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DAS GROSSE LIED VOM MENSCHEN

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In mehr als fünfzigjähriger Arbeit ist nun das schriftstellerische Gesamtwerk von Paul Claudel auch für den deutschen Sprachkreis gewonnen. Bereits vor 1910 hatte Franz Blei als erster einige der Theaterstücke („Der Tausch“, „Mittagswende“) übersetzt. Dann folgte Jakob Hegner, der vor einiger Zeit mit dem Ubersetzerpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ausgezeichnet wurde. Im Festspielhaus von Hellerau hatte 1913 die deutsche Erstaufführung der „Verkündigung“ stattgefunden, unter der Regie von Jaques-Dalcroze und in den Bühnenbildern von Appia, einer der Ausgangspunkte moderner szenischer Gestaltung. Im gleichen Jahr, im gleichen Hellerau, hatte Hegner seinen Verlag gegründet, in dem er nach und nach in seinen freien Nachschöpfungen die Stücke Claudels vorzulegen begann. Auch Hans Urs von Balthasar verdient einen Ehrenplatz unter den deutschen Wegbereitern Claudels; mag seine Fassung des „Seidenschuhs-' auch philologische Einwände herausfordern und sind ihm manche mystischen Dunkelheiten der Dichtung ins Nebulose oder gar Abstruse entglitten, hat er doch als erster dies Hauptwerk des größten katholischen Dichters unseres Jahrhunderts ins Deutsche vermittelt.

Schon geraume Zeit vor seinem Tod hatte der Dichter Claudel die weiteren Übersetzungen in die Hände von Edwin Maria Landau gelegt und ihm zuletzt auch noch die Herausgeberschaft der „Gesammelten Werke“ übertragen. In sechs Bänden liegen diese jetzt im Gemeinschaftsverlag von Benzinger in Einsiedeln und von F. H. Kerle in Heidelberg vor. Gleichzeitig hat Edwin Maria Landau auch noch im Prestel-Verlag, München, die Gedanken Claudels zur Kunst und Musik unter dem Titel „Vom Sichtbaren und Unsichtbaren“ in einem teilweise sich mit der Gesamtausgabe überschneidenden und teilweise diese auch ergänzenden Einzelbande vorgelegt. Die meisten der früheren Ubersetzer oder Bearbeiter haben auf ihre Rechte verzichtet, um eine neue und diesmal unbedingt text- und sinngetreue Eindeutschung möglich zu machen. Wenn es leider auch nicht alle waren, so daß in Einzelfällen auch hier nicht mehr als die Grundzüge dessen vermittelt werden konnte, was Claudel sagen wollte, liegt der Großteil seines Oeuvres nun doch in einer gültigen Wiedergabe vor. Von Roger Peyrefitte, dem geistvoll-zynischen Spötter und Pamphletisten stammt das Wort, er könne Claudel nur in der Übersetzung in fremde Sprachen lesen und verstehen. Die meisten Stücke der jetzigen deutschen Werkausgabe haben jene Klarheit, Logik und Lesbarkeit, die Peyrefitte am französischen Original vermißte.

Für jedes Eindringen in die geistige Welt Claudels ist noch immer eine der ersten kritischen Auseinandersetzungen der fruchtbarste Ausgangspunkt geblieben, das Claudel-Kapitel in dem 1918 erschienenen Buche „Die literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich“ von Ernst Robert Curtius. Aus der späteren Sekundärliteratur ist vor allem ..Eros und Agape“ voll Reinhold Lindemann zu rühmen. In der jetzigen Sammelausgabe ist jeder Band durch ein Nachwort eines jeweils wechselnden Sachkenners kommentiert. Der Herausgeber Landau, heute wohl unbestritten der gründlichste Kenner des gesamten Oeuvres im deutschen Sprachraum, hat sich in allzu großer Zurückhaltung auf einen einzigen Band beschränkt, den mit den frühen Dramen, hier aber Zusammenhänge und Hintergründe erhellt, etwa im Blick auf die buffoneske Seite des Dichters, die bisher unbekannt waren. Unter den weitern Nachworten sind das von Elisabeth Brock-Sulzer zu den späteren Dramen, das von Carl J. Burckhardt zum vierten Band „Länder und Welten“ und in allererster Linie das von Robert Grosche zum Schlußband mit den religiösen Schriften hervorzuheben. Vielleicht sollte man das Lesen, zumindest aber das Studium der sechs Bände wirklich von ganz hinten beginnen, beim Kommentar des sechsten Bandes, denn von der durchaus kritischen Analyse des Christenglaubens Claudels her, die Grosche vermittelt, gewinnt man den direktesten und am weitesten und tiefsten führenden Eingang in das geistige Universum des Dichters:

„Claudel hat den sturen Glauben einer bretonischen Bäuerin gehabt. Nicht als ob er die Einwände, die gegen den Glauben, die Offenbarung, die Kirche erhoben werden, nicht gekannt und nicht immer wieder vernommen hätte, ...er wußte von diesen Einwänden und kannte sie, aber er hat sie nicht an sich herangelassen; sie taten ihm nicht weh, ritzten noch nicht einmal seine Haut. Er hatte einmal dem Geist der Zeit und allem, was der von der Kirche verkün-dialen Offenbarung widersprach, abgesagt, und das war genug für sein ganzes Leben.''

Wenn Claudel auch dem „Geist der Zeit abgesagt“ haben mochte, hatte er sich der Wirklichkeit der Zeit, ihrer Sorgen und Aufgaben nie verschlossen. Wenn alle politischen Berichte aus der vierzig Jahre währenden Diplomatenzeit Claudels auch 1940 verbrannt wurden, als der Quai d'Orsay vor dem Einmarsch Hitlers seine Akten vernichten ließ, zeugen nicht zuletzt seine Bücher, „Erkenntnis des Ostens“, „Unter dem Drachenzeichen“ und „Schwarzer Vogel im Sonnenaufgang“, von dem aufgeschlossenen Erkunden und Deuten des menschlichen, geistigen und geistlichen Lebens in China und Japan. Wenr <!ie sachliche Belehrung über beide Länder auch zu sehr von dichterischer Imagination durchdrungen bleibt, ist Claudel doch durch die fernöstliche Weisheit zu bedeutungsschweren Einsichten gelangt und hat aus der Meditation über diese dort im Osten die Bestätigung für seine eigene, klar umrissene, Weite gefunden. Denn hinter dem „sturen Glauben einer bretonischen Bäuerin“ wirkt bei ihm doch immer die politische Weltsicht des Diplomaten, die er aus einem demütigen, aber das Universum umspannenden Glauben zur Verchristlichung des ganzen Kosmos verwendet. Für ihn ist — gleichzeitig und doch wohl unabhängig gegenüber Teilhard de Chardin — die Schöpfung in unentwegter Bewegung: sie ist nicht das Sein, sondern hat nur das Sein und erhält es in fortdauernder Schöpfung immer neu von jenem, der allein das Sein ist. Die Heilige Schrift, so deutet es Robert Grosche in seinem Nachwort, „ist also von der Genesis bis zur Apokalypse das Dokument einer Geschichte, eines auf Vollendung der Schöpfung zielenden göttlichen Handelns, das sich vervnrklicht durch die menschliche Freiheit mit der Zustimmung des Menschen, die der Anruf Gottes sucht und findet, aber auch durch die Weigerung des Menschen, die zuletzt dem Plan Gottes dienen muß: Gott schreibt auch auf krummen Linien gerade“.

