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ALTERNATIM UND COLLAPARTE

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Das Wiederaufgreifen alter Formen ist eine der wichtigsten Quellen musikalischer Erneuerung. Nach der nahezu bis zur Auflösung reichenden Lockerung formaler Elemente, die seit den Tagen der Romantik und des Impressionismus sich immer mehr ausbreitete, sind seit geraumer Zeit gegenteilige Strömungen wirksam, die im energischen Zurückgreifen auf formale Strenge die Musik, die vor allem „tönend bewegte Form“ ist, wieder in ihrem eigentlichen Sinn erneuern, aus ihrem eigenen Wesen heraus beleben wollen.

An diesem bewegten Leben einer nicht immer geradlinig verlaufenden Entwicklung hat die Kirchenmusik ihren stets wesentlichen Anteil genommen, der sich neuestens, angeregt durch die päpstlichen Enzykjiken, den alten Gesangs-und Musizierpraktiken im Gottesdienst zuwendet und mit ihnen überraschend neue und lebendige Wirkung erreicht. Am durchgreifendsten wird die „Alternatim-Praxis“ das Bild verändern. (Wechselgesang oder auch Wechsel von Gesang und Spiel.) Bisher wurde der Wechselgesang nur im Gregorianischen Choral praktiziert zwischen Vorsänger und Chor, Schola und Chor oder auch zwischen zwei Chören. — Der weitere Schritt, Wechselgesang zwischen Schola (oder Chor) und Volk geht in unseren Landen zögernder, in anderen lebhafter vor sich. Im Dom' zu Straßburg hörten wir an einem Wochentag ein Che-ralamt, das die Choralschola abwechselnd mit dem Volk sang. In der Abteikirche von Mar-moutier war es sogar eine Neukomposition, in der das Volk die ihm zugedachten Teile willig aufnahm und freudig mitsang: eine Messe von Heino Schubert für Chor. Orgel und Volk. Diese Messe bedeutet, nicht zum ersten Male, aber, wohl in besonders charakteristischer Weise, die Wiederaufnahme der Alternatim-Praxis durch moderne Komponisten. Welche Perspektiven sich da öffnen, ist vorerst gar nicht abzusehen. Die aktive Mitwirkung des Volkes in der Missa cantata, ständige Forderung der Kirche, bisher aber ein praktisch ungelöstes Problem, ist plötzlich in greifbare Nähe gerückt. Es bedarf nur der Fähigkeit (des Komponisten zunächst), schlichtes Volkssingen mit choraler Polyphonie zu einem Ganzen zu bilden. Natürlich sind es kurze Stückchen, mit denen das Volk eingreift, das übrigens da und dort mit diesen „Aphorismen“ bereits unzufrieden ist.

Gewiß sind die geschilderten Fälle heute noch Einzelfälle, aber sie mehren sich zusehends, besonders überall dort, wo Pfarrer und Chorleiter in gemeinsamer Arbeit und Besonnenheit am Werke sind. Leichter noch als in der Missa ist die Alternatim-Praxis in Vesper und Andacht durchzuführen, wo beispielsweise Orgelversetten für einzelne Psalmverse stehen können und damit die Schwierigkeit und ermüdende Gleichförmigkeit textlicher Längen überwunden wird. In der Pfarrkirche von Ebersmünster hörten wir, vom Volk gesungen, das „Veni creator“. von dessen sieben Strophen jedoch nur die erste, vierte und siebente gesungen wurden; für die anderen standen Orgelversetten von Cabezon, Byrd und Titelouze. Der Eindruck war keineswegs gestört, vielmehr erhöht, da keine mehrweniger gewaltsamen Improvisationen, sondern für diesen Zweck komponierte kleine Meisterwerke, die den Cantus weiterführen, zwischen den Singstrophen erklangen. Eine ganze Literatur von Orgelversetten vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart ermöglicht dem kundigen Organisten reichste Auswahl. Die Orgel wird wieder das liturgische Instrument, von dem sie vielfach zum bloßen Continuo herabgesunken war. Daß ihre Aufgabe nicht nur (oder überhaupt nicht) in der Chorbegleitung bestand, beweisen die alten, ausnahmslos a-cappella gesetzten Chorpartituren, überzeugender noch aber die alten Orgeln (zum Beispiel in Ebersmünster, 1736, in Marmoutier 1710 gebaut, beide von Andreas Silbermann), die auf differenzierte Spielkunst, nicht auf Stützklang disponiert sind. Ihren unerschöpflichen Klangreichtum, der auch einen schöpferischen, nicht nur technisch sauberen Organisten verlangt, hörte ich sie unter den Meisterhänden von Michel Chapuis (Paris), Dr. Johanna Blum (Bozen), Dr. Rudolf Walter (Kissingen) und Guido Bartsch (Basel) entfalten. Diese Orgeln wirken auf die großen Organisten wie Magnete, und wer nur aufmerksam hinhört, spürt das ungeheure Leben und das gewaltige Tedeum, das diesem Pfeifen- und Registerwerk entströmt.

