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Ein Schloß an der Rhone

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Im Süden jener „langen, schwarzen, parallellaufenden Linien des Jura, dort, wo der Rhonefluß seinen Einzug in die Arena hält und die aufgetürmten Mauern der Alpen hinter sich läßt, die, blauen Engeln gleich, überallhin lange Steinbänder ins Azur des Himmels rollen“, dort liegt Brangues.

Dieser Name scheint noch in keinem Baedeker, in keinem Guide Bleu auf. Vor eineinhalb Jahrhunderten jedoch hat er die Öffentlichkeit bewegt, damals, als ein gewisser Antoine Berthet, dem Stendhal seinen Julien Sorel nachgestaltet hat, die Schloßherrin von Brangues, Frau Michoud de La Tour, in der Dorfkirche erschoß.

Ohne Paul Claudel, der dort schon 1925 vom Marquis de Virieu Schloß und Grundbesitz gekauft hatte, wäre Brangues heute nichts anderes als eine unbedeutende Ortschaft des Departements Isere, mit einer bescheidenen Pfarrkirche, ohne andere Sehenswürdigkeiten, als höchstens jenes mächtige, uneinheitliche Schloß, das, mitten in einem großen Park gelegen, die Wiesen des nahen Rhonetals überragt.

Nun aber hat sich Claudel dort während der letzten 20 Jahre seines Lebens aufgehalten. Dort hat er, neben „Christoph Columbus“, den größten Teil dessen geschrieben, was er selbst als das Bedeutsamste seines späteren Schaffens betrachtete, seine Kommentare der Heiligen Schrift. „Gegenstand“, so erklärt er, „eines eifrigen und unaufhörlichen Studiums, das man eher ein Hineinwandern aller Kräfte meines Geistes und meiner Phantasie nennen sollte.“ — Dort sollten seine „sterblichen Reste und sein Samen“ ruhen, im Schoß jenes Bodens des Rhonetals, das er. nachdem seine „Weltenleidenschaft" gestillt war, zu seiner Wahlheimat gemacht hat.

„Sei gegrüßt, o Abendstern! Unt dich am Himmel sinnend aufzufinden, gibt es in der Tiefe des Parks, im entlegensten Winkel meines Gartens, eine hohe Pappel, einem Glaubensbekenntnis, einer Liebesflamme gleich, schlank wie eine Kerze. Dort eben habe ich, im Schatten einer alten, von Moos und Farnkraut überwachsenen Mauer, meinen Platz gewählt. Dort will ich, von Äckern und Feldarbeiten kaum getrennt, für immer ruhen, neben diesem unschuldigen Enkelkind, das ich verloren habe und an dessen Grab ich oftmals meinen Rosenkranz bete.“

Dort, in Brangues, empfängt Claudels ältester Sohn, der Nachlaß und geistiges Vermächtnis seines Vaters verwaltet, als aufmerksamer Gastgeber den Besucher, dem er Grab und Wohnstätte des Dichters zeigt.

„Brangues! Das ist wohl jene eherne Silbe, die das Angelus- läuten dreimal im Tage hämmert; für die mein Ohr durch jene Gegenwart hindurch, die schon Zukunft ist, bereit war, auf daß ich nach jener erdumfassenden Suche die Ruhe meiner letzten Jahre ihrem Klange zugeselle. Während ich nachdenklichen Schrittes diese Terrasse, die von einer Reihe ehrwürdiger Lindenbäume beschattet wird, durchschreite, hat man mir am Himmel einen zweiten Rhonefluß geschenkt, damit ich dessen unversiegbare Melodie von der Quelle bis zur Mündung begleite. Ich will von jener verständigen Anordnung sprecnen, von jener mächtigen Welle prosodischer Anhöhen, die sich gleich einem Satz heben und senken, und die durch den weißen Fleck einer Bauernhofmauer oder das bescheidene, durch Jahrhunderte hindurch unterhaltene Feuer einer Ansiedlung hie und da betont werden. Wie viele Erinnerungen sie wachruft, und zu welch tollen Verheißungen sie mich hinreißen könnte, stünde nicht hinter mir jenes große Schloß, voll von Kindern und Enkeln, das mir zuflüstert: .Jetzt ist es zu Ende, du Wanderer! Sielt doch das mächtige Haus, mit dem du dich auf immer freiwillig und in aller Form vermählt hast.' “

