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Gregorianischer Choral und Wiener Klassiker

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Drei Kardinalfragen drängen sich bei der Betrachtung der gegenwärtigen kirchenmusikalischen Lage immer wieder vor: Warum wird in unseren Kirchen so wenig Choral gesungen? Trotz vieler Bemühungen will er keine tieferen Wurzeln fassen. Dagegen erfreuen sich die Messen der Wiener Klassiker einer ihrer liturgischen Werthaltigkeit nicht zukommenden Beliebtheit. Was hält die Chöre ab, daß sie den Schritt in die neuere Kirchenkunst nur zögernd tun? Ist es nur Bequemlichkeit, Lokalpatriotismus oder Unverstand? Von der wichtigsten Person der Kirchenmusik, dem Sänger, soll versucht werden, Klarheit zu bringen.

Wer um die Wiederbelebung des gregorianischen Chorals sich bemüht, muß wissen, daß der Mensch heute neben seinen vielen anderen Nöten eine innere Einsamkeit in die Kirche mitbringt, die ihn für diese. Kunst des Mittelalters indisponiert. Er kann über die gotischen Dome staunen, zum Bauen reicht seine Kraft nicht mehr. Der von Priester, Chor und Volk gesungene Choral läßt jene musikalische Einheit entstehen, die uns ergreift. Selbst als diese Einheit durch das Eindringen des polyphonen Gesanges zerriß, blieb die Musica sacra eine Kunst der Sänger, und alle großen Zeiten der abendländischen Kirchenmusik sind vom hohen Stand der Gesangskultur ihrer Epoche bestimmt. Hinter Palestrina steht die römische Schule, die großen Niederländer kommen aus den Hofkapellen der Fürsten, die singfrohen Kantoreien der deutschen Städte prägen die Kunst Schütz' und Bachs und an den Höfen der Wittelsbacher und Habsburger wächst das Barode zur Kunst der Wiener Klassiker. Vom Choral nehmen sie alle den Vorrang des Vokalen mit, selbst dann noch, als die Zeit nur mehr wenig mit der Liturgie anzufangen wußte.

Der einst erbittert geführte Kampf' um die Wiener Klassiker ist längst zu Ende. Manche musikalische Konversion hat es seitdem gegeben. Ihre Kirchenwerke konnten nicht so einfach umgebracht werden, weil sie so sehr vom Wort her empfangen sind, daß darin .ihre Lebenskraft für die Zukunft beschlossen lag. Wenn ihre Meßkompositionen als „Orchestermessen“ bezeichnet werden, mag das eine ganz äußere Bezeichnung sein. Der Text des heiligen Wortes hält nicht vielleicht eine klassische ) Mitte, er hat überall den unbestrittenen Primat. Es sind Chormessen, die ein Orchester begleitet! In diesem Sinne sind sie trotz einiger Schönheitsfehler liturgisch. An den größeren Kirchen wurde ein Chor von Berufssängern beschäftigt, der mit großer Gewissenhaftigkeit zusammengestellt wurde. Leopold Mozart schreibt in einem aufschlußreichen Brief an seinen Sohn, was am Salzburger Dom bei einem „coneurs“ von einem Kirchensänger verlangt wurde. Es ist eine Selbstverständlichkeit, daß eine Messe dieser Zeit nach den Gesetzen der

Gesangskunst geschrieben ist. Das ist auch der wahre Grund, warum unsere Chöre mit solcher Liebe und freilich auch manchmal Ausschließlichkeit nach Haydn, Mozart und Schubert greifen. Diese Musik hat die Kraft, den Menschen vom Tage zu lösen und, wenn die Stimmen richtig geleitet werden, jenes physische und seelische Wohlbefinden zu erzeugen, das ihm not tut. Auch die schwierigsten Stellen können von durchschnittlich geschulten Sängern bewältigt werden. Da findet sich nichts Unsangliches, alles ist vokal empfunden! Leider wird das chorische Hauptereignis durch zu dicke Orchesterbesetzung oft verwischt. Haydn fand in Eisenstadt mit 20 Chorstimmen und 15 Orchestermitgliedern sein Auslangen.

Die kirchliche Gesetzgebung hat sich nicht umsonst gegen den Einbruch der Instrumente in die Kirche gewehrt. Seit Beethoven hat ein Ringen der Instrumente mit der vox humana eingesetzt, vor deren Übermacht die Sänger schließlich kapitulieren mußten. Schon 1830 klagte Goethe: „Die deutschen Orchester sind egoistisch und wollen sich als Orchester hervortun und etwas sein.“ Die Romantik vergrößert das Orchester'und verfeinert dessen Technik. Das Musikdrama stellt stimmenmörderische Anforderungen an den Sänger und macht ihn zu einem Instrument wie die anderen. Jetzt erst dringen Oper, Konzert und Symphonie in die Kirche. Im symphonischen Messestil Bruckners können Themen aus den kirchlichen Werken in den Symphonien stehen, die Symphonien werden auch umgekehrt Messen ohne Text genannt.

Mit den Werken der Hochromantik setzte für die ganze Musikentwicklung eine rückläufige Bewegung ein. Die Ernüchterung war durch die äußeren Umwälzungen fällig geworden. Der neue Weg in der Kirchenmusik mußte sich durch eine ehrliche „sanatio in radice“ — einer Heilung in der Wurzel — beim gregorianischen Choral und Palestrina finden. Schon im vorigen Jahrhundert war zu unrechter Zeit während der Blüte der Romantik ta>n den Cäcilianern ein Vorstoß in das Urland der Kirchenmusik unternommen worden. .Das beglük-. kende Ergebnis war: Das Schwergewicht aller kirchlichen Musik muß sich auf das Vokale verlagern, bis heute ist diese Umkehr nur eine halbe geblieben. Wenn es auch niemand mehr einfallen wird, Messen mit Richard Straußscher Orchesterbesetzurug zu schreiben, was nützt es, wenn dafür das Orchester in den Singstimmen feierliche Auferstehung hält! Die Polyphonie Pastri-nas war eine Vokalkunst! Heute entsteht das Paradox, daß viele liturgisch einwandfreie A-capella-Werke moderner Richtung instrumentaler sind als die sogenannten „Orchestermessen“ der Wiener Klassiker.

Die stimmtechnischen Anforderungen stehen für die Chöre im umgekehrten Verhältnis zu deren Können. Man kann moderne Werke nicht singen! Nur Chöre mit vielen Berufssängern können sich daran wagen. Natürlich hat der Komponist sich nicht nach dem Können der Durchschnitts-'chöre zu richten, auf jeden Fall aber muß die Leistungsfähigkeit des menschlichen Sinigorgans berücksichtigt werden und die Gesetze der Stimmphysiologie oberste Norm sein. Freilich entbehren die Schwierigkeitsgrade nicht einer zeitgebundenen Relativität; ist die Verfassung unserer Chöre so, Letztes wagen zu können? Oder rechnet man von vornherein damit, daß das Werk nur einem kleinen Kreis zugänglich sein soll? Damit wäre mit dem Cäcilknismus auch dieser Versuch um eine neue Form der Kirchenmusik einer tiefergehenden Wirkung beraubt.

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