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DIE BEKRANZTEN HUGEL

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Vor dem kleinen Friedhof der Namenlosen, der unweit der Donau bei Mannswörth vor einigen Jahrzehnten angelegt worden ist, wird mancher einsame Spaziergänger schon in Erschütterung gestanden sein. Die Donau hat dort die Opfer wiedergegeben, die den Tod in ihren Wellen gesucht haben, Unglückliche, die das Leben nicht mehr zu halten vermochte, Verzweifelte, die keinen anderen Ausweg mehr sahen... Strandgut des Lebens. Mitten in den Auen liegt diese einfache Stätte, wie sie aus einer schönen Pietät heraus geschaffen wurde, einsam und fast verloren und so ohne Zusammenhang mit irgendeiner Umgebung, wie jene, die hier ruhen, im letzten Augenblick gewesen sein mußten, bevor sie ihren schweren Entschluß ausführten. Namenlos wie ihr Grab muß ihr Leid gewesen sein... namenlos aber vielleicht auch einmal die Freude, die ihnen zuteil geworden war, und die sie in so viel Sonne genossen hatten, daß sie die nachfolgende Nacht nicht mehr ertragen konnten. Namenlos, so nennt man ja ein übergroßes Leid und die Freude, wenn der Mensch ganz in sie aufgegangen und in ihrem Hochgefühl gleichsam anonym geworden ist — und namenlos sind die Hügel in diesem Friedhof, unter denen der irdische Rest solcher Ekstasen von mildtätigen Händen gebettet liegt.

Wenn wir auf unserem Weg durch die Donauauen weitergehen, wollen unsere Gedanken lange nicht von dem schwermütigen Eindruck dieses verborgenen Friedhofs lassen, und er mag manchem wie ein Sinnbild für alle Friedhöfe der Welt erschienen sein. Ob sie sich nun um eine kleine Dorfkirche lagern oder am Rande der Städte in unübersehbaren Reihen sich über weite Gebiete erstrecken, wie bald wird jeder so ein Friedhof von Namenlosen, auf verwitterten Steinen sind die Buchstaben nicht mehr zu entziffern, und wenn selbst ein Name noch auf ihnen prangt, für die Menschen, die an den Gräbern vorbeigehen, sagt er nichts mehr, keine Erinnerung verbindet sich mit seinem leeren Schall, und wir fühlen nur das unsagbar Bedrückende, wie spurlos soviel Freude und Leid, das einst Körper erfüllt hatte, hier werden konnte. Und wir begreifen, daß viele Menschen leidenschaftlich noch vorhandene Inschriften zu entziffern trachten und nach Worten der Erinnerung suchen, nur um Fingerzeige zu finden, die ins Leben zurückweisen. Auf der Stätte des Todes und des Vergessens wollen wir noch Zeichen erhaschen, die sich mit Vorstellungen von Glück und Schmerz verknüpfen und dem ewig Verstummten so doch noch ein Lebenszeichen entlocken. Wir sind glücklich, wenn wir in dem rings um uns gebreiteten Ausgelöschtsein Worte entdecken, die uns von einem Menschendasein noch eine letzte Botschaft geben. Es ist dann, als käme doch etwas Licht in das lähmende Dunkel, und wir klammern uns förmlich an seine milden Strahlen. Es kann ein besonderer Satz sein, den das Gefühl eines Hinterbliebenen für den Toten gefunden hat, oder Bilder, in deren Mienen sich ein Leben deutlich eingezeichnet hat, oft aber auch nur einfache Daten, die eine erschütternde Sprache reden durch die schlichte Reihenfolge, in der sie den Tod der Familienmitglieder verzeichnen, die nacheinander hier in das gemeinsame Grab gesunken sind. Wieviel Leid eines Mutterherzens kann es verraten, wenn auf der Tafel ein Kind nach dem andern genannt ist und schließlich der Mann noch folgte, bevor dann die achtzigjährige Greisin endlich erlöst zu den Ihren hinabsteigt. Wie mancher frühe Tod hat seinen verzweifelten Ausdruck gefunden, wie mancher zu späte niemanden mehr hinterlassen, der ein liebes Wort ihm nachgerufen hätte. Während wir auf unserem Gang zwischen den Gräbern mit solchen Gedanken beschäftigt sind, streben wir unwillkürlich mit allen Kräften der Phantasie jeder Lebensäußerung nach, die sich schön oder häßlich hier eingegraben hat. Wir schmücken die wenigen Worte, die wir finden, aus und füllen sie mit den Farben des Lebens, als könnten wir das Bewußtsein des Todes damit bannen und dem Welken und Verfall ein paar Blüten entreißen.