Gar so neu und unbekannt war für Claudel die Gegend um Brangues eigentlich nicht. Im Jahre 1906 hatte er bekanntlich die Tochter eines Architekten aus Lyon geheiratet und 1911, nach einem unvergeßlich schönen Aufenthalt in Valromey, den begeisterten „Cantique du Rhone“ aus der Dreistimmigen Kantate geschrieben. Im Jahre 1918 endlich, als er in Südamerika weilte, hatte er zum Andenken an seinen verstorbenen Schwiegervater ein langes Gedicht verfaßt, in dem er im stattlichen Familienhaus seiner Frau sein eigenes künftiges Heim in Brangues prophetisch besang.

„Glücklich ist der, dessen Haus — sobald er es, vom breiten und ehrwürdigen Dach beschützt, aus der Ferne erblickt — kein Schmerz fürs Auge und keine Beleidigung der Natur ist. Glücklich ist, wer vor Gott vermählt, zwischen Weg und Furche die Wohnstätte auf sich nimmt, die nicht in einem Tag, sondern für Generationen erbaut wurde.

Zehn Familien bewohnen des Sommers das Haus in seiner ganzen Höhe, und durch die Öffnung eines jeden Fensters hört man die Stimme einer jungen Frau oder eines Kindes ᾠ"Als Claudel Brangues zu seinem Wohnsitz machte, unweit von jener engen Schlinge des Rhonetals, die seither bei Gėnissiat von Menschenhand gigantisch verbaut wurde, scheinen ihm Sinn und Dynamik der kosmischen Harmonie bereits zur Ruhe gekommen, und nach einer Aufführung von „Fausts Verdammnis“ in La Cöte St. Andrė, der benachbarten Heimat von H. Berlioz, konnte er im Jahre 1928 „das wunderbarste geographische Gebilde“ besingen, „das je auf den Taktstock eines Demiurgen gewartet hat, um selbst zur Symphonie zu werdenᾠ“. Und dennoch, am Vorabend seines endlichen Ruhegenusses, hatte der alte Kämpfer noch nicht resigniert, und die Erinnerung an seine abenteuerliche Vergangenheit, die ihm durch die endlich erreichten Aufführungen seiner Theaterstücke außerordentlich vergegenwärtigt wird, glüht immer noch heftige Leidenschaft auf, so daß er nur in der mystischen Atmosphäre der kleinen Dorfkirche etwas Ruhe und Besänftigung erflehen kann.

„In der Kirche meines Dorfes Brangues ist auch die Schloßkapelle. Dorthin gehe ich jeden Tag, um 5 Uhr, weil es sonst zu heiß ist. Drinnen, vor mir, für mich, die Madonna, so frisch und rein wie ein Gletscher. Schneeweiß mit ihrem Kind, in ihrem schönen weißen Gewand, das so lang ist, daß man nur die Spitze ihrer Füße sehen kann. O Maria! Hier ist er also noch einmal, der alte Trottel, übervoll von Ängstlichkeit und Begierden! Ach, nie werde ich genug Zeit haben, um dir alles anzuvertrauen, was ich dir zu sagen habe.“ Fünfzehn Jahre später, 1950, nimmt er wiederum zur Madonna von Brangues seine Zuflucht:

„Zu ihren Füßen knie ich und bete. Von ihr kann man aber nicht sagen, daß sie auf mich blickt oder mir zuhört. Sie ist nur ein sinnender Widerschein, wie der Widerschein eines stillen und reinen Wassers. Wer mir zuhört, das ist dieses Kind, das sie auf ihrem linken Arm trägt. Das Kind ist es, dessen Ohr mir zugewendet ist. Sein Herz schlägt. Und daß es wirklich schlägt, das bezeugt die lange, schmale Hand der Mutter, die auf seinem Herzen ausgebreitet liegt und horcht. Sie horcht, wie es mir zuhört. Des Kindes Hand liegt aber wieder auf dem Arm der Mutter. Auf dem mütterlichen Puls. Die Madonna von Brangues ist eine Madonna in Betrieb. Einem Werk in vollem Betrieb habe ich mich eingefügt. . .“ Kehren wir nun aber zum Schloß Brangues zurück. Voll Würde und Diskretion empfängt Madame Claudel den Gast aus Wien, der im Namen aller österreichischen Claudel-Verehrer das Grab des Dichters mit einem bescheidenen Strauß von rotweißroten Nelken geschmückt hat. Der Name Wien, der k. k. Residenzstadt der Glanzjahre 1910 11, ruft sofort in der Witwe des ehemaligen französischen Generalkonsuls in Prag Erinnerungen wach. Öfter hat sie ihn begleitet, wenn er die Hofoper besuchte, den „Ring des Nibelungen“, begeistert und kritisch zugleich, anhörte und die Eindrücke des reifen Mannes mit der leidenschaftlichen Zustimmung seiner enthusiastischen, noch nicht christlichen Pariser Studentenjahre verglich.

Nun haben wir, unter der Führung seines Sohnes Pierre, einige Salons durchschritten, in denen der herumwandernde Botschafter zahlreiche Andenken — Kunstwerke oder reizende Kuriosa — aus dem Fernen Osten oder aus Südamerika angesammelt hatte, und sind in das Arbeitszimmer des Meisters eingetreten. Nichts wurde dort geändert. Da steht der kleine Arbeitstisch, bedeckt mit Büchern und halbfertigen Manuskripten; links, oberhalb eines Ruhebettes, in einer Wandnische, ein Regal mit Wörter büchern, einer Vulgata, den abgeschabten Bänden des Bibelkommentars von Fillion, nach dessen Leitfaden Claudel seine Exegesen ausarbeitete. Rechts an der Wand ein schönes Bild von Honegger aus dem Jahre 1937, aus der Zeit also der gemeinsamen Arbeit an „Johanna auf dem Scheiterhaufen“ und am „Totentanz“. Endlich linker Hand, zwischen den Türen, die direkt in den Park gehen und durch die man die Terrasse mit den „ehrwürdigen Lindenbäumen“ erblicken kann, ein Ölbild des Dichters selbst, von seiner Schwiegertochter Marion Cartier- Claudel gemalt. Claudel sitzt an einem kleinen Tisch: der Kopf ist schon ganz kahl, eine große Brille lastet auf der Nase und eine schwarze Pelerine umhüllt seine Schultern. Vor ihm liegen abgegriffene Spielkarten, mit denen er jeden Abend seine Patiencen legte. Mit 78 Jahren befragt man das Schicksal, da will man es nicht mehr zwingenᾠ

„Ich brauche nicht mehr, wie in den Tagen meiner Jugend, meine Kleider abzuwerfen, um mitzuschwimmen in der wunderschönen Weltsymphonie und meine Schwimmstöße ihrer Strömung, unbesiegbar und überzeugend wie das Glück, hinzuzufügen. Für immer habe ich dieses glückselige Andante gewählt! Ich brauche dieses Leichterwerden, dieses Flüssige unter meinem Leib, diese Wiederkehr der Ewigkeit. Ich brauche diese unaufhörliche Aufforderung zum Abschied, um festzustellen, daß ich niemals aufgehört habe, selig am gleichen Platz zu bleiben.“

Noch bevor wir in den ersten Stock emporsteigen, werfen wir einen flüchtigen Blick in den großen Speisesaal der Familie. Wo sind die Zeiten, da Pierre de Craön, wie ein einfacher Taglöhner lebend, mit einem „Heubündel zwischen zwei Steinen, einem ledernen Gewand und ein wenig Speck auf einem Stück Brot“ vorliebnehmen mußte? Claudel, der Patriarch, konnte, umgeben von Kindern und Enkeln, schon längst mit Anne Vercors sprechens „Hier ist der Kamin, in dem das Feuer immer brennt.

