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Sehnsucht der Jugend nach Mystik führte zur Renaissance

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Millstätter Orgelfestwochen, Wiener Orgeltage in Pötzleins- dorf, Kirchenmusikwochen in St. Pölten, Orgelseminar in Innsbruck, Orgel-Improvisationswettbewerb in Wien-Baumgarten, Orgelkonzerte jeden Mittwoch im Stephansdom, gar nicht zu erwähnen die unzähligen Orgelkonzerte und Orgelfeste in den Stiften, Domen und Pfarreien überall in den Bundesländern des ganze Jahr hindurch. Das gleiche gilt Tür Italien, Frankreich, Holland und Deutschland, ja selbst für die skandinavischen Länder. Alte, historische Orgeln werden entdeckt, renoviert, doch nicht nur das: Neue Orgeln, zum überwiegenden Teil mechanische Werke, - kaum mehr eine elektrische oder pneumatische - werden neu gebaut Und wie stolz ist jeder Organist, der eine mechanische Orgel zur Verfügung hat! Da kann er den Klang beeinflussen, ob der Ton plötzlich oder langsam, weicher oder härter kommt, da wird gedrückt und gezogen und nicht wie auf dem Klavier geklopft! Das ist sicher einer der Gründe, warum das Orgelspiel so fasziniert. Nach vielerlei Experimenten weiß man nun, daß man nur an einer mechanischen Orgel wirklich spielen kann, an ihr kann der Spieler seine Virtuosität beweisen und der Konzertbesucher lauscht fasziniert. Am Ende des 20. Jahrhunderts ein Anachronismus, den uns die Nostalgiewelle beschert?

Wer ein Orgelkonzert besucht, wer den unglaublichen Erfolg des „Karin- thischen Sommers“ analysiert oder die Teünehmer eines Orgelwettbewerbes beobachtet, dem fällt die Menge junger Leute auf - 70, ja oft 80 Prozent der Interessenten sind unter 30 Jahren. Die Nostalgiewelle allein wird das wohl kaum hervorbringen.

Professor Leopold Marksteiner vom Konservatorium der Stadt Wien stellt seit fünf Jahren ein stetig steigendes Interesse an Orgelkursen fest, das sich heuer zu einem wahren Boom ausgewachsen hat. Er selbst unterrichtet 20 Schüler, mehr können nicht aufgenommen werden.

In der Diözesankommission für Kirchenmusik lernen heuer etwa 150 Interessenten das Spiel auf der Königin der Instrumente Von der Pike auf. Fünf Orgeln stehen ihnen am Stock- im-Eisen-Platz zur Verfügung. Der Kursbetrieb geht von acht Uhr früh bis neun Uhr abends. Trotzdem ist noch immer zuwenig Platz für alle Schüler, diedortübenmöchten.Prälat Anton Wessely und seine Lehrer bemühen sich, auswärts in Kirchen Ubungsstunden zu arrangieren. Zehn staatlich geprüfte Orgellehrer unterrichten an der Wiener Diözesanschule. Die Schüler sind nicht nur Wiener, sie kommen vielfach aus den Landgemeinden der Erzdiözese.

Auch an der Musikakademie kann Professor Michael Radulescu einen starken Zulauf zum gehobenen Orgel- Studium,’ zur Konzertklasse feststellen. Aus Amerika, ja selbst aus Japan, wo es weder eine Tradition noch viele Instrumente gibt, kommen Studenten. Die drei Professoren für Orgelmusik, Heiller, Haselböck und Radulescu, veranstalten nun zum fünften Mal gemeinsam ein Orgelseminar, das sämtlichen Hörern der Akademie zugänglich ist. Dort wird Orgelmusik aller Jahrhunderte von der Komposition, von der Technik und von der Interpretation her den Studenten nahegebracht.

Bei den internationalen Orgelwettbewerben haben die Österreicher häufig hervorragend abgeschnitten, bei den „Olympischen Spielen der Organisten“ in Leipzig, die alle vier Jahre veranstaltet werden, konnten zwei Schüler von Professor Alois Forer in Salzburg den Johann-Sebastian-Bach- Preis erringen.