Seit jenem Weihnachtsabend des Jahres 1886, als der 18jährige Claudel in Notre-Dame de Paris seine Bekehrung erfuhr, hat er Tag für Tag im Buche aller Bücher gelesen. Es mag auf den ersten Blick vielleicht als Anmaßung erscheinen, daß er rund zwei Jahrzehnte später einen „Abriß der gesamten christlichen Lehre“ verfaßte, der nicht viel mehr als zwei Druckseiten lang ist; diese Zeilen jedoch, wert in jedes Schullesebuch aufgenommen zu werden, erweisen in ihrer Prägnanz und Tiefe wieder einmal, wie klar und einfach alles für den wird, der die Gnade des Glaubens erfuhr. Von diesem „Abriß“ her, der die Frage nach der Einordnung des Menschen in das Ganze der Schöpfungsordnung aufwirft, führen Claudels religiöse Essays dann Schritt um Schritt, gleichsam Auge in Auge mit den Buchstaben der Schrift, in die Wahrheit der Bibel und des in ihr offenbarten ewigen Grundes. Über das Spüren nach dem Bildsinn der Heiligen Schrift kommt Claudel zur Diskussion um das erwählte Volk und die, Aufgaben des heutigen Israel, zur Analyse ausgewählter Textstellen des Alten und Neuen Bundes, zu den Gestalten von Judas und von Pontius Pilatus (wo ihm mit der Inspirationskraft des Dichters fast so etwas wie die Exposition zu einem Pilatus-Drama gelingt), zur Sinndeutung der Kirche im Bilde des Hohenliedes und schließlich zur ebenso demütigen wie hymnischen, kritischen wie weiterweisenden Schilderung der „Heiligen unserer Tage“, der kleinen Karmeliterin Therese Martin aus Lisieux. Neben sie stellt er den armen Bruder Charles de Foucauld, der sein Leben für Christus unter Mörderhand in der algerischen Wüste beschloß, als den anderen christlichen Blutzeugen unseres Jahrhunderts, aus dem wie noch in keinem anderen zuvor von den Schlachtfeldern zweier Weltkriege, aus den Vernichtungskammern der Lager und unter der Feuerglut der Atombombe der abermillionenfache Verzweiflungsschrei des „Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ emporbrach .In dieser Schrift über die heilige Therese gibt der Dichter sozusagen das A und das O vom Christenglauben unserer Zeit, der endlich den geistlichen Grund der von der Französischen Revolution geprägten Parole „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ zu begreifen beginnt und der sich an das Ghetto von Warschau und an die Konzentrationslager erinnert, wenn das Wort gesprochen wird, „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“. Denn immer bleibt die Verheißung des Apostels Paulus aus dem Brief an die Römer (5, 20), daß dort, „wo der Frevel mächtig geworden ist, da ist doch die Gnade viel mächtiger geworden“.

Wenn der Schlußband den schlagworthaften Titel „Religion“ führt, mag dieser nicht ganz richtig gewählt sein, denn alles, was Claudel schrieb, hat sich auf die Religion, auf den christlichen Glauben bezogen. Aber in diesem sechsten Band ist die Quintessenz seines Denkens und Wesens zu finden, und für den deutschen Leser bedeutet der Band die, wenn man das etwas sensationell klingende Wort gebrauchen darf, „Entdeckung“ innerhalb der gesammelten Werke. Die Mehrzahl der Beiträge ist für die Gesamtausgabe erstmals ins Deutsche übersetzt, von den anderen wiederum ist der Großteil, nach früheren Auswahldrucken, erstmals vollständig wiedergegeben. In den ersten fünf Bänden steht sowohl kaum eine Zeile, die nicht in ständigen Wechselbeziehungen zur geistlichen Ernte dieses sechsten konzipiert ist, und wer das gedankliche Koordinatensystem des Gesamt-Oeuvres aufschlüsseln will, wird immer wieder zum Schlußband „Religion“ greifen müssen. Das letzte und schwierigste, das am meisten symbolisch verschlüsselte Bühnenstück, „Die Geschichte von Tobias und Sara“, ist wohl überhaupt nur zu begreifen, wenn man den Essay „Das Buch Tobias“ als Kommentar dazu nimmt.

Die Ganzheit Claudels umfaßt freilich alle Bereiche des Lebens und Denkens, nicht zuletzt die der Kunst und Musik. Aus Berichten von Arthur Honegger weiß man, daß er sich bei der Komposition der „Johanna auf dem Scheiterhaufen“ nur als ausführende Hand betrachtet habe; der Dichter Claudel und der Komponist Honegger waren sich einig, daß der Musik nur ein dienender und helfender Platz gegenüber dem Worte zukomme, und die ungemein präzisen Wünsche oder gar Angaben Claudels hat Honegger nur ins Notenbild übertragen. Für Claudel war Beethoven der größte von allen, der „Offenbarer der Schöpfung Gottes in Tönen“, während seine, von einer Art Haßliebe getragene Auseinandersetzung

Paul Claudel in seinen letzten Lebensjahren mit Wagner gewisse innere Verwandtschaften zwischen den beiden erkennen läßt. Auch Claudel wollte zu einer Form gelangen, die man als „Gesamtkunstwerk“ bezeichnen kann, doch knüpfte er mit der erstrebten Totalität des sinnlich Wahrnehmbaren an den katholischen Barock an. In dem Essay über spanische Malerei hat seine Entflammtheit für die Kunst von El Greco sich bis in die hier leidenschaftliche Ekstatik der Sprache hinein ausgewirkt, während die „Einführung in die holländische Malerei“ in ihrer Würdigung des ländlich-bäuerlichen Elementes darin mehr von gewissen persönlichen Neigungen des Dichters als von strikter kunstwissenschaftlicher Analyse* geprägt ist.