Nehmt alle Platz: ein letztesmal verteile ich das Brot unter euchᾠ Ich habe meinen Tag beendet. Das Korn habe ich gesät, ich habe die Ernte eingebracht, und von diesem Brot, das ich bereitet habe, wurden alle meine Kinder gemeinsam gespeist. Nun ist es zu Ende. Allein bleibe ich vor dem abgedeckten Tisch, um Gott Dank zu sagen. Ich lebe an der Schwelle des Todes und eine unaussprechliche Freude wohnt in mir.“

Claudel hat nun die Schwelle des Todes überschritten. Er lebt aber immer weiter, und dieses Weiterleben ist zu einer zeitlosen, immerwährenden Gegenwart geworden, die ihm nicht einmal seine späten ruhmreichen Tage zugesichert hatten. Jetzt sind es nicht nur seine Enkel, die ihm an seinem Geburtstag in der Bibliothek im ersten Stock des Schlosses einige Szenen aus seinen Theaterstücken vorspielen: Schon längst braucht Claudel nicht mehr nach einem Theater und einem Regisseur zu suchen, und was Klaus Dohrn und Salzmann vor dem ersten Weltkrieg in Deutschland für das Claudelsche Theaterwerk als Pionierarbeit geleistet haben und Leo Epp dann in Wien in der Zwischenkriegszeit, das führen nun in Frankreich J. L. Barrault und andere namhafte Regisseure mit immer größerem Erfolg weiter.

Nun aber heißt es, Claudel etwas anderes und besseres zu sichern als nur ein Theaterpublikum. Sein außerordentlich großes — poetisches, biblisches und dramaturgisches — Schaffen bleibt immer noch in mancher Hinsicht unerforscht und unbekannt. Claudels ältester Sohn hat den Plan gefaßt — und schon teilweise verwirklicht —, aus Brangues ein Zentrum der Claudel-Forschung zu machen. Unter seiner Führung endet nämlich der Besuch des ersten Stockes im rechten Flügel des Schlosses: mehrere Räume sind bereits als Studien- und Vortragssäle eingerichtet. Auch eine Bibliothek gibt es schon: Der Besucher kann nicht nur in seltenen, heute vergriffenen Werken Claudels oder in Luxusausgaben blättern, sondern auch Manuskripte studieren, uater anderem den vollständigen, von Claudel selbst im Jahre 1904 kalligraphisch abgeschriebenen Text von „Connaissance de l’Est“. Kleinere Zimmer, die im Sommer von den Enkeln des Dichters bewohnt werden, warfen auf Gaste: Gelehrte und Studenten, die in Brangues in 'nicht allzu ferner Zukunft an Claudel-Studientagungen teilnehmen werden. Eben auf diese Weise kann Brangues einmal viel mehr sein als die Ruhestätte von Claudels „sterblichen Resten".

Sein geistiger „Samen“ kann so immer weiterkeimen und Frucht bringen. „Meister, deine gefangene Seele ist nun endlich erlöst“, sagte J. L. Barrault in seiner Rede am Grab des Dichters im August 1955. „Hienieden aber bleibt uns dein Werk. Jetzt eben beginnst du wirklich ein neues Leben. Wir versprechen dir, daß wir alle unsere Kräfte daransetzen werden, das Verständnis, die Liebe, vor allem aber den fruchtbaren Einfluß deines Werkes zu fördern. Niemals habe ich dich aufgesucht, selbst wenn ich nur einige Minuten bei dir verweilte, ohne ein Krümchen vom Tische deines Geistes mitzunehmen, das mir dauernde Nahrung war. Ich hoffe, daß die späteren Generationen zu deinem Grab pilgern werden; in dir, aus dir werden sie Eifer, Begeisterung, Mut, Hartnäckigkeit, Leidenschaft, Wut, Beharrlichkeit, Hochmut und Demut, Eigensinn und Bescheidenheit schöpfen, kurz gesagt, alles das, was die wahre Liebe zur Wirklichkeit Gottes ausmacht.“

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