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Die Botschaft des Meisters von Autun

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DIE HEILIGEN DREI KÖNIGE DES GISLE BERTUS. Mit erläuterndem Text von Regine Pernoud und Kanonikus Grivot. Limes-Verlag, Wiesbaden, 1964. 44 Selten, kl Lichtdruck-Bildtafeln. Preis 19.50 DM.

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DIE HEILIGEN DREI KÖNIGE DES GISLE BERTUS. Mit erläuterndem Text von Regine Pernoud und Kanonikus Grivot. Limes-Verlag, Wiesbaden, 1964. 44 Selten, kl Lichtdruck-Bildtafeln. Preis 19.50 DM.

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Die durch Zufall erfolgte Entdeckung der Werke des Gislebertus in der Kathedrale von Autun, durch die der romanische Meister mit einem Schlag als zur Spitzengruppe der Bildhauer aller Zeiten gehörig sich auswies, war zunächst in der Fachwelt eine Sensation ersten Ranges. Im Gefolge des Ereignisses geschah noch Größeres. Die faszinierende Macht seiner Kunst, in welcher der Geist seines Säkulums dadurch, daß Gislebertus allein und somit in vollkommener Komplexität die bildnerische Ausstattung der Kathedrale hatte besorgen dürfen, in einer Dichte inkarniert erscheint wie nirgendwo anders, gibt dem Christen von heute Aufschluß über ein christozentrisches Ganzheitserleben der Welt, das keinen von uns, der zu schauen, zu ahnen, zu deuten versteht, unberührt lassen dürfte. Autun! Einst eine römische Gründung (der Name ist abgeleitet von „Augustodunum“, das heißt Stadt des Cäsar Augustus, was die Wichtigkeit dieses Ortes innerhalb der verwaltenden und kulturellen Durchdringung Galliens verdeutlicht), war die Stadt trotz ihrer Kleinheit im Mittelalter eine der bedeutendsten religiösen, politischen und kulturellen Zentren Burgunds. In der Nachbarschaft liegen so berühmten Punkte wie Vėzelay, in dessen berühmter Kirche ein heiliger Bernhard von Clairvaux zum II. Kreuzzug aufgerufen hatte, und — als Mittelpunkt von Kunst und Gelehrsamkeit der Zeit — die (nach der Revolution und unter Napoleon zerstörte) Abtei von Cluny mit ihrer Hauptkirche als damals größtem Bauwerk der Christenheit, größer noch als St. Peter zu Rom.

Gislebertus, von dem heute nicht mehr bekannt ist als sein Name und daß er vermutlich, bevor er nach Autun ging, an der Kirche von Vėzelay gearbeitet hatte, bot nun durch die Vielgestalt seines Werkes, Anlaß, dem Zeitgeist — gewissermaßen geführt durch seine begnadete Künst- lerhand — besonders einfühlsam nachzuspüren, ist es doch unmöglich, seinen Skulpturenschmuck getrennt vom blühenden christlichen Seins zu erfassen, dem sie entwuchsen. Da, etwa in der bildhaften Nach- Schaffung der Geschichte der Heiligen Drei Könige, wortgetreu nach dem Matthäusevangelium, sehen wir eine Szene inniger als die andere auf den Säulenkapitellen: wie die Könige nach langer Reise von Ihren Pferden gestiegen sind und Herodes lauschen, ehe sie sich auf den Weg machen, den König der Juden zu finden; dann sind sie untenm Stern zum Ziel gekommen, bringen ihre Gaben dar. Während das Jesuskind neugierig das ihm überreichte Gefäß öffnen will, nimmt einer der Könige „in hingebungsvollem Staunen mit feierlicher Gebärde seine Krone ab“ (wie es in der Schilderung von Fernand und Grivot heißt, denen man ihre Ergriffenheit deutlich anmerkt). Dort schlummern die Könige Seite an Seite und haben ihren Traum vom Engel mit der Gottesbotschaft. Dann hat Josef die Warnung empfangen, den Esel gesattelt, Maria und das Kind auf dessen Rücken gesetzt: die Flucht nach Ägypten beginnt, Angst und Besorgnis malen sich in den Zügen des Nährvaters. Aber auch der Sündenfall fehlt nicht, er war einst Teil des Türsturzes vom Nord portal und wurde im 18. Jahrhundert, als die Romanik nicht mehr gefiel, brutal abgeschlagen (während die anderen Werke des Meisters teils mit Marmor verkleidet wurden, teils unter Massen von Mörtelverputz verschwanden), und einzig Gislebertus' Eva (von Kunsthistorikern „als die weiblichste Gestalt der Romanik“ bewundert), blieb erhalten. Wäre von seiner Kunst nichts als diese eine Gestalt oder eine der anderen wesentlichen Figuren geblieben, könnte der wissende Forscher doch schon daraus die Existenz des nun gewaltig in die Kunstgeschichte ragenden Mei- ters von Autun ablesen.

Zu jener Zeit war die Kathedrale, wie die Autoren ausführen, nicht allein ein Ort des Gottesdienstes, sie war der Mittelpunkt des menschlichen Lebens. Hier versammelten sich die Menschen auch, um zu lernen, ja selbst, um unterhalten zu werden! Hierher kamen sie, um sich In den Geschichten der Bibel und den Vitae der Heiligen unterweisen zu lassen — denn damals konnten nur wenige lesen und schreiben — und. um Psalmen zu singen. All die Gestalten, die in die Kapitelle einer mittelalterlichen Kirche gemeißelt oder an ihre Wände gemalt sind, illustrieren eine Welt, die dem Volk damals so vertraut war, wie seine eigene: bevölkert von den Propheten und Aposteln, von den Königen und

Richtern Israels und den Heiligen der Christenheit. An hohen Festtagen versammelte sich die ganze Bevölkerung um den Bischof in der Kathedrale, die der ganzen Diözese gehörte, was ihre gewaltigen Ausmaße erklärt. Enger drängten sich hier die Massen, als wir es uns heute vorzustellen vermögen.

Auch gab es komödiantische Einsprengsel in den geistlichen Spielen, sah man doch in jenen Zeiten in einem von Herzen kommenden Lachen im Kirchenraum nichts Unehrerbietiges! So wartete die Menge am Weihnachtsabend erheitert auf das Erscheinen Bileams mit dem Esel. Das Tier wurde von zwei in Sackleinwand steckenden Männern dargestellt, trieb Possen, schrie, galoppierte zwischen den Versammelten umher, ja es gab ein Kalenderfest, das ausdrücklich den verschiedenen Rollen der Esel in der biblischen Geschichte gewidmet war, wie die Flucht nach Ägypten oder CSiristi Einzug in Jerusalem. Dazu wurden lebende Esel in die Kirche gebracht, und wenn die Mönche ihre Strophen sangen, respondierten die Gläubigen in schöpfungsfroher Frömmigkeit die auch das geringste der Geschöpfe umfaßte, herzhaft mit „lah-Iah!“ Und zum Fest der Unschuldigen Kinder erlaubte man den Kindern, im Gedenken an den bethlehemiti-

schen Mord, sich auf ihre Weise in der Kirche zu vergnügen. Das war eine herrliche Gelegenheit für sie, sich auch über diesen oder jenen gestrengen Priesterlehrer lustig zu machen und derbe Späße zu treiben.

Das sind doch legendäre Ge- schichtchen, könnte man einwenden, hat das noch etwas mit Kunst, mit der Vorstellung eines Kunstbuchs zu tun? Ja! Denn Kunst ist stets, auch heute, komprimierte Darstellung der Erlebnisfelder und Seinsweisen des Menschen. Und wenn den Christen von heute das in Stein gemeißelte hohe Lied eine unüberbietbare Dichtigkeit und Verbindlichkeit christlichen Seins erreicht, so mag das Erfahren und Tasten darnach, was einst Realität war, auf manchen einen glückhaften Schock über ein Dreivierteljahrtausend hinweg ausüben — mit allen Chancen der Besinnung und Zuversicht, daß nichts unwiederbringlich verloren sein muß, sofern es Seelen gibt, die, unter anderen Vorzeichen und in anderen Geisteswelten, Natur und Übernatur in strahlender Vermählung von Wissen und Glauben ineinis zu schauen imstand sind. Wer sich in die Bilder und Texte über das Werk des Gislebertus vertieft, wird seine Botschaft vernehmen — in unserer Zeit die vielleicht wie keine der jüngstvergangenen Epochen reif genug geworden ist, sie bis in den Kern hinein zu begreifen.

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