Bei dieser Flucht aus dem Angesicht des Todes und der Vergessenheit bedient sich der menschliche Geist in seinem Selbsterhaltungstrieb oft ganz merkwürdiger Mittel. Er erfindet um Gräber Anekdoten, die die Überlieferung immer noch reicher ausschmückt. Der Lebensdrang trägt auf die magere Unterlage starke Farben auf, ein romantisches und lebensgesättigtes Schick-' sal wird einem Menschen angedichtet, nur um dem kühlen Hauch der Gräber mit einer heißen Erinnerung zu begegnen. Viele werden sich am Petersfriedhof in Salzburg jener sieben Kreuze erinnern, die dort von altersher in einer Reihe am Wege stehen, der von der Festung Hohensalzburg zum nicht minder beliebten Peterskeller führt. „Der Salzburger Blaubart und seine Frauen“, erzählt der Volksmund den vielen Fremden, die dort vorüberkommen, und die Melancholie, die der düstere Friedhof atmet, wird von einem Schauder vor der wilden Lebenswelle verbrecherischen Genusses fortgeschwemmt. Der angebliche Salzburger Wüstling ist aber ein braver Bürger gewesen, der hochbetagt an der Seite der Frauen bestattet worden ist, die seinen Lebensweg beglückt hatten und ihm in einem ruhigen Tode vorangegangen waren.

Auf einem anderen Salzburger Friedhof, dem von Sankt Sebastian, ist die Kapelle, die sich der große Erzbischof Wolf Dietrich noch zu Lebzeiten als Mausoleum erbaut hatte. Sie ist Ton einer Decke gewölbt, die in Tausenden von Mosaiksteinchen tue Farbenherrlichkeit der Erde zusammenträgt, als könnte sie damit den Irdischen Zauber auch für den Toten noch festhalten. Oder versuchte hier einmal der leidenschaftliche Lebenswille des Menschen, sich über den Tod hinaus sicherzustellen und den düsteren Gesellen durch die farbige Pracht, die er für ihn bereithielt, zu überlisten? Es ließe sich damit auch das von der Legende überlieferte merkwürdige Verhalten des Erzbischofs erklären, der diesen Raum immer wieder aufsuchte und in ihm verweilte, als wollte er sich vergewissern, ob der aufgewandte Glanz auch seine Kraft behielt, das drohende Dunkel zu bannen. Und sonderbar, wie die irdischen Wege schon sind, steht nahebei auf diesem Friedhof ein Grab, das sich gleichsam selber seines Lichtes begeben hatte: ein schlichter Stein trägt den Namen Constanze von Nissen, die als Frau eines braven Staatsrats in Salzburg gelebt und nicht gewußt hatte, daß sie vorher mit einem Genius verbunden gewesen ist, der Mozart geheißen und die Welt mit dem Zauber seiner Musik“ erfüllt hatte. Wie hier einem Grabstein der unsterbliche Name verlorengegangen ist, so hat ein anderer sich einen solchen einfach genommen. In Verona wird noch heute von betriebsamen Führern ein Grab der Julia gezeigt, das nie die Tochter Capulets beherbergt hat, aber durch den süßen Zauber von Shakespeare unsterblichem Menschenkind und seinem tragischen Schicksal einem armen Mädchensarg einen Glanz gegeben hat, dem sich auch die aufgeklärtesten Fremden gerne beugen.

Während das Bild unzähliger Gräber vor unserer Erinnerung erscheint, tritt der kleine Friedhof in der Donauau zurück, und die großartigste Totenstadt der Welt schwebt vor unseren Augen: der Friedhof Pere Lachaise in Paris, der auf einer weiten Anhöhe die Stadt überragt, mit einem wundervollen Ausblick auf das unter ihm liegende Häusermeer, aus dem das Pantheon mit seiner mächtigen Kuppel hervorragt. Zwischen uralten Bäumen stehen die steinernen Wohnungen der Toten, Grüfte und Sarkophage, die den Leichnam vor der Berührung mit der Erde schützen. Dieser Friedhof hat seinen Namen von einem Pere Lachaise, der Beichtvater Ludwigs XIV. gewesen ist und diese Gründe besessen hat, in die er seltene Bäume pflanzte und weithin stille Gärten anlegte. Die letzte Reise der Menschen hat in Paris daher noch einen Klang von der Heimkehr zum Vater.

