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Messias und Matthäuspassion

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Als Handels „Messias“ erstmals vor dem Londoner Hof gegeben wurde und das triumphale „Halleluja“ aufbrauste, erhob sich bei den Worten „for God che Lord omnipotent reigneth“ der König von seinem Sitz, um dieses Gotteslob nicht wie ein anderes Musikstück hinzunehmen, sondern ehrfürchtig stehend zu erleben. Bis heute ist es englischer Brauch, siditbar zur Gemeinde zusammengeschlossen diesen „Siegeschor Christi und seiner Kirche“ stehend zu feiern. Die königliche Eingebung eines Augenblicks, die treffender als alle Worte den Grundgehalt des Oratoriums ausdrückt, lebt fort und wandelt jedesmal die Hörer aus einem Konzertpublikum zur sakralen Gemeinschaft.

Nach der Wiederentdeckung der Matthäus-pass: i durdi Mendelssohn schrieb Friederike Braun-Robert in einem bisher unveröffentlichten Brief an ihren Lieblingsbruder Laodadio G. Braun:

„Da sind wunderbar stille Momente, in denen die Seele das Auge schließt,- um nur Ohr zu sein. Der Evangelist singt noch ,er neigete das Haupt und verschied', dann ein Schweigen, als sey alles tot, und dann das Kirchenlied ,Wann ich einmal soll scheiden'. Da ists Dir, als müßest Du nun ganz allein leyn, allein mit Deiner“ Seele, um niederzuknien und schweigend diesen Tod zu betrachten.“ '

Entgegen dem Urteil ihrer Zeitgenossen, denen anderes an der Matthäuspassion bedeutender erschien, hat diese Frau das musikalische wie das religiöse Zentrum des Werkes angesprochen. „Allein mit Deiner Seele“, „niederknien“, „schweigen“, „betrachten“ — knapper ist wohl der geistige Kern der Bachschen Passionen nie umschrieben worden. Aufstehen, sich erheben zur Gemeinde werden, vereinigt loben — das ist der Messias. Niederknien, die Seele versenken, alleinsein, schweigen — das ist die Matthäuspassion.

Händel wie Bach legten großen Wert auf künstlerisch und theologisch durchdachte Gestaltung ihrer Textbücher, so werden sie uns Prüfstein für die geistigen Grundlagen ihrer Oratorien. Das Fundament für die gesungene Passion war in den altkirchlichen Lesungen zur Karwoche gelegt; „Passio Domini nostri Jesu Christi secundum Mat-thäum“ stand von Bachs eigener Hand über dem Autograph von 1729 — der gleiche Auftakt, der im Missale Romanum das Palmsonntagsevangelium einleitet. Aber nicht allein im Text, auch in der Vertonung schöpfte Bach aus nie abgerissener altkirchlicher Tradition. Schütz, Frank und Buxtehude waren für ihn protestantische Vermittler vorreformatorischen Erbes; bei Einzelwendungen („krähete der Hahn“, „geis-sdlte ihn“) ist die Verbundenheit mit der gesungenen Passion der alten Kirche mit Händen zu greifen. Dennoch hat Bachs Werk, textbedingt, einen stark protestantischen Zug: mitten in die Erzählung des Evangelisten sind Fremdstücke eingelegt, Rezitative, chorische Zwiegespräche, Arien. Sie galten den Hörern jener Tage als das Wesentliche, das Evangelium war nichts als der Faden, auf dem sich diese Perlen reihten. Nicht umsonst hat Bach sie mit dem ganzen Reichtum seiner Musik umkleidet, als Text aber sind sie ausnahmslos Monologe der gläubigen Seele, Betrachtungen, Erwägungen, geistliche Selbstgespräche, die immer wieder das Ich in den Mittelpunkt stellen. Die individuellen Meditationen eines barocken Poeten begleiten uns auf allen Stationen des Leidensweges. Nicht ohne Grund fauen so oft die Worte „Erwäge“, „Betrachte, meine Seele“; in der selten gehörten Regenbogenarie der Johannespassion hat diese Entwicklu -g“ den Höhepunkt erreicht.

Religiöse Reflexion in starker Affektbetonung („Wiewehl mein Herz in Tränen •chwimmt“), Kultivierung des seelischen

Einfühlens bis zum feinnervigsten Mitschwingen („Ich will bei meinem Jesu wachen“), Schwelgen im Schmerz' („Blute nur, du liebes Herz“), Braut-Mystik („Ich will Dir mein Herze schenken“), Ausmalen des Vergleichs vom Lamm („Ach mein Lamm in Tigerklauen“), über allem aber der Vorrang des Gemüts — hier haben wir alle Elemente der Erneuerung des orthodox erstarrten Protestantismus durch das Ge-< fühl, hier haben wir — Pietismus reinster Prägung! Selbst die Massenchöre spredien fast nie vom „Wir“, sondern empfinden sich als Einzelwesen („Kommt ihr Töchter, helft mir klagen“), keine der in das Evangelium eingebauten Arien wendet sich an die Gesamtheit, spricht „uns“ an; immer ist es ein „Du, meine Seel“, ein „Ach, mein Sinn“. Gemeinsames Leid der Schar unter dem Kreuz wandelt sich zu innigem Zwiegespräch einer Seele mit dem einsam ragenden Gekreuzigten, ja zuletzt zum Selbstgespräch. Ein religiöses Einzelerlebnis wird der Allgemeinheit verbindlich gemacht.

