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Man könnte behaupten, das Neuheitsereignis der christlichen Religion werde von einem riesigen Kegel der Wortexegese des Neuen Testaments überdeckt. Die Ekstase des Geistes, denn wie hätte sich sonst eine solche Fülle geisterfüllter Schriften in so kurzer Zeit häufen können, wurde erstickt in Formeln und Vorschriften, und nur ab und zu konnte diese „Wildbachverbauung“ in Zeiten der Einkehr und Umkehr wieder beseitigt werden. Welcher Phase ist die Zeit nach der Liturgiekonstitution „Sacrosanc-tum Concilium“ zuzurechnen? Sollen uns, die wir Zeugen einer langen Experimentierfreudigkeit waren, die soeben erfolgte Einführung des neuen Meßbuches für die Bistümer des deutschen Sprachgebietes und das umfangreiche Einheitsgesangbuch in Hochstimmung versetzen, weil sie einen gültigen Abschluß der Liturgieentwicklung dokumentieren? Blicken wir zurück!

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Man könnte behaupten, das Neuheitsereignis der christlichen Religion werde von einem riesigen Kegel der Wortexegese des Neuen Testaments überdeckt. Die Ekstase des Geistes, denn wie hätte sich sonst eine solche Fülle geisterfüllter Schriften in so kurzer Zeit häufen können, wurde erstickt in Formeln und Vorschriften, und nur ab und zu konnte diese „Wildbachverbauung“ in Zeiten der Einkehr und Umkehr wieder beseitigt werden. Welcher Phase ist die Zeit nach der Liturgiekonstitution „Sacrosanc-tum Concilium“ zuzurechnen? Sollen uns, die wir Zeugen einer langen Experimentierfreudigkeit waren, die soeben erfolgte Einführung des neuen Meßbuches für die Bistümer des deutschen Sprachgebietes und das umfangreiche Einheitsgesangbuch in Hochstimmung versetzen, weil sie einen gültigen Abschluß der Liturgieentwicklung dokumentieren? Blicken wir zurück!

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Das Neuheitserlebnis des Glaubens der Urkirche finden wir von einer bisher wenig beachteten Warte, der urchristlichen Kultmusik, bestätigt. Die Schriften des Neuen Bundes bedienen sich wohl der griechischen Weltsprache, der Koine, und des Aramäischen als Krücke; vom Musikalischen her gab es zum griechischen Melos keinen Zugang, denn hier herrscht auch in dessen Niederschrift eine zügelnde und gestaltende Ratio. Der aus der jüdischen und syrischen Psalmodie herkommenden, mit christlichem Pneuma erfüllten Monodie gelingt der Ausbruch aus der Umklammerung eines gleichrangigen Verhältnisses von Wort und Ton, wie es die griechische Musik praktizierte. „Uberall ist es das vom Wort losgelöste pneumatische Melos, das im neuen Tonraum aufquillt und alsFluidum von Koloraturarabesken, Lektionsformeln und Strophenmelodien die Texte überströmt. Sein Wesen beruht in der steten Wandlungsfähigkeit, die eine Kristallisation zu endgültig geprägter Gestalt nicht zuläßt. Das Einzelwerk trägt als solches keinen Wertakzent. In ihm erscheint, nach Form und Begrenzung veränderlich, immer wieder im Grunde das eine pneumatische Ge-samtmelos. So wird Musik zum Symbol des Geistes, der sich über die Gläubigen ergießt, ohne daß die Einheit seines Wesens davon berührt würde“ (H. Besseler).

Das Pendant zum Musikalischen bot die neuplatonische Philosophie, um die Urgemeinde in eine ausweglose Sackgasse zu dirigieren, aus der es kein Zurück mehr gegeben hätte. Denn nach der neuaufgelegten Ideenkonzeption Piatos ist die Gottheit ein rein geistiges Wesen, welcher wir mit nichts nahen dürfen, was aus der Sinnenwelt stammt. Und was ist „sinnlicher“ als die Musik? Der Zeitgenosse Christi, Philo von Alexandrien, Vermittler zwischen Judentum und Hellenismus, bot auch hier seine „Hilfe“ an, um eine kleine Gemeinschaft von Anfang an ins Ghetto zu treiben, da die Gläubigen in wortlosen Gebeten des inneren Gotteserlebnisses mit seelischen Zuständen des Enthusiasmus und der Ekstase teilhaftig werden sollten. Mit der Psalmodie, die dem

Wort den Vorrang gibt, tritt eine vom Geist gespeiste Urkraft in die altchristliche Kultmusik, die uns heute ebenso in Bann schlägt und als letztes Relikt, mit dem Gregorianischen Choral, bisher alle „Reformen“ überdauerte. Eindeutig war damit das Wort als Sieger in diesem dramatischen Ringen hervorgegangen und hatte die ihm nach den ersten Versen des Johannesprologs zustehende Priorität hergestellt.

