Hier variierten die Antworten nach den Ländern: zwischen sieben und vierzehn Jahren. Und unter welchen Umständen? Es zeigte sich der Einfluß der Umwelt: in der Familie, in der Schule, auf der Universität. Ferner zeigte sich bei der Auswertung der Diskussion, daß mehr als 80 Prozent der jugendlichen Musik als Hörer erleben, nur kaum 20 Prozent dagegen durch eigenes Musizieren oder Chorgesang.

Durch welche Werke und welche Künstler haben Sie die Musik entdeckt?

Das Ergebnis dieser Frage war fast ein Streifzug durch die Musikgeschichte! Immerhin aber nannten alle einen Namen an bevorzugter Stelle, den Beethovens. Die Reihenfolge: Barockmusik, Klassik, Romantik. Zeitgenössische Musik figuriert erst sehr weit hinten: Kaum drei Prozent der Antworten bekannten sich zu ihr…

Womit könnte man die Jugend mehr als bisher' für die Musik erfassen?

Eine Überfülle von Antworten fand sich auf diese letzte Frage. Fast alle, die dazu Stellung genommen hatten, waren sich über den unzureichenden Musikunterricht in ihren Heimatländern einig. (Übrigens: eine österreichische Stellungnahme zu diesen vier Fragen war nicht zu erhalten.) Aber auch der Presse, dem Rundfunk, dem Fernsehen wurde die Schuld daran gegeben.

Drei Große der zeitgenössischen Musik, die alle den „Jeunesses Musicales“ verbunden sind, sprachen nach dem feierlichen Schluß der Generalversammlung zu den Kongreßteilnehmern, die sich im großen Saal des UNESCO-Gebäudes versammelt hatten: Zoltan Kodaly, seit 1965 Ehrenpräsident der ungarischen Gruppe, Luigi Dallapiccola,dessen Kantate „Der Gefangene“ vor zehn Jahren in einem Konzert der Pariser „Jeunesses“ uraufgeführt, und Andrė Jolivet, dessen „Concerto“ vor 15 Jahren von den JMF begeistert aufgenommen worden war. Thema: Die Erziehung zur Musik. Kodaly hatte es da wohl am leichtesten: Längst ist die Erziehung zur Musik in Ungarn sprichwörtlich und vorbildlich, nicht zuletzt dank seiner eigenen Tätigkeit. Musikerziehung durch das Singen, Übung durch den Choral, endlich Praxis am Instrument. Auf diese drei Punkte baute Andrė Jolivet seine Überlegungen zum Musikunterricht auf, trotz aller Berieselung durch Tonkonserven. Und Luigi Dallapiccola erinnerte die jungen Leute daran, sich ihr besonderes Verfügungsrechtes über die Musik ihrer Zeit stets bewußt zu sein…

Renė Nicoly, „President — Fondateur“ der „Jeunesses Musicales“, ist übrigens unter die ganz Großen dieser Welt gereiht worden: Seit kurzem findet sich sein wächsernes Ebenbild im „Musėe Grėvin“.

Unweit von Maria Callas und den Beatles.

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