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Die Frühzeit des österreichischen Schrifttums

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Dichtung war alle Zeit eine Ausdrucksart seelischen und geistigen Lebens eines Volkes. Sie erweitert sich zur Literatur, sobald das Verlangen des Menschen nach Erkenntnis in das kulturelle Leben eintritt und das Dichtwerk den Weg in die Schrift findet. Erst als Glied der christlichen Völkerfamilie kam .Österreich zu einem Schrifttum. Den vorliterarischen Zustand, in dem man das Gedichtete gedächtnismäßig festhielt und mündlich fortpflanzte, kann man durch mittelbare Zeugnisse rekonstruieren. Das Ergebnis erwies verschiedene Gattungen von Lyrik und Epik, Didaktik, berichtmäßige Erzählungen und Kleinliteratur. Obwohl diese mannigfachen Stoffe und Kunstarten auch in der literarischen Ära weitergepflegt wurden, gelangte zunächst nur weniges davon in das Schrifttum. Mit dem Christentum berührte ein völlig neues Moment die Entwicklung der altheimischen Dichtung. Die ,.Heilige Schrift“ und das in der diristlichen Kirche enthaltene antike Erbe verschmolzen sich mit der altheimischen Dichtung und gaben der nunmehr entstehenden Literatur einen neuen Glauben, neue Tiefe und neuen Reichtum. Seine Pfleger und Weiterbildner fand dieses Sdirifttum in den Zentren des damaligen kulturellen Lebens, den seit dem 8. Jahrhundert gegründeten Klöstern.

Drei Richtungen der Literatur gingen lange Zeit nebeneinander her: eine volkstümlich-weltliche, deren Träger hauptsächlich die Spielleute waren, eine volkssprachlich-religiöse, von Geistlichen gepflegt, und eine Klosterliteratur in lateinischer Sprache. Die Spielleute, deren Beruf die poetische Produktion und Reproduktion war, befaßten sich, dem Volksgeschmack entsprechend, mit allen Gattungen weltlicher Dichtkunst, von der sagenhaften Helden-jiichtung bis zur lehrhaften Poesie. Das religiös-geistliche und lateinsprachlidie Schrifttum erstand in den Klöstern und bei fein-jebildeten und belesenen Weltpriestern.

Das Kulturwerk Karls des Großen baute auf geistlichen und weltlichen Grundlagen. Was das heutige Österreich angeht, erstreckte es sich zunächst auf die westlichen Gebiete. Hauptbildüngsort wurde dabei das noch auf römischem Fundament errichtete Salzburg. Von ihm aus erfolgte die Missionierung und kirchliche Organisierung der südlichen und östlidien Bundesländer. Salzburg beherbergte bereits unter dem Erzbischof Arno (f 821) eine große Büchersammlung und eine weithin wirkende Schreibschule. Die Salzburg-Wiener Alkuin-Handschrift, die außer Briefen und Abhandlungen eine Zusammenstellung griechischer, runischer, angelsächsischer und gotischer Alphabete und ein Fragment der Bibelübersetzung des Wulfila enthält, bezeugt regen geistigen Verkehr nach allen Himmelsrichtungen.

Bei der Christianisierung und Einrichtung des religiösen Lebens war zunächst ein Spradiunterricht und Übersetzungen der wichtigsten katedietischen, homiletisdien und biblischen Texte in die Volkssprache erforderlich. Vokabularien, Glossen und Interlinearversionen, die lateinische und deutsche Wörter und Sätze über- und nebeneinanderstellen, in Salzburg, Mondsee, St. Florian, Melk, Zwettl, Admont, Brixen, St. Lam-bridit und anderen dienten dem praktischen Unterricht in den Klosterschulen. Eine „Vorauer Beichte“ und ein „Klosterneu-burger Gebet“ sind ehrwürdige Denkmäler der alten Mundart. Nicht selten verwob sich Altes mit Neuem, Heidnisches mit Christlichem. Die alten Zaubersprüche wurden umgewandelt in christlich gedeutete Segensformeln, so etwa in einen „Wiener Hundesegen“ oder einen „Millstädter Blutsegen“. Kar! der Große und seine Ratgeber verlangten aber nidit nur, daß das Volk die einfachen Elemente der Glaubenslehre sich aneigne, sondern auch, daß die diristlichen Wahrheiten wissenschaftlich ergründet werden. Die damals mit erstaunlicher Gewandtheit durchgeführten Prosaübersetzungen eines Traktats von Isidor von Sevilla, des Matthäus-Evangeliums, einer Homilie und einer Pred'gt des hl. Augustinus wurden wie die „Mondsee-Wiener Bruchstücke“ (Anf. 9. Jh.) erkennen lassen, auch in Österreich benützt und verbreitet.

Die im 8, und 9. Jahrhundert einsetzende 'andessprachliche Literatur im Dienste der kirchlichen Volkserziehung begann bald nach 900 so gut. wie zu verstummen. An ihrer Stelle gelangte eine Dichtung in lateinischer Sprache zur Blüte, ebenfalls Klosterliteratur und Schöpfung der Geistlichen. Das war möglich, weil Latein als Sprache der Kirche und des öffentlichen Lebens eine durchaus lebendige Spradie war. Das Werden und Weben dieser eigenartigen und hochwertigen Literatur läßt sich heute noch nicht hinreichend durchschauen. Ihr Gedeihen erstreckte sich auf alle Gattungen: Lyrik und Drama, Epos und Versroman. Die Lyrik ist eng verbunden mit Gottesdienst und Musik und äußert sich in der Hymnen-, Tropen- und Sequenzendichtig. Aus dem Ostertropus entsproß das mittelalterliche religiöse Schauspiel.

Christianisierung und Einfluß der antiken Buchwelt bildeten nur die erste Station auf dem Wege des neuen kulturellen Lebens der . Menschen unseres Landes. Nicht überall schien die Erziehung durch die Kirche tief genug in die Geister und Herzen eingedrungen. Gerufen durch Kriegsnot, Angst vor dem Weltende, Mangel, Druck und Tiefstand verschiedener Art, stiegen erst in Frankreich, bald auch hierzulande, bisher gebundene machtvolle religiöse Kräfte an die Oberfläche. Die weltbejahende und wissenschaftsfrohe Epoche der Karolinger- und Ottonenzeit wird abgelöst durch eine streng kirchliche und weltflüchtig asketisdie. Die Welt sollte strenger zum Dienste Gottes erzogen und im Weltreich soweit als möglich das Gottesreich verbreitet werden. Das neue Glaubensleben bringt Augustins Auffassung, Weltgeschichte sei in Wahrheit Heilsgeschidne, zur Herrschaft. Die sich herausbildende christliche Wissenschaft der Scholastik will das

Gerüche vernunftmäßig begreifen. Neben ihr bemüht sicli die Mystik mehr beschaulich und betrachtend um das Erlebnis des gefühlserfüllten Aufgehens im Ewigen.

Die starken religiösen Bedürfnisse weiter Volkskreise und die allgemeine Gemütserregung führten trotz verschiedener Widerstände dazu, daß der neue zwiespältige Geist und das neue Weltgefühl auch im Schrifttum zum Ausdruck kommen. Aus dem angstvollen Dienst an der eigenen Seele und der Sorge um das Heil der Mitmenschen erwuchs eine geistliche Buchdichtung in der Volkssprache, die alle Mensdien mit dem Glauben erfüllen und ihr Dasein an das Ewige binden möchte. Dem Inhalt nach umfaßt diese Zweckliteratur dogmatische Dichtungen, welche die Erlösungslehre zum Gegenstand haben, Bibeldichtung mit den geschiditlichen Tatsachen des Reiches Gottes. Legendenpoesie und Visionsliteratur, erbauliche Büß- und Sittenpredigten, Gebete, Marienlyrik und schließlich Naturwissenschaft mit der tiersymbolischen Heilsgeschichte des Physio-logus.

Beinahe alle im Zeitalter der Weltabkehr in Österreich verfaßten frühmittelhochdeutschen Literaturdenkmäler sind in Sammelhandschriften überliefert, und es ist höchst beachtenswert, daß fast alle die erhaltenen Sammelhandschriften auf österreichischem, und zwar kärntnischem Gebiet entstanden sind, wenn sie auch keineswegs nur auf österreichischem Boden verfaßte Dichtungen enthalten. So eine Wiener Handschrift, eine Millstätter Handschrift und die berühmte große V o r a u e r Handschrift.

Als speziell österreichische Denkmäler können gelten: die Wiener und Millstätter „Genesis“ und „Exodus“, eine Morallehre „Vom Rechte“ und ein Gedicht „Von der Hochzeit“, das Brautwerbung und Vermählung eines vornehmen Herrn allegorisch-mystisch deutet, und eine Sündenklage. Anlage und Aufbau der Vorauer Handschrift lassen den' Plan einer christlichen Weltgeschichte in historischer Reihenfolge erkennen und sind für das literarische Leben in Österreich besonders charakteristisch. Die von einem Regensburger Geistlichen verfaßte „Kaiserchronik“ erzählt die Ereignisse des Weltstaates, verkörpert im antiken und mittelalterlichen Römerreich. Die Geschichte des Gottesstaates reicht im ersten Teil von der „Genesis“ bis zum „Alexanderlied“, das in einer mittelfränkischen Dichtung vorliegt. Der Neue Bund wird dargestellt durch die offenbar in der Nähs von Melk verfaßten Gedichte der Frau Ava „Leben Jesu“, „Antichrist“ und' „Jüngstes Gericht“. Ihnen folgt des österreidiischen Priesters Arnold „Lobpries des Hl. Geistes“ und den Absdiluß bildet ein ebenfalls in Österreich entstandenes „Himmlisches Jerusalem“. Der eindrucksvollste satirische Dichter der Zeit war Heinridi von Melk mit seinen beiden Strafpredigten „Von der Erinnerung an den Tod“ und „Vom Priesterleben“. Auch das Leben Johannes des Täufers wurde damals in österreidi mehrfach bearbeitet. Auf die kommende Legendendichtung deutet die versifizierte Allerheiligenhtanei eines Priesters Heinrich hin. „Das Anegenge“ gestaltet die Erlösungsgeschichte und Glaubenslehre in der Art einer Summa Theologiae. Im Wettbewerb mit der lateinischen Dichtung beginnt mit dem „Melker Marienlied“ und einer Mariensequenz aus Seckau deutsche Marienpoesie emporzublühen, Als frühe Beispiele der Legendenpoesie tauchen die Legenden der hl. Margarete und eine hl. Juliana auf.

Das junge Glaubensleben blieb natürlich auch nicht ohne Einwirkung auf das Drama. Liturgisch-kultische Oster- und Weihnaditsfeiern waren im Verlauf des 11. und 12. Jahrhunderts so ziemlich in allen Klöstern und Kapirelkirchen üblich. Eine erstaunlich rasche Entwicklung reifte die Feiern zu Spielen und erweiterte ihre Stoffe auf das gesamte Erlösungswerk. Das „Klo-sterneuburger Osterspiel“ und das Vorauer „Spiel von Isaak und Rebekka“ sind frühe und berühmte Zeugnisse dafür.

Lebendig und mächtig fließt durch die Jahrhunderte der große Strom der Dichtung weiter. , Mönche und Weltgeistliche, Spielleute, Vaganten und Mimen gaben- ihr Bestes. Nach der kirchlichen Geistesform kamen eine höfische Geistigkeit und Lebenssitte, Gesellschaftsform und Kunst empor. Nun wurden auch die weltlichen Stoffe und Kunstarten buchfähig. Die erste Generation sdiuf die Voraussetzungen, in der zweiten bricht die Blüte durch. Und dann zeigen höfische Lyrik und höfische Epik, Minnesang und Heldendichtung, Reinmar der Alte und Walther von der Vogelweide, Nibelungenlied und Kudrun das ganze Land kulturgesegnet wie kein anderes.

Alt Österreich, das beschauliche, das aus Rebenhügeln mit Giebelfenstern anmutig lächelnde Alt-Österreich, das friedlich seinen Garten-ständchen lauschende, Bauernfelds, Stifters, Schwinds Alt-Österreich ist eine wehmütige Erinnerung. Nicht eine italienische, mondsilber-flutende, wie das bestrickende Stilwunder, das Fischer von Erlachs, Canalettos, Mozarts erlauchte Namen im Triumph seidenrauschender Baldachine emporträgt, nicht eine graziöse, wie jenes liebliche Empire-Österreich, über dessen Weiß in raunenden Gärten träumenden antikisierenden Fassaden der riesenhaft funkelnde Stern Beethovens steht. Eine bürgerlich arglose, die nach Lavendel duftet aus tiefen GroBmutterladen, eine von Reifröcken schauernde, unter breiten Schäferhüten mildlächelnde Erinnerung.

Richard von Schaukai: „Ferdinand von Saar“

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