Wo der Chor allein das Ordinarium (und Proprium) zu singen hat, bekommt die Hochamtsmusik allmählich etwas Schablonenhaftes, trotz aller Vielfalt der vorhandenen Werke und Stile. Hier kann die Colla-parte-Praxis (Mitspielen der Singstimmen durch Instrumente) halbe Wunder wirken. H. L. Hasslers „Missa secunda“ klang mir auf diese Art gleichsam wie ein neues Werk von erstaunlicher Belebtheit und Vielfalt. Der Bearbeiter Dr. Richard Roth (Rheinfelden) hat Oboe, Englischhorn, Horn und Fagott mit den Singstimmen geführt und durch seine Kunst der Gruppierung, Aussparung, Pausierung und Plenoführung dieser verschiedenen Gattungen angehörenden Instrumente überraschende Wirkungen erzielt. Der Klang der Singstimmen erhielt Glanz und wechselnde Farbigkeit der Tönung, wie es ja wohl auch seinerzeit Absicht und Wirkung war, denn die a-cappella-Zeit sang selten wirklich a-cappella. Da mit dem künstlerischen Wert dieser Collaparte-Technik ein enorm praktischer, nämlich die leichter zu erzielende Sauberkeit der Intonation Hand in Hand geht, dürfte die Wiedereinführung dieser Praktik sich schnell durchsetzen. Allerdings ist es auch hier der Geist, der lebendig macht; ein buchstäbliches Mitspielen von Anfang bis Ende wird nicht beleben, sondern töten. Der Komponist von heute jedoch wird um so lieber auf diese Praktik zurückkommen, als er damit, besonders bei schwierigeren und anspruchsvolleren Voraussetzungen der modernen Musik an die Sänger, diese Schwierigkeiten nicht nur mildern, sondern darüber hinaus ihre Wirkungen erhöhen, das heißt Sing- und Instrumentalstimmen immer wieder trennen und vereinen kann.

Einer Neubelebung nicht minder bedürftig ist die Missa lecta in der Form der Betsinginesse. Bisher hat man als Ordinariums-Paraphrasen die betreffenden Strophen der alten Singmessen verwendet und damit das Meßlied („Wohin soll ich mich wenden“ oder „Hier liegt vor Deiner Majestät“) als musikalisch zusammenhängendes Ganzes zerstückelt und mit stilfremden Elementen eines oder mehrerer Zeitlieder vermischt, also ein stilistisches Obskurum, anderseits durch den ständigen Wechsel von Bruchstücken ein Moment der Unruhe geschaffen, das der Andacht, der Sammlung und oft genug auch der Würde abträglich ist. Man kann eine neue Form nicht mit lauter Stückwerk alter Formen, mit lauter Anleihen und Notbehelfen schaffen. Ein Geist der Erneuerung muß seine eigene Form bilden, seine eigene Aussage tun, seine eigenen Lieder singen. Der bisher ernsteste Versuch dazu scheinen die Ordinariums-Paraphrasen zu sein, die Ernst Pfiffner auf Texte von Christian Feer komponierte. Sie sind weniger Lied als singendes Beten, rhythmisch und melisch dem Worte nachgezeichnet, dabei absolute musikalische Funktion in ebenso schlichter als knapper Fassung, der Aufnahmsfähigkeit einer singenden Gemeinde entsprechend. Als Propriumlied war ein Psalm von Kaspar Ulenberg (16. Jahrhundert) in vier verschiedenen (alten und neuen) Satzweisen dem Chore anvertraut. Die Wirkung war die eines musikalischen Opfers, des Geistes erfüllt, dem es sich darbrachte.