Wenn wir aus der Ferne wieder nach Wien zurückkehren und vor den leeren Grabstätten stehen, die in die Anlage eingebaut sind, die sich an der Stelle des alten Währinger Friedhofs heute befindet, mag es uns schmerzlich erscheinen, daß die Steine, die den Namen Beethovens und Schuberts tragen, entzaubert sind, denn die Gebeine dieser großen Toten wurden von hier, aus dem Herzen der Stadt, die ihre Musik geboren hat, hinaus auf den Zentralfriedhof gebracht, um in der Reihe der Ehrengräber ihre endliche Ruhe zu finden. Die ins Weite gewachsene Millionenstadt wollte den kleinen Friedhof mit seinen Toten in ihrer Mitte nicht dulden, aber die Musik der von hier Entführten erklang, wie um auch dafür noch einen Trost zu bieten, in den Häusern ringsum und in den Herzen der Menschen, soweit sie für Töne empfänglich sind.

Auf diesem Friedhof an der Währinger Straße war auch ein Grab, das den Namen Alma von Goethe trug, der Enkelin des Dichters, die Tochter Augusts und Ottiliens, die sechzehnjährig an Typhus in Wien gestorben ist, wo ihre Mutter lebte und ihre Brüder bald sich dauernd niederlassen sollten. An die mannigfachen Beziehungen, die Wien auch sonst mit Goethe unterhielt, werden wir sogar noch auf dem kleinen Friedhof von Weidling erinnert, wo ein stolzes Grab uns den Namen des einst berühmten Wiener Orientalisten imd Dichters Hammer-PuTgstall wieder in Erinnerung bringt, der als erster den Hafis übersetzt hat, eine bleibende dichterische Tat, ohne die wir keinen Westöstlichen Diwan hätten, und unter den Zypressen des Weidlinger Friedhofs liegt noch ein anderer Dichter, dessen Name ungebrochenen, Klang hat, Nikolaus Lenau. Wer seine naturnahen und oft so schwermütigen Verse kennt, wird sich keinen passenderen Platz für seine letzte Ruhestätte wünschen können als den hier, fern von der Stadt, die er immer geflohen hat, in dem Tal, dessen zauberhafte Stille in so manchem seiner Gedichte fast greifbar festgehalten ist. Viele werden sich aber jetzt auch noch an ein anderes Grab eines österreichischen Dichters auf einem kleinen Friedhof erinnern, der auch in einem Tal liegt, durch das allsonntäglich zahlreiche Wiener kommen: das Ferdinand Raimunds in Gutenstein. Nur ist es eine herbere und würzigere Alpenluft, die hier wie ein fremder Hauch über den großen Volksdichter zu kommen scheint, dessen Werke so viel Milde und gütigen Humor ausströmen. Noch ein Grabstein in Gutenstein verkündet uns den Namen eines Dichters, des unserer Gegenwart schon näheren Hans Kaltneker, der 22jährig hier gestorben ist und ein Dichtwerk hinterlassen hat, das wie ein Feuerbrand über seiner sonst so kühlen Zeit steht. Aus noch weiterer Ferne aber grüßt uns das schöne Grab des Dichterjünglings Georg Trakl auf dem Bergfriedhof des Dorfes Mühlau bei Innsbruck, dessen Gesänge dem herbstlichen Abschied und der aus ihm sich lösenden Allerseelenerscheinung die tiefste Deutung gegeben haben.