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Mit dem Eintritt der germanischen Völker in die Geschichte beginnt der Frühling Europas. Der Gregorianische Choral kam in seiner Grundsubstanz aus dem Osten und konnte sich nur als Kunst einer Elite mit solistischer Vorbildung für den Dienst in der Liturgie empfehlen, wie ja auch die Popularisierungen des 19. Jahrhunderts dann ebensowenig zum Ziel kamen, mit ihrem Bestreben, aus dem Choral einen Volksgesang zu machen. Die in den jungen Völkern schlummernden musikalischen Kräfte schufen sich ein weites Feld ihrer Entfaltung bei der Meßfeier in den zahlreichen Sequenzen des Mittelalters. Die tridentinische Reform des Meßbuches aus dem Jahre 1570 anerkannte nur noch fünf allgemeingültige Sequenzen für die ganze katholische Kirche, die nach dem Graduale der Messe einzufügen waren: für Ostern — Victimae pla-schali, für Pfingsten — Veni sancte Spiritus, für Fronleichnam — Lauda Sion, für Maria Schmerzen — Stabat mater und für das Totenofflzium — Dies irae. Unser neues Meßbuch hat sie alle eliminiert! Die ungeheure Beliebtheit der Sequenzen bei den mittelalterlichen Christen (es gab deren 4000 im „Jahrtausend lateinischer Dichtung“!) mußte einen tiefliegenden Grund haben!

Die Entstehungsgeschichte der Sequenzen ist sehr vielschichtig. Sie beginnt am Hofe Karls des Großen mit Alkuin, setzt sich mit Adam von St. Viktor fort und erreicht nach einer fast 800jährigen Blütezeit eine solche Fülle, daß im späten Mittelalter Gradualien einen Schatz von 50 bis 70 Sequenzen notieren. „Die Sequenzen befreiten die Dichtkunst von den Fesseln der quantitierenden Metrik zugunsten einer mehr volksmäßigen, akzentuierenden Versbildung und brachen mit dem starren System des gleichmäßigen Strophenbaus. Da die Sequenzen wenigstens seit dem 13. Jahrhundert nicht mehr solistisch, sondern chorisch vorgetragen wurden, konnten sie in einem größeren Umfang für das geistliche Volkslied fruchtbar werden“ (O. Ursprung).

Europas Völker begannen seit der karolingischen Renaissance ihr Musikverständnis dort anzuknüpfen, wo griechische Musik einst führend war, und die alte Liebe zu Wort und Ton suchte in neuer Artikulierung sich in die Herzen der Gläubigen Eingang zu verschaffen.' In den Sequenzen konnte die noch ungebrochene Frömmigkeit mit allen Sehnsüchten und Hoffnungen, die aus der Liebe zur Kirche kamen, aufbrechen und in einem breiten Meditationsraum wie in einem Mysterienspiel die Gestalten auftreten lassen, die das Leben der Gemeinschaft und des einzelnen begleiteten. Die Ostersequenz des Wipo (gestorben nach 1048), des Hofkaplans Kaiser Konrads II., strahlt Hoffnung und die Sieghaftigkeit des romanischen Christkönigs aus, das spannungsgeladene „Veni sancte Spiritus“ des Gegenpapstes Innozenz III. (gestorben 1180) — es wird auch dem späteren Erzbischof von Canterbury, Stephan Langton (gestorben 1228) zugeschrieben — versinnbildet die Gedankengänge des Joachim von Fiori, denen zufolge nach dem Reich des Vaters im Alten Bund und dem Reich des Sohnes, mit dem heiligen Geist das dritte Reich gekommen sei, die Fronleichnamssequenz des heiligen Thomas von Aquin (gestorben 1274) kündet vom Brot als der Mitte des irdischen Lebens und dem Unterpfand des künftigen, beim Stabat mater des hl. Bonaventura (gestorben 1274) — auch dem John Peck-ham (gestorben 1292) zugeschrieben — steht der einzelne Christ mit Maria unter dem Kreuz seiner Schwierigkeiten und Rückschläge im Kampf um Anerkennung und Existenz, die eine zum Tode bliebe, wenn das Dies irae des Thomas von Celano (gestorben um 1260) — oder eines unbekannten Autors — nicht ausklänge in Pie Jesu Domine.