Mag die Dramatik Claudels vielfach auch dem schaulustigen Auge geben, was dieses nur je verlangen könnte, am barock-ausschweifendsten in „Der seidene Schuh“, so soll es doch immer ein hörendes Auge sein, das auch die Stimme jenseits des Vorhanges vernimmt, dem Wort hinter den Dingen lauscht. Das dramatische Schaffen Claudels ist bei uns bekannt genug, so daß nur zu vermerken ist, daß fast alle Stücke für die Gesamtausgabe neu übersetzt oder zumindest gründlich revidiert worden sind. Daß auch hier einiges so gut wie Unbekanntes hinzugefügt werden konnte, etwa die beiden bezaubernden lyrischen Farcen „Proteus“ (1913) und „Der Bär und Frau Luna“ (1917), dazu mit „Die Schlummernde“ der erste Bühnentext des Fünfzehnjährigen und die Fragmente einer vom zwanzigjährigen Claudel geschriebenen Frühfassung der „Mittagswende“, geben den beiden Dramenbänden ihren besonderen Wert.

Nur der erste Band innerhalb dieser „Gesammelten Werke“ steht nicht ganz auf der Höhe der anderen und fordert in allzu vielen der gebotenen Ubersetzungen eine Kritik; allerdings ist dieser Band auch nicht von dem verdienten Herausgeber Edwin Maria Landau betreut, sondern anderen Händen übergeben worden. Freilich ist die Übertragung von Lyrik ein weites Feld, für das noch immer keine gültigen Gesetze gegeben sind. Es hat Dichter gegeben, in deutscher Sprache etwa Rilke oder Stefan George, die fremde Vorlagen sich so sprachmächtig anverwandelten, daß im Grunde eigene Verse daraus geworden sind, die man mit oder ohne Bezug auf das Original als große Dichtung genießt. Bei einer Claudel-Ausgabe erwartet man jedoch eine getreue Verdeutschung, zumal keiner der beteiligten Übersetzer über jene eigenständige dichterische Begabung verfügt, die in einer freien Nachdichtung zu einem kongenialen Ergebnis zu führen vermöchte. Die Schwierigkeiten, die sich durch Claudels Verwendung des Reimes, durch seinen sehr persönlichen Sprachrhythmus und eine dichterisch-schöpferische Wortwahl ergeben, seien dabei durchaus berücksichtigt.

Es hat wenig Sinn, sich mit all den vielen Mißverständnissen des Übersetzers und Bandherausgebers auseinanderzusetzen. Bei einer (hoffentlich bald notwendigen) Neuauflage der „Gesammelten Werke“, sollte am besten der ganze Lyrik-Band durch einen völlig neu gestalteten ersetzt werden. Claudel selbst hatte ja noch gestattet, auf den Reim zu verzichten, und davon sollte Gebrauch gemacht werden; vielleicht ließe sich der Umfang so erweitern, neben einer werkgetreuen Prosaverdeutschung wenigstens die wichtigsten Partien daneben im französischen Original mitabzudrucken. Die restlichen fünf Bände zählen in ihrer editorischen und translatorischen Sorgfalt zu den bedeutendsten Übersetzungsleistungen, die seit langem in deutscher Sprache vorgelegt sind. Vielleicht wird es einmal möglich sein, besonders wichtige Briefwechsel Claudels als Nachtragbände anzufügen, vielleicht sogar etwas aus jenen bisher unveröffentlichten Bibelexegesen, rund 2000 Druckseiten stark, die sich im Nachlaß des Dichters gefunden haben. Der deutsche Claudel, wie Edwin Maria Landau ihn vorgelegt hat, ist jedenfalls eine kulturelle Tat und es bleibt eine Ehrenpflicht, sie auszubauen, soweit es nur geht.

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