Er sollte "Meer" heißen

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Johann Sebastian Bach, eine der Schlüsselfiguren der europäischen Musikgeschichte, starb vor 250 Jahren, am 28. Juli 1750.

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Johann Sebastian Bach, eine der Schlüsselfiguren der europäischen Musikgeschichte, starb vor 250 Jahren, am 28. Juli 1750.

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Es ist eine Art magisches Datum. Wissenschaftler - etwa in der Neuausgabe des berühmten Bach-Werkverzeichnisses -, Sachbuchautoren, Plattenfirmen mit ihren gewaltigen Bach-CD-Editionen, die Rekorde brechen, und natürlich zahllose mehr oder minder prominente Musiker haben sich darauf in langfristigen Projekten vorbereitet: Vor 250 Jahren, am 28. Juli 1750, starb Johann Sebastian Bach in Leipzig - "der delicateste der neuern Componisten", wie viele seiner Nachfahren fanden, ein "Megastar" seines Zeitalters, wie wir heute sagen würden.

Er war ein Schwieriger. Sein Werk sollte das Musikdenken der folgenden Jahrhunderte in immer neuen Wellen entscheidend verändern. "Denn alles findet bei Bach statt", zog Anton von Webern Bilanz - und Webern stand nur in einer langen Reihe von kritisch-analytischen Bach-Beobachtern und -Bewunderern, die letztlich alle am Mythos Bach mitgearbeitet haben seit der Wiederentdeckung der Matthäus-Passion durch Felix Mendelssohn-Bartholdy, der Geburtsstunde des "Mythos Bach" ...

Er sollte nicht Bach sondern "Meer" heißen, hatte Beethoven über ihn gesagt. Und dass sein Werk ein "Thema ohne Ende" sei, fanden alle Nachfahren, von Beethoven über Richard Wagner bis zu Arnold Schönberg und Theodor W. Adorno. Das heißt: Nachdenken über Bach zwingt zu vielfältigen Überlegungen, zur Auseinandersetzung mit den verschiedensten Bereichen - mit Kunst, Philosophie, Religion und dem Begriff des Religiösen, mit alten mathematischen Weisheiten wie der Kabbala, mit Detailfragen der Musik - letztlich aber mit der "Kunst des Lebens im Geist der Musik". Bei welchem der großen Werke man auch ansetzt, man steht sofort mittendrin in einem Exkurs über entscheidende Fragen, so dass Weberns Satz, dass bei Bach alles stattfinde, eigentlich stets präsent bleibt.

Bach ist eine der Schlüsselfiguren der europäischen Musik, zu der in Entwicklungsgeschichte und Formengeschichte alle Wege führen, von der aber auch unendlich viel Zukunftsweisendes ausgeht.

Dabei war er kein Erfinder von Formen und Ausdrucksmanieren (wie so viele kleinere Meister). Aber er setzte mit unglaublicher Vitalität, Reaktions- und Kombinationsfähigkeit Ererbtes, Erfahrungen und Zeitphänomene um - nicht von ungefähr berichtet man von Bach, er habe eines der "polyphonsten" Gehirne gehabt und er sei ein akustisches Phänomen gewesen. So baute er mit seinen Möglichkeiten einer neuen Zusammenschau seinen musikalischen Kosmos. Und doch ließ der Genauigkeitsfanatiker und harte Arbeiter in einem Punkt nie einen Zweifel aufkommen: "Ich habe fleißig seyn müssen ... wer eben so fleißig ist, der wird es eben so weit bringen können", soll er selbst gesagt haben.

Das Erstaunlichste ist, dass Bach nie über seinen engen geografischen Kreis hinausgekommen ist: Eisenach, Ohrdruf, Lüneburg, Weimar, Arnstadt, Mühlhausen, erneut Weimar, Köthen und Leipzig sind die Stationen seiner 65 Lebensjahre. Dabei stand der Name Bach in Thüringen von Anfang an für eine populäre Musikerdynastie - seit der "Weißbäcker" und Lutheraner Veit Bach aus Ungarn eingewandert war.

Johann Sebastian Bachs Leben ist nie leicht gewesen. Es war von Sorgen, Not, hartnäckigem Streit gegen Kleingeister erfüllt: Vater und Mutter sterben früh, mit zehn ist er Vollwaise, die beim ältesten Bruder, dem Organisten in Ohrdruf, unterkommt und dort die alte Pachelbel-Schule durchmacht. Nachts kopiert der Fanatiker Stücke von Froberger, Fischer, Kerll, Buxtehude, Bruhns, Böhm. Mit 15 verlässt er das Haus des Bruders und die Lateinschule, um selbst für sich zu sorgen. Er wird kümmerlich bezahltes Mitglied des "Mettenchors" in Lüneburg, lernt dort aber die alte deutsche Kirchenmusik singend, musizierend und dirigierend kennen. Mit 18 ist er bereits ein hervorragender Organist und Kenner aller Spiel- und Stilarten, der bald in Weimar im höfischen Kreis - auch mit dem komponierenden Sohn des Herzogs - musiziert, und zwar italienische Musik! Er wechselt nach Arnstadt als Organist, schreibt virtuose Gelegenheitswerke im Zeitstil. Prägendes Erlebnis wird für den Zwanzigjährigen die mehrwöchige Begegnung mit dem Organisten Dietrich Buxtehude, unter dessen Einfluss er seinen Stil ändert: Damit sind Auseinandersetzungen mit den Musikbeamten vorprogrammiert.

