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Das Erbe eines religiösen Dichters

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CLAUDEL-RIVIÈRE. „ICH WILL DIE ANT- WORT.“ Der Briefwechsel des Dichters P. Claudel mit einem jungen Intellektuellen. Axena-Taschenbuch-Ausgabe, Band 128. Übersetzt von H. Szasz. 165 Seiten. S 19.—. — P. CLAUDEL. GEDANKEN ZUR DICHTUNG. Langen-Müller-Verlag, 1967. Auswahl, Übertragung und Nachwort von E. M. Landau, 899 Selten. DM 26.50.

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CLAUDEL-RIVIÈRE. „ICH WILL DIE ANT- WORT.“ Der Briefwechsel des Dichters P. Claudel mit einem jungen Intellektuellen. Axena-Taschenbuch-Ausgabe, Band 128. Übersetzt von H. Szasz. 165 Seiten. S 19.—. — P. CLAUDEL. GEDANKEN ZUR DICHTUNG. Langen-Müller-Verlag, 1967. Auswahl, Übertragung und Nachwort von E. M. Landau, 899 Selten. DM 26.50.

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Claudels Briefwechsel mit Jacques Rivière, mit dem Vorwort von Isabelle Rivière, seiner Schwester, ist schon vor Jahren beim Kösel-Verlag, München, ebenfalls von H. Szasz übersetzt, erschienen und hatte 1955 seine zweite Auflage. Die vorliegende Taschenbuchausgabe von Arena übernimmt die Kösel-Aus- gabe, leider auch die Übersetzungsfehler, auf die der Rezensent bereits aufmerksam machen mußte (vgl. „Die Furche“, 1955, Nr. 99). Viel wichtiger ist das zweite Buch, von E. M. Landau bei Langen-Müller herausgegeben. Es ist dies eine umfangreiche Sammlung von Ciaudelschen Texten über die Dichtung, die die sechs Bände der Gesammelten Werke (Benzi- ger-Verlag, 1958 63) ergänzen und das ebenfalls von E. M. Landau edierte Buch „Vom Sichtbaren und Unsichtbaren. Gedanken zur Kunst und Musik“ (Prestel-Verlag, München, 1962) auf das Treffendste vervollständigen. Das vorliegende Buch ist um so interessanter, als es zahlreiche, aus allen Schaffensperioden Claudels stammende, bis jetzt in verschiedenen Publikationen verstreute und schwer zugängliche Texte enthält, die hier zum ersten Male ins Deutsche übertragen sind. Aus der detaillierten Bibliographie (S. 393 399. Ein Fehler ist dem meritorischen Herausgeber unterlaufen: „Dichten ist eine Kunst“, als Vorwort zu einer Anthologie der mexikanischen Dichtung, 1952 erschienen, konnte nicht bereits 1949 in das Sammelwerk „Accompagnemonts“ aufgenommen werden S. 394) läßt sich nämlich feststellen, daß unter den 50 Texten, die hier geboten werden, nicht weniger als 32, darunter das bedeutende „Gespräch über Racine“ (1954) und der Vortrag Claudels über „Jeanne au Bücher“ (1938). zum erstenmal deutsch veröffentlicht werden.

Es ist dies also eine glückliche Be- rejjj|erung für en d utschspra higen Leger, im Jahre des 100. Geburts- Ìtegisiièi ichliri M.T iiu,

unermüdliche Übersetzer Claudels, hat fast alle Texte übertragen, bzw. neu übersetzt: Unter den dennoch zugesellten Übersetzern liest man mit Freude den Namen von Friedhelm Kemp, der den überaus schwierigen Text über Saint John Perse („Winde“) ausgezeichnet übertragen hat.

Die Aufteilung des Stoffes ist vorwiegend thematisch und nicht chronologisch, was große methodische Vorteile sichert und die Gesamtsyn- these begünstigt. Da der Wortlaut der „Ars poetica mundi“ viel zu umfangreich ist, hat sich Landau entschlossen, die Zusammenfassung von A. Blanchet (Pages de prose, Paris, 1944) zu übernehmen (S. 9—25) und dazu Texte aus einigen komplementären Werken anzuführen. Die Auswahl bietet dann Claudelsche Fragmente oder vollständige Essays über „Glaube und Dichtung“ (S. 29—60), über die Technik der Dichtkunst und die Inspiration (S. 61—107), über die geistigen Vorfahren Claudels (von Homer zu Dostojewskij, S. 123—163), Urteile über Racine oder Hugo (S. 168—195) sowie über Zeitgenossen (S. 201—327). Ein aufschlußreiches Nachwort van Landau (S. 385 bis 392) beschließt den Band: Es ist dies eine gedrängte Zusammenfassung der Ciaudelschen Metaphorik, als Fundament der Ars poetica mundi, eine Summa der Claudel- schen Ansichten über den Vers, die poetische Prosa und den typischen „verset“ des Dichters und schließlich ein Hymnus auf die unvergleichliche Originalität eines der imposantesten literarischen Phänomene der französischen Dichtkunst seit einem Jahrhundert.

Bei aller dichten Gedrängtheit fehlen immerhin dem vorliegenden Band einige wesentliche Texte, die doch zur Sache „Poesie, Dichtkunst“ gehören. Zahlreiche Fragmente aus der Lyrik, aus dem Theaterschaffen und sogar aus den Bibelkommentaren geben über Claudels Poetik ebenso reichlich Auskunft wie die hier angeführten Texte. Denn — und dies führt uns zum zweiten Einwand, den man formulieren sollte — Claudels Meditation über seine Kunst, über seine Berufung als Dichter, sein Bewußtsein des fatalen Scheiterns des