Hier griff Bach ein. Der gefühlssatten, barock-bilderreichen Kunstlyrik des 18. Jahrhunderts setzte er den kargen Kirchengang der Reformationszeit und des Dreißigjährigen Krieges entgegen, zu Volksliedern gewordene Weisen stellte er zwischen die italienisierenden Arien. Es war eine Zumutung an seine patrizische Leipziger Kaufherrengemeinde, Paul Gerhard-Verse zu Hans Leo Haßler-Melodien anzuhören. Das galt als veraltet, ja unfein, aber Bach schuf damit das Gegengewicht, gab seiner Passion die grundsätzliche Wendung aus dem Ich und dem religiösen Individualismus zurück zum Wir und zum Gemeinschaftserlebnis. Die Choräle waren gerade dem einfachen Mann vertraut und boten ihm inmitten der Arien — des Entzückens der Gebildeten — die festen Ruhepunkte. Sie führten aus uferlosem Sichverlieren an schöne Gefühle zurück zu klarumrissenem Bekenntnis. Wohl sprechen auch sie noch vom Ich, aber nach Bachs Plan singt das jeder Hörer mit: „Ich bins, ich sollte büßen“, „Ich will hier bei Dir stehen“. So wird er zurückgeholt in die ursprüngliche Erlebniseinheit der Musizierenden; das geistliche Konzert, aus seinem sakralen Wurzelboden durch die innere Haltung des 18. Jahrhunderts gefährlich gelockert, wird wieder Gottesdienst.

Bachs Zeit erfaßte diesen Gedanken nicht. Der „geschmacklose“ Choral blieb weg, die empfindsame Arie wurde weiter kultiviert und überwucherte schließlich alles andere, bis die protestantische Passionsmusik — etwa der Hamburger Schule — in gefühlvollem religiösem Individualismus erstickte, und doch: Grauns „Tod Jesu“ hielt sich ein Jahrhundert und länger in allen Kirchen, während die Matthäuspassion nach drei Aufführungen vergessen blieb. Es war der bürgerlich-sentimentale, der religiös-unverbindliche Text, der Grauns Beliebtheit begründete, es waren Bachs harte, Entscheidung fordernde Choralworte, für die das Jahrhundert der Empfindsamkeit keinen Raum hatte. „Um unsrer Sünde willen in den Tod gegeben“, klingt freilich anders, als Harfenglissandi zu Rosen und Lilien, die eine kunstfrohe Seele aus den Blutstropfen Christi aufsprießen sieht. Wir, wir sind in den Chorälen angesprochen und werden unerbittlich hereingezogen, denn Er „trug unsrer Sünden schwere Bürd' wohl an dem Kreuze lange“.

Zum Text des Händeischen Messias hat der deutschsprechende Hörer schweren Zugang: komponiert auf Worte der englischen Bibel, konnte der Übersetzer Chrysander doch meist die entsprechende deutsche Schriftstelle aus musikalisdien Gründen nicht benutzen. Erst aus einer englischen Partitur mit originalem Text leuchten manche Teile l ___n__J„. .1...

takefch away the sin of the world“ im Eingangschor zum Passionszyklus, eine Stelle, an der das scheinbar gleichbedeutende „Es trägt in Geduld die Sünde der Welt“ nicht entfernt die Tiefe Händelscher Sinnbildkraft ausschöpfen kann. Schlimmer als solcher Übersetzungsverlust ist der Vorrang, den Chrysander der Sangbarkeit vor der biblischen Botschaft einräumt. Rücksicht auf koloraturbequeme Vokale'verleitete ihn zu Umstellungen, und gewisse „ästhetische“ Vorstellungen des Spätbiedermeier zu Änderungen, die hart gegen Händeis theologisches Wollen verstoßen. Texte, denen man vor innerer Verwaschenheit ihre biblische Herkunft kaum mehr anspürt, wirken im englischen Original wie eine Bombe. An entscheidender Stelle des I. Teiles, auf dem Höhepunkt der Messiasprophetien, steht ein kurzes Alt-Rezitativ „Denn siehe, der Verheißene des Herrn erscheinet“ — ist das Grund genug, mit einem der ergreifendsten Dankeschöre der Weltliteratur („O Du die Wonne verkündet in Zion“) darauf zu antworten? Daß Er kommen wird, sagen ja die vorausgegangenen Stücke viel eindringlicher, — warum hier dieser Ausbruch? Beim Lesen des Urtextes fällt es wie Schuppen von den Augen: „Behold, a virgin shall coneeive and bear a son!“ — Ecce, virgo coneipiet et pariet filium! — die zentrale Christusweissagung des ganzen Alten Testaments! Auch musikalisch steigern sich die Teile bis zu diesem Gipfel: Siehe, eine Jungfrau wird empfangen und einen Sohn gebären! Aber das wagt das Biedermeier nicht mehr beim Namen zu nennen und verwässert das Wort zu nichtssagender Farb-losigkeit. Wen wunderts da noch, daß das herrliche „Du bist mein Sohn, heute habe ich Dich gezeugt“ (II. Teil, Tenor-Rezitativ „Unto wi chof the angels“) zum kraftlosen „Du bist mein Sohn, das Abbild* meiner Herrlichkeit“ verblassen muß?