Wie stets in seinem Leben reagiert er abrupt: Er geht. Über Mühlhausen nach Weimar, wo er neun Jahre lang als Konzertmeister und Hoforganist ein gewissenhafter Lehrer in Klavier und Komposition wird; Kantaten für die Kirche und Toccaten für den Hausgebrauch entstehen. Die Ehe mit Maria Barbara ist glücklich. In Weimar werden Catherina Dorothea, 1710 Wilhelm Friedemann, 1714 Carl Philipp Emanuel geboren. Der berühmte Telemann wird Carl Philipp Emanuels Taufpate. In Halle, Kassel, Weißenfels und Dresden brilliert er als Organist. Als man in Weimar aber die vakant gewordene Kapellmeisterstelle einem anderen überträgt, kommt es zum Krach mit dem Herzog: Bach wird am 6. November 1717 wegen seiner "halsstarrigen Bezeugung von zu erzwingender Dimission auf der Landrichterstube arretiert und endlich den 2. Dezember darauf mit angezeigter ungnädiger Dimission des Arrests befreyet".

Er übersiedelt nach Köthen an den Hof des Fürsten Leopold, wo er das Hoforchester leitet; der Fürst selbst spielt Violine, Gambe und Klavier. Es sind Jahre des größten Glücks, in denen die Brandenburgischen Konzerte, das Konzert für zwei Geigen, die Gamben- und Cellowerke, Kammermusik, der erste Teil des "Wohltemperierten Klaviers" entstehen. Als seine Frau 1720 stirbt, versucht er mit den vier Kindern nach Hamburg zu übersiedeln. Doch heiratet er 1721 zum zweiten Mal. Als aber auch der Fürst eine Frau heiratet, die Musik und Musiker hasst und Bachs Werke unerträglich findet - Bach nennt sie "Amusa"! -, flüchtet er nach Leipzig. Am Karfreitag 1723 leitet er in der Thomaskriche seine Johannespassion. Wenige Tage später führt er in der Nikolaikirche seine erste Leipziger Kantate auf.

In den folgenden 27 Jahren wird er zur Zentralfigur des Leipziger Musiklebens: Der Thomaskantor unterrichtet, er komponiert für festliche Anlässe, er musiziert mit seinen Studenten. Anna Magdalena gebiert ihm 13 Kinder, von denen neun früh sterben. Und während die älteren Söhne solide Musiker werden, erweist sich jüngste Johann Christian als besonderes musikalisches Talent.

Bach arbeitet wie besessen: Ein Bogen spannt sich vom "Notenbüchlein für Anna Magdalena" über die Geburtstagskantate für August II. von Polen bis zu den 256 Kirchenkantaten, die in Leipzig entstehen. Der Epochentermin ist aber der Karfreitag 1729: Bach hebt seine Matthäuspassion aus der Taufe. Und Leipzig versteht nicht! Das Publikum ist verstört, empört über diese "nicht-singbare Musik", die amtlichen Stellen führen Beschwerde; man überlegt "die Besoldung zu verkümmern". Wieder denkt er an Ortsveränderung. Doch er bleibt. Denn seine guten Beziehungen zum Dresdner Hof kommen zum Tragen: Er verfertigt für das katholische Dresden seine h-Moll-Messe und erhält von August III. den Titel eines Hofcompositeurs. Das Weihnachtsoratorium entsteht. Und er wendet sich ganz der Orgel und dem Klavier zu, dem polyphonen Spiel. Und für den an Schlaflosigkeit leidenden Dresdner Grafen Kayserlingk entstehen 1742 die Goldberg-Variationen.

Mehrmals besucht Bach Berlin. 1747 kommt es zur denkwürdigen Begegnung mit König Friedrich II. von Preußen in Sanssouci, als er auf einem neuen Silbermann-Flügel über ein König vorgegebenes Thema improvisiert und fugiert. Das königliche Thema verarbeitet er schließich und sendet die Komposition Friedrich II. Er nannte sie "Musikalisches Opfer".

Der Besuch in Sanssouci war gleichsam Bachs Abschied von der Welt. Sein letztes Lebensjahr widmet er seiner "Kunst der Fuge", während seine Sehkraft rapid nachlässt. Seinem Sohn diktiert er noch als letzten Choral "Vor deinen Thron tret' ich hiemit". Am 28. Juli 1750 stirbt er. Und gerät in Vergessenheit. Man setzt ihm nicht einmal einen Gedenkstein; seine Witwe wird "Almosenfrau", für die letzte Tochter Bachs muss später gesammelt werden.

Lange kannte man nicht einmal die Stelle seines Grabes. Erst 1894 wird der Sarg entdeckt. 1949 überführt man die Gebeine in die Thomaskirche.

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