Die „Internationale Bildungswoche für katholische Kirchenmusik“, der ich diese Eindrücke und Erlebnisse verdanke, geht auf private Initiative eines kleinen Kirchenmusikerkreises aus Basel zurück, der denn auch die Organisation durchführte. Die interessante Programmbildung mit ihrer weiten Sicht lockte eine größere Zahl von Teilnehmern an (es waren annähernd hundert), als die Initiatoren erwartet haben dürften. Begünstigt durch die Bischöfe von Straßburg und Basel, die das Ehrenpräsidium übernommen hatten, sowie durch Landesgruppen des Cäcilien-verbandes (in Straßburg war die Tagung Gast des dortigen Diözesan-Cäcilien-Verbandes und von seinem Leiter, Domkapellmeister Msgr. Alphonse Hoch, betreut), konnte sie sich des größten Wohlwollens und Entgegenkommens der geistlichen Stellen sowie der liebenswürdigen und gastfreundlichen Bevölkerung des Elsaß' erfreuen. Sie, unterschied sich in wesentlichen Punkten von Veranstaltungen ähnlicher Art. Es wurde wenig „referiert“, die beiden Referate von Professor Johannes Overath („Der Kirchenmusiker vor neuen Aufgaben“) und Dr. Urbanus Bomm („Sinn und Wert unserer Choralausgabe“) waren allerdings von grundlegendem Wert (und von seltener Freizügigkeit der Schilderung). Die Woche war angefüllt mit musikalischer Arbeit, die stets neuen Gedanken diente und neue Formen praktisch erprobte und klärte. Der geistliche Leiter P. Dr. Hubert Sidler (Stans) verstand in wenigen Worten auf Entscheidendes hinzuweisen und die (genügend bemessene) Freizeit erlaubte den Teilnehmern das persönliche und geistige Eiriander-Begegnen und Einander-Verstehen. Das schöpferische Verdienst an diesem kirchenmusikalischen Ereignis ist aber dem (in den Programmen kaum genannten) Chordirektor und Komponisten Ernst P f i f f n e r aus Basel zuzuerkennen, der mit einem kleinen Freundeskreis Planung und Durchführung des besonders organisatorisch sehr schwierigen Unternehmens zu gestalten und zu verantworten hatte.

Man hörte Musik aus allen Zeiten. Kein Bruch war zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Wenn Michel Chapuis in seinem Orgelkonzert Werke von Couperin, Corette und Bach spielte, hörte man im Programm von Guido Bartsch Hindemith, Reda, Reichel, Leyding, in dem von Dr. Rudolf Walter Liszt, Reger, Schnieder und Pfiffner, dessen Partita „Gott sei gelobet“ zu den profiliertesten Orgelstücken der Gegenwart gehört.

In Ebersmünster sang der Kammerchor der Kantorei Leonhard Lechner (Bozen) unter Oswald Jaeggi Andacht, Hochamt und Marianisches Konzert. Erstere durchwegs alternatim mit der Orgel (Johanna Blum), das Hochamt ein Choral-Ordinarium zu mehrstimmigem Proprium, im Marianischen Konzert ganz auf seine a-cappella-Kunst gestellt ein äußerst anspruchsvolles Motettenprogramm aus fünf Jahrhunderten, von Ockeghem und Josquin bis Heiller und Strawinsky. dessen „Ave Maria“ kaum je so vergeistigt interpretiert worden sein dürfte. Der Kammerchor steht heute mit an der Spitze modernen Chorsingens. Neben der gesangtechnischen Schulung, der klanglichen Homogenität, der blitzsauberen Interpretation und musikalischen Gelöstheit ist sein geistiges Profil von erlebnishafter Intensität. Sein Singen ist Spannung von Anfang bis Ende, kein tönender Leerlauf dazwischen, ist gleichsam klingende Anschauung, die Stimmen sind nie Selbstzweck, immer im Dienste der Gestaltung des geistigen Bildes.

In Marmoutier sang der Chor der Bildungswoche unter den Dirigenten Paul Schaller und Richard Roth lateinische und deutsche Messeformen; die „Missa secunda“ von Hassler mit Instrumenten colla parte, die Messe von Heino Schubert alternatim mit dem Volk, und zwei verschiedene Formen der Betsingmesse. Das musikalische Bild dieses Chors beruht auf dem Wohlklang schöner geschulter Stimmen, die durch gewandte Führung und Selbstkritik zu schöner Ausgewogenheit gelangen. Um so bedeutsamer ist die Modulationsfähigkeit, das rasche Erfassen wechselnder stilistischer Voraussetzungen, das nie in artistischer Fertigkeit, sondern stets in menschlicher Empfindungsskala sich ausdrückt.

Neben diesen Chören lösten die Choralscholen der Bildungswoche (Urbanus Bomm) und des Straßburger Doms (Abbe Kirchhoffer) ihre anspruchsvollen Aufgaben in einer Weise, die nur vorbildlich genannt werden kann. Ein ad hoc gebildetes Vokalensemble aus Basel blieb hinter diesen Leistungen nicht zurück. — Kein Teilnehmer dürfte sich dieser erlebnisreichen Woche erinnern ohne einen Gruß an das schöne Land und seine liebenswürdigen Bewohner, die es so natürlich verstanden, es den Gästen heimatlich zu machen.

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