Diese plötzliche Begeisterung für Orgelmusik mag sicher in erster Linie im Zusammenhang mit der allgemeinen Musikexplosion gesehen werden. Nach der großen Welle des passiven Hörens von Radio, Schallplatte und Band - einer Zeit, da man fürchtete, selber spielen gehöre der Vergangenheit an - hat nun in aller Welt mit einem Schlag das aktive Musizieren begonnen. Wenn noch zu Beginn der siebziger Jahre die Philharmoniker über den spärlichen Streichernachwuchs klagten, so können sie heute unter den Instrumentalisten jeder Art ihre Auswahl nach hochqualifizierten Maßstäben treffen. Deutschen Untersuchungen zufolge hat offensichtlich das Fernsehen seine Zuschauer zu positiven Aktionen motiviert, selbst Gitarre, Geige, Klavier oder Trompete zu spielen.

Das erklärt allerdings noch nicht ganz das steigende Interesse am Orgelspiel, das dürfte primär auf andere Ursachen zurückzuführen sein. Die Hippie- und „ Jesus-People“-Bewegun- geü Ende der sechziger Jahre haben eine Sehnsucht nach Religiosität und Mystizismus in der jungen Generation aufbrechen lassen, die die Orgel als ihr Ausdrucksmittel schlechthin ansieht. Die Masse der jungen Amerikaner, die die jugendliche Begeisterung für die ses Instrument nach Europa gebracht hat, kommt von Religionsgemeinschaften wie den Baptisen, für die die Kirche der Treff- und Versammlungsraum ist, und wo Orgelmusik als Konzert im religiösen Leben dieser Gemeinschaften eine essentielle Rolle spielt Von dort kommt auch der in Europa früher unübliche Brauch, daß das Publikum seiner Freude mit Applaus in der Kirche Ausdruck gibt.

Diese Bewegung faßte erst in Skandinavien, in der Bundesrepublik Deutschland und in der Schweiz, also in protestantischen Gegenden, Fuß und kam einigermaßen verspätet, hauptsächlich durch wandernde Jugend und Studenten, nach Österreich. Durch Freundeskreise hat sie sich nun auch hier „epidemisch“ ausgebreitet. So hat sicher auch Peter Planyavsky, bereits mit 24 Jahren Domorganist von St Stephan, seinen beachtlichen Beitrag dazu geleistet

Prof. Radulescu meint, daß für einen jungen Menschen die Tätigkeit, dieses Hebelwerk, diese grandiose Maschinerie von Pfeifen und Blas bälgen zum Leben zu erwecken, damit auch virtuose Musik zu machen, eine unglaubliche Attraktion darstellt

Prof. Marksteiner führt den Erfolg der Orgel auch darauf zurück, daß auf ihr ebenso moderne Musik in Kombination mit Elektronik auf dem Computer gemacht werden kann. Im Studio von Prof. Stockhausen in Köln etwa wird die freie Improvisation nicht mehr durch Noten, sondern nur durch Graphik, Linien und Punkte dargestellt, wie etwa Ligetis „Volumina“. Dieter Kaufmann ist wieder in ganz andere neue Bereiche der Orgelmusik eingedrungen.

Wenn nun durch das neueste Musikschaffen der Avantgarde der Beweis erbracht wird, daß sich die Orgel, so alt sie auch ist, als modernes Instrument anpassen kann, meint Radulescu, so hat doch der größte Teil der Jugend überhaupt keinen Bezug zu dieser modernen Musik. Was sie seiner Meinung nach wirklich sucht, ist Bach. In ihren Zweifeln, ihrer Unsicherheit und Unstetigkeit, findet sie bei den alten Meistern Halt und Ordnung, sie verwendet die alte Musik geradezu als eine Art Psychotherapie. Bach erlebt heute eine Renaissance. Das Religiöse und der Symbolgehalt seiner Musik ziehen die Jugend an.

In Österreich stehen besonders gute Orgelwerke zur Verfügung, historische Instrumente aus allen Stilepochen, etwa die beiden Renaissanceorgeln in Innsbruck. Die älteste Orgel Wiens in der Franziskanerkirche von 1643 ist heute noch in sehr gutem Zu- ‘ stand. Die ausgezeichnet restaurierte 1 Orgel in Klosterneuburg hat bereits 1 drei Manuale zur Verfügung und eignet sich besonders gut für süddeutsche Barockmusik; die Backhausorgel 1 von Mekler hat durch den Karinthi- schen Sommer schon einige Berühmtheit erlangt; die Orgel der Wiener Piaristenkirche ertönt bei romantischer Musik wunderbar, Brahms und Reger lassen sich gut auf ihr spielen. Eine der besten Orgeln überhaupt stellt sicher das Werk in der Ursuli- nenkirche dar. Die Professoren der Akademie denken daran, ihre Hausorgel für öffentliche Konzerte auch dem interessierten Publikum zugänglich zu machen.

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