Man hat Händeis Vorliebe für alttesta-mentliche Stellen auf Einflüsse seiner puritanisch bestimmten Umgebung zurückführen wollen, es scheint mir aber, als ließe sich dafür eine einfachere Erklärung finden. Die Notwendigkeit, um ein gegebenes Versprechen einzulösen, das Werk in knapp drei Wochen in unvorstellbarer Konzentration niederzuschreiben, ließ Händel chwerlich Zeit, sidi erst ein Textbuch eigens dichten zu lassen. Er mußte mit schon bewährt n Formeln den Riesenstoff um-schreiben. Trägt man einmal die Bibelstellen Zusammen, die er sich für den Messias auswählte (oder durch Charles Jennens auswählen ließ), so kann man sich der auffallenden Übereinstimmung mit den liturgischen Texten der englischen Staatskirche nicht verschließen. Es sdieint, als habe Händel die hochkirchliche Liturgie gleichsam als Steinbruch für die Bausteine seines Oratoriums benutzt, wenn man etwa feststellt, daß der I. Teil (Verheißung und Geburt des Herrn) Nausnahmslos der anglikanischen“ Advents- und Weihnachtsliturgie entnommen ist. Gerade die Kernstellen, die an besonders sichtbaren Punkten in die Gottesdienstordnung der High Church eingebaut sind, kehren auch im Oratorium wieder.

Händel scheidet alles aus, was von der Gesamtschau wegführt; auf die Geburt folgen unmittelbar Passion, Auferstehung und Himmelfahrt, folgen Jüngster Tag und Preis des Erhöhten. Eine, aber die entscheidende Linie ist herausgehoben: Die Erlösung der Welt. Händel vermeidet, was sich in Einzelempfindung verlieren könnte, die alle umspannende Hand Gottes, die alle umfassende Tat Christi soll deutlich werden. Dazu braucht er das allen vertraute Bibelwort, und indem er den Messias aus lauter Zentralstellen der Liturgie zusammensetzt, konzentriert er gleichsam das Kirchenjahr in einen Abend.

Beobachtet man endlich, daß Händel der Einteilung der Festkreise folgt und dabei sogar die eschatologische Haltung der späteren Sonntage nach Pfingsten beachtet, ja daß er bei der Reihung der Texte die Folge ihrer Verlesung innerhalb des kirchlichen Jahres einzuhalten bestrebt ist, so begreift man plötzlich, warum dem irdischen Wirken Christi trotz des verlockenden Reichtums an musikalisdien Gestaltungsmöglichkeiten so geringer Raum ge-“ gönnt wird. Genau so, wie sich im Kirchenjahr, eng an den Weihnachtskreis die Leidenszeit anschließt, folgt hier, kaum daß das „Ehre sei Gott“ verklang, der dunkle Chor „Seht, das ist Gottes Lamm!“. Unmittelbar hinter der Krippe ragt das1 Kreuz; Theologia Crucis, von Händel in Musik gesetzt.

Geht der Meister mit seinem Text bewußt auf Stellen zurück, die als Teile des Gottesdienstes seinen englischen Hörern bekannt waren, so greift er 'damit noch viel tiefer in den gemeinsamen Nährboden aller christlichen Konfessionen. Denn diese liturgischen Texte der englischen Hoehkirche sind Wort für Wort Texte altkirchlicher Tradition — Kernstücke der römischen Messe! Keine Bibelstelle des Messias, die nicht an weithin sichtbarer Stelle im Gebäude der römischen Liturgie ihren Platz hat! Vielfach bis heute in der katholischen wie der englischen Kirche am selben Tage gelesen, kann man sich die Bausteine zum Messias Stück um Stück aus dem „Schott“ zusammentragen, wenn man mit ihm den Lauf des Kirchenjahres verfolgt.

So verknüpft ein starkes Band Händel und sein Oratorium mit der Una sancta, so versteht man die Wirkung, die der Messias immer wieder auf breite Massen ausübt, so wird jene eingangs erwähnte Haltung zum Sinnbild, die den englischen König zum wortlosen Ausdruckgeben zwang: Stehen vor dem Thron des einen Gottes.

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