„Fiori musicali“ nennt Girolamo Frescobaldi (1583—1643) seine berühmteste Sammlung von Werken für die Orgel, die auch die schönsten Orgelmessen Italiens enthält. Diese Orgelmessen hatten im Codex Faen-za aus dem 14. Jahrhundert die ersten Knospen angesetzt, in Girolamo Cavazzoni (1520—?) einen kühnen Veredler dieser Gattung gefunden, mit Frescobaldi waren sie zu voller Blüte gelangt und mit seinem Schüler Jacob Froberger (1616—1667) in Wien um die Mitte und in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts waren sie zu edelster Nachblüte gediehen. In diesem wundersamen Garten der Renaissance war Frankreich mit einer Orgelmesse aus dem Jahre 1530 vertreten, zu der sich Werke bedeutender Meister, wie Guillaume Gabriel Nivers (1632—1714), Nicolas An-toine Lebeque (1631—1702) und vor allem Frangois Couperin (1668—1733) gesellten. Mit der Orgelmesse hatte sich eine hörbare Revolution in der Kirche vollzogen; denn das noch gar nicht so lange in Gebrauch stehende

Instrument eroberte sich eine bisher nicht innegehabte liturgische Funktion und stellte sich als gleichwertiger Partner dem Chor in der Messe gegenüber. Parallel dazu avancierte nach der Liturgiereform des Zweiten Vaticanums der Volksgesang zum gleichberechtigten Teil des Messeor-dinariums, während die Orgel in ihrer dienenden Stellung als Begleitinstrument belassen wurde, in gehobener Position darf sie nur im Orgelkonzert noch fungieren. Mit dem geänderten Wort-Ton-Verhältnis war, wie in allen anderen bildenden Künsten, durch die Orgelmesse die Renaissance zum vollen Zuge gelangt. Schon im Codex Faenza werden im Kyrie der Messe fünf Sätze der Orgel und vier dem Gregorianischen Choral zugewiesen. Dieselbe Alter-nativ-Praxis zeigt das Gloria in folgender Verteilung: Gregorianisch =

1. Gloria in excelsis Deo, 3. Lauda-mus te, 5. Adoramus te; Orgel =

2. Et in terra pax, 4. Benedicimus te, 6. Glorif icamus te.

Beruhten die ersten Orgelmessen meist auf den Melodien der IV. Choralmesse, Cunctipotens genitor, wagte es Cavazzoni, sich von der geheiligten Tradition des Gregorianischen Chorals zu lösen und in freier Paraphrase sich der eigenen Intuition hinzugeben. Damit tritt der Renaissancemensch auch im Musikalischen aus der Anonymität des Mittelalters in das helle Licht seiner Begäbungen in souveräner Künstlerschaft.

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In den drei Orgelmessen Fresco-baldis wird ein unwiederholbarer Höhepunkt erreicht. Für unsere heutigen liturgischen Vorschriften geschieht etwas Unvorstellbares: Vom Meß-Ordinarium behält Frescobaldi hur ein einziges Stück, nämlich das Kyrie. Zu diesem treten freie Kompositionen, die an fünf Stellen der Messe erklingen, vier, statt der Meß-Proprien, vor der Messe, nach der Epistel, zum Offertorium und nach der Kommunion. Während der Wandlung erklangen Tokkaten, die alle in e-Moll stehen, der phrygi-schen Tonart. In der Tonartenlehre des 16. Jahrhunderts hat diese den Charakter des .Unausgesprochenen' und Mystischen. „Nirgens in der Musik des katholischen Barock hat der Geist dieser Zeit so vollkommenen Ausdruck gefunden wie in den Tokkaten mit ihren weihevollen Klängen, ihren hie und da eingestreuten Bewegungen, die die Gebärde der demütigen Verneigung, der inbrünstigen Anrufung beinahe bildhaft zur Darstellung bringen“ (W. Apel). Die Übung der Elevationstokkaten blieb noch in rudimentärer Form bis in unsere Zeit erhalten, wenn beim feierlichen Hochamt die Orgel oder bei der Papstmesse in St. Peter die Silbertrompeten während der Wandlung die heilige Handlung akzentuierten.