Von vielen anderen Gräbern wäre noch zu erzählen, die in Wien und auf der ihm nahen oder weiteren österreichischen Erde pietätvolle Besucher an sich ziehen. Rührende Zeichen unverlierbarer Anhänglichkeit kann man auf den Grabhügeln des Döbhnger Friedhofes begegnen, unter denen Größen des alten Burgtheaters, wie Ernst Hartmann und Sonnenthal ruhen, und nahe bei ihnen auch Josef Kainz, der Feuergeist des neuen Hauses. Wie oft kann man auf einem dieser Gräber einen Blumenstrauß finden, der, und sei er auch noch so klein, einem Unvergessenen dafür danken will, daß er sein großes Herz auf der Bühne vor ärmeren Menschen geöffnet und ihnen damit Wärme gegeben hat und das beglückende Bewußtsein menschlicher Größe. Manche alte Dame habe ich hier vor einem der Schauspielergräber gesehen, in dankbare Erinnerung versunken, und in ihren Mienen war ein Leuchten der Besinnung auf ein Glück, das sie einmal mit Augen gesehen und mit Ohren gehört hat, ihr Gesicht wurde dabei förmlich wieder jung, und man konnte in ihm das kleine Mädchen wieder finden, das klatschend auf der Galerie gestanden war, wenn ihr Liebling im Glanz der Rampe die große Szene gespielt hat. Wenn eine solche treue Erinnerung an die schönsten Äugenblicke ihres empfänglichen Herzens aus dem Antlitz einer Greisin noch so warm sprechen konnte, wäre man wohl versucht, es eine Verleumdung zu nennen, daß die Nachwelt dem Mimen keine Kränze flicht, müßten wir dann nicht diese Nachwelt mit dem Letzten, der den Künstler gesehen hat, gnädig beschließen.

Aus dem Meer der Namenlosen ragen Steine auf, die in goldenen Buchstaben Menschen nennen, deren sterbliche Hülle eine Flamme des Geistes genährt hat. Über zahlreichen Friedhöfen der Erde sammelt sich davon noch ein Leuchten und wird zu einer Garbe, die das Dunkel des Vergessens magisch durchdringt und als Botschaft am Himmel steht, um blinde Augen zu wecken. Millionen Namen sind verklungen und ihre Spuren verweht, aber die Namen der Dichter, der Männer des Geistes und der Schönheit sind geblieben. Und wie sich über dem Grab des heiligen Carlo Borromeo der Mailänder Dom türmt und „II Santo“ über dem Sarg des heiligen Antonius von Padua aufragt, so reiht sich eine Kuppel an die andere über die letzten Stätten der Heiligen, die eine große Tat des Herzens und das Opfer ihres Lebens gebracht haben, um Teil zu sein von dem Triumphgesang des Geistes über die Materie. Er steigt hinan bis zu jenem kuppelgekrönten Heiligtum in Jerusalem, der Grabeskirche, die über dem Boden steht, der das letzte Blut Jesu Christi aufgenommen und von dem die Auferstehung des Herrn ihren Ausgang genommen hat.

Was wäre aber die Flamme des Geistes ohne Herzen, in denen sie zu zünden vermag, was wäre ein hohes Beispiel ohne Menschen, die ihm nachzufolgen bereit sind. Eines der mächtigsten Grabmäler der Welt, das Napoleons 1., im Dome des Invalides, trägt über seiner marmornen Pforte die unvergeßlichen Worte aus seinem Testament: „Ich wünsche, daß meine Gebeine ruhen an den Ufern der Seine, inmitten des französischen Volkes, das ich so geliebt habe.“ Das ist es: Jede Größe braucht eine Liebe, die ihr entgegenschlägt, sie kann sich nicht im menschenleeren Raum entwickeln. Und da regt es sich über den aufgeworfenen Schollen, aus namenlosen Gräbern scheint es sprechen zu wollen, denn Menschen ruhen hier aus, die durch ihre Liebe zur Schönheit und durch die Teilnahme ihres Herzens dem geistigen Ereignis angehört haben und für sein Wirken notwendiger Fruchtboden gewesen sind. Das Namenlose hat so seinen Teil an den bleibenden Namen, und die Kränze, die auf den Hügeln ihrer letzten Ruhestätte liegen, ehren zugleich die vielen, die durch Mitempfinden und Nachfolge dem Namen seinen Glanz und seine Dauer gegeben haben. Die den Unsterblichen geweihten Kränze gelten dann nicht nur als Dank für ein schöpferisches Werk oder die erlösende Tat, sie stehen über jedem gläubigen Bekenntnis zum Geist.

Aus dem nachgelassenen Werk von Irhard Buschbech Al.'.MU? AUSTR1 \CUS. herausgegeben von Lotte von Toblsch im Verlag ..Dos Bergiand-Buch'. Saltburg-Stuttgart

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