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Der unbekannte Bach

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Wenn hier einiges über Bach gesagt wird, so ist natürlich Johann Sebastian gemeint, der von Tausenden angestaunte, bewunderte und doch in so vielen Einzelheiten noch immer unbekannte Meister aller Meister. Über ihn sind ganze Bibliotheken geschrieben worden, und doch bleibt er rätselhaft und blickt aus nebelhafter geistiger Ferne des weithin überragenden Genies auf das Ameisengeschlecht unserer Tage, das gerade, weil es das Genie sucht und gerne künstlich hervorbringen möchte, so jämmerlich arm ist an Genie.

Wir meinen den unbekannten Bach, nicht nur den des Wohltemperierten Klaviers, der Matthäuspassion und der Brandenburgischen Konzerte, sondern den verborgenen, geheimnisvollen der Choralvorspiele und Kantaten. Ist der Inhalt seines Lebenswerkes an Kompositionen unfaßbar umfangreich, weit umfangreicher als das unserer Klassiker, so sind die fast unbekannten Kantaten immerhin das Herzstück seiner Lebensarbeit. Rund zweihundertfünfzig Kantaten liegen vor; wer weiß, wie viele verloren sind. Man könnte fünf Jahre hindurch fast jeden Sonntag eine neue aufführen, ohne ans Ende zu gelangen. Trotzdem meine ich mit der Unbekanntheit nicht die Tatsache, daß man bei uns in Wien an allen Ecken und Enden herumlaufen muß, um überhaupt zum Notenmaterial einer weniger bekannten Kantate zu gelangen, nein, diese Gleichgültigkeit ist nicht gemeint, sondern daß der große Johann Sebastian in seinem innersten Wesen gerade für die Musiker der Stabführung oft der unbekannte Meister bleibt. Dazu folgende Überlegung: Der weltlich orientierte Titanismus Beethovens, die Mondlandschaft der Romantik, ja selbst die Karikatur einer Musik im Teufelstanz der modernen Einfallslosigkeit ist vielen Chor- und Musikleitern in ihrer seelischen „Jazz”-Nähe zugänglicher, als die innere Seelenhaltung des großen Johann Sebastian. Denn Bachs innerste Basis ist und bleibt die Religion, Gottesnähe. Daher die Ahnungslosigkeit, mit der die Matthäus- passion zum Beispiel zum bühnendramatischen „Effekt” aufgeplustert wird. In solchen Fällen verhüllt die Badische Muse trauernd ihr Haupt. Johann Sebastian bleibt unbekannt, oder sagen wir besser: er wird heute noch verkannt.

Ein Beispiel für viele. Bach kennt nur ein einziges Tempo, die Dynamik, die sich aus dem regelmäßigen Pulsschlag eines reifen Mannes ergibt, nicht eines nervösen Pathe- tikers, sondern der in Gott ruhenden Seele eines gläubigen Menschen. Eine Beschleunigung im Rhythmus wird nur dadurch erzielt, daß eben mehr Noten auf einen Taktschlag fallen, Sechzehntel, Zweiunddreißigstel usw. Der Taktstrich ist ganz Nebensache.

Der Pulsschlag ist aber ein Merkzeichen Gottes im Blutkreislauf des Menschen, seine Lebensuhr, die nur normal läuft, wenn sie in Gott ruht; sie gibt den Begriff des Zählens, der Zahl überhaupt, und wenn irgend etwas blitzartig die Tiefe der Überlegung und die unbeschreibliche Einfühlung Bachs in das Wort der Bibel erweist, so ist es eben die Zahlenmystik, die Bachs Tonschaffen begleitet. Es sei hier einiges darüber mitgeteilt (vergleiche Martin Jansen im Bach- Jahrbuch 1937 und H. Beesch, Bachs Frömmigkeit und Glaube). Was soll man dazu sagen, wenn zum Beispiel in den Passionen dort, wo der Evangelientext von „Gesetz” redet, Bach das Thema seines Turbachors genau zehnmal wiederkehren läßt (zehn Gebote). Wenn die Juden auf die Anfrage des Pilatus sprechen: „Wir dürfen niemand töten”, so wird das Thema dieses langen Chorsatzes über diese vier Worte gebildet durch fünf in chromatischer Folge aufsteigende Töne über die Stammsilbe töten: Siehe das 5. Gebot! Die berühmte Stelle „sein Blut komme über uns und unsere Kinder” zerfällt in eine 36malige, beziehungsweise 3.4malige Wiederholung dieser Worte. Addiert geben diese Zahlen das Jahr der Zerstörung Jerusalems (70 nach Christi), 34 aber ist das Todesjahr Jesu Christi. Wenn von den 30 Silberlingen die Rede ist, damit Judas seinen Verrat bezahlt erhielt, beträgt die Zahl der Kontinuonoten genau 30.

Sollte das alles nur eine Spielerei mit Zahlen und Worten bedeuten?

Beesch führt eine ganze Anzahl weiterer nachweisbarer Zusammenhänge an, die Bachs Überlegung und das völlige künstlerische Einssein mit dieser vielleicht rein handwerksmäßigen Zeichensprache beweisen. Wer weiß heute etwas davon? Das Obwalten strenger Überlegung im Verein mit unfaßlichem musikalischen Können und der Überfülle der Phantasie deuten hier auf ein Stück des unbekannten Bach. Mag sein, daß früher unter den Meistern der Tonkunst, ähnlich wie bei den Meistern der Dombauhütten, geheime Meisterzeichen üblich waren, die dem Kenner den Erbauer des Dorpes verrieten. Derartige, den Fremden unbekannte musikalische Meisterzeichen mochten unter den Mitgliedern der Familie Bach verbreitet gewesen sein. Gehörte diese Zahlenmystik dazu?

Es wäre nun völlig verfehlt, aus diesen gewiß interessanten, aber immerhin doch äußerlichen Zeichen etwas anderes als Vertrautheit mit der Bibel herauszulesen. Diese Vertrautheit jedoch setzt die innere Vertrautheit der Dirigenten Bachscher Werke voraus. Wer sie nicht hat oder nicht fühlt, dem entzieht sich eben Bachs innere Kunst und es bleibt nur der äußere Bau. Er mag bedeutend genug sein, um Konzertsäle ztf füllen und hunderttausend Musiker in aller Welt in Bewegung zu setzen, mag als Gewand mit herrlichstem Schmuck beladen sein, etwas Schemenhaftes, Geisterhaftes bleibt bestehen, der wahre Körper fehlt, man erlebt Bachs Handwerk, aber nicht seine Seele. Und auf die kommt es an.

Das meiste bei Bach ist Gelegenheitsarbeit, aus der Praxis seinem Genius abgenötigt. Das erweisen Umfang und Zweckbedingtheit seiner Kompositionen. Er schrieb als bewußter Lutheraner katholische Messen für August den Starken, weil sich in tiefster dogmatischer Grundhaltung das Incarnatus, Crucifixus und Resurrexit mit dem Luthertum, dem er bedingungslos huldigte, sehr wohl vertrug. Dennoch kannte sein Schaffen Grenzen, nicht etwa die des Könnens, sondern des „Nichtkönnens”. Der moderne, glaubenslose Musiker kann alles, er schafft jenseits von Gut und Böse um des Schaffens willen und geht, wie ein Bach-Biograph richtig sagt, in alle Zauberschlösser Klingsors ein, weil ihn seine dionysische Erregung dazu veranlaßt, immer neue Sphären des Anreizes zu suchen. Nicht so Bach. Er weiß, daß echte Freude, echte Leidenschaft, echtes Leben nur erwächst im Zusammensein mit dem Ewigen. Sogar sein Humor hat etwas von der Freude am Jenseitigen. Aber er weiß, daß die Musik neben ihrer Aufgabe, Gottes Lob zu preisen, auch zur „Rekrea- tion” des Gemütes beitragen soll. Er weiß etwas von dem Gesang Davids am Krankenlager des an finsterer Dämonie leidenden Königs Saul. Doch merke man den Doppelsinn des Wortes „Rekreation”. Nicht nur Heiterkeit und Lustgefühle, sondern Wiederbelebung ist gemeint, also auf der einen Seite, negativ gesehen, Bedrücktheit bis zur Verzweiflung, auf der andern Seite alle Not gebannt und verscheucht durch Erquickung und Wiedergeburt.

Der große Johann Sebastian hat über das Wesen seines Schaffens kein Wort verloren. Es ist ebenso gefährlich wie unmöglich, in! seiner Biographie wie bei andern Meistern des Wortes und der Töne einen bestimmten Werdegang festzuhalten. Selbstverständlich war Bach fleißig bis zum äußersten, alle bedeutenden Köpfe sind fleißig. Die billige Hypothese früherer Jahrzehnte, das ganze Gebiet des Schaffens in Einflußsphären zu zerzupfen, hält bei ihm nicht. All diese Dinge sind für ihn uninteressant! fast ebenso uninteressant, als es für uns „interessant” wäre, in das Gewebe seiner schöpferischen Natur Einblick zu gewinnen. Schweigen jedoch ist seine Antwort auf unsere Fragen. Es waltet über seinem Privatleben unendlicher Frieden. Bach ist an sich so gar nicht Gegenstand einer dramatisch-heroischen Würdigung, wie es etwa Beethoven ist. Bei Bach kommt alles aus dem Frieden mit Gott. Man hört buchstäblich das Heranstürmen der Gedanken aus kosmischen Fernen, und Goethes pantheistisch gemeintes Wort an Zelter (Brief vom 21. Juni 1827) „Ich sprach mir’s aus: als ob die ewige Harmonie sich mit sich selbst unterhielte, wie sich’s etwa in Gottes Busen, kurz vor der Weltschöpfung möchte zugetragen haben” … gilt natürlich nur in übertragenem Sinne des Wortes. Goethe ahnt in seiner umfassenden Einfühlungsfähigkeit die wahre Substanz in J. S. Badas Schaffen. Doch ist diese ebensoweit entfernt von der festen, unverrückbaren Glaubenshaltung Bachs als Spinoza vom Apostel Paulus.

Vor nicht allzulanger Zeit wurde eine der herrlichsten Kantaten Bachs in Wien von einer kleinen Gruppe begeisterter Bach- Sänger aufgeführt: „Du Hirte Israel, höre…” Die Noten mußten abgeschrieben werden, die Chor- und Orchesterstimmen waren nidat nur nicht aufzutreiben, sondern die ganze Komposition war sozusagen unbekannt. Man könnte mit Leichtigkeit fünfzig gedruckte Kantaten anführen, die für Wien höchstwahrscheinlich noch der Uraufführung harren. Warum lassen wir uns diese Herrlichkeiten entgehen?

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