Dieser Persönlichkeitsstil Fresco-baldis, wie die Orgelmessen Frangois Couperins, mußten notwendigerweise das liturgische Geschehen sprengen. Aber welch großartige Landschaften der Seele eröffneten sie dem Gläubigen des Barock, dem die Zeit so große Meister der Innerlichkeit schenkte! Mit der Teilnahme am Opfer Christi war das eigene Lebensopfer nachzuvollziehen. Es ist auffallend, daß bei Couperin die Prunkstücke der beiden Messen ihre Offertorien sind. Das Offertorium der ersten Messe gehört zu den ausgedehntesten Kompositionen des französischen Repertoires. Es besteht aus drei Hauptteilen, einem Vorspiel in strahlendem C-Dur, im zweiten Teil aus einer Fuge in c-Moll mit chromatischen Fortschreitungen, und endet in einem ausgedehnten Fugensatz wieder in fröhlichem C-Dur. Die Farbräume des Barock werden Klang, und über den Martern des Menschen reißt der Himmel auf. Aus dieser Fülle religiöser und künstlerischer Aussage war nur ein Schritt zum Manierismus Lebeques, der keine Bedenken trug, die Opferung mit kriegerischen Fanfaren zu begleiten oder mit liederartigen Bildungen, die eher bei amourösen Schäferszenen am Platze gewesen waren. Der zuständige Bischof mahnte ihn, „das Feuer seines Spieles zu dämpfen“. Damit ging ein großes Unternehmen zu Ende, das den Menschen die Innenarchitektur ihrer Religion aufschloß und echte Gefühlswerte während der Messe mitschwingen ließ. *

„Höheres gibt es nicht, als der Gottheit sich mehr als andere Menschen zu nähern und von dort aus die Strahlen der Gottheit unter das Menschengeschlecht zu verbreiten“ (Ludwig van Beethoven). Wie konnte ,der Purismus der cäcilianischen ReforfflbÄwegtag im ausgehenden 19. Jahrhundert sich anmaßend über die Wiener klassische Orchestermesse zu Gericht setzen, während Hugo Wolf in seinem Liedschaffen gerade daran war, dem Text dieselbe Interpretation zuteil werden zu lassen, welche die Klassiker schon längst der Liturgie hatten angedeihen lassen? Konnten sie aus den Kyriesätzen nicht deren Bußgesinnung heraushören, wie aus dem Gloria die Hochgemutheit des Barock? War etwa das Credo ihrer Messen nicht mit genug Bekennerhaftigkeit erfüllt und war das Sanktus etwa Galanterie? Das von der Klassik behutsam hergestellte Wort-Ton-Verhältnis hatte den Inhalt des liturgischen Textes im Sinne Beethovens ausgeleuchtet, bei Anton Bruckner vollzog sich die Absorption des Wortes in den Symphonien, die nicht umsonst auch Fortsetzungen seiner drei Messen genannt werden, aber eben „missae sine nomine et sine verbo“. War der Meister von St. Florian auch Prophet, der um die Kargheit künftiger Kirchenmusik wußte und seine Symphonien für außerhalb der Kirche schrieb, damit sie auch dort „Kirche“ in gläubigen Herzen aufbauten? „Nicht mehr Theologie, sondern mehr Spiritualität wird die Kirche wieder festigen. Der Zulauf junger Menschen zu den reisenden Jogis, Gurus, Mahatmas, die angebliche östliche Heilslehren predigen und „Selbstfindung“ versprechen, und die zu fragwürdigen Meditationsgruppen einladen, ist eine Herausforderung an die christliche Kirche, ist eine Anklage ihrer spirituellen Schwäche, die aus einem schuldhaften Brachliegen ihrer Gaben, einem Vergraben ihrer Talente entsteht“ (A. Böhm). Gilt dieser Mangel an Spiritualität auch für die Kirchenmusik? Und wäre neuaufbrechende Spiritualität nicht eine Chance für die Zukunft der Kirchenmusik?

Wir wissen ja, daß aus der Meditation die Inspiration erfließt. Am Beispiel der Sequenzen wurde ein weithin leuchtendes Zeichen gesetzt, ein breiter Fluß der Versenkung und Betrachtung für Jahrhunderte fruchtbar gemacht, der zur Quelle jener „Gabe“ wurde, die musikalisches Geschehen zu religiöser Wirklichkeit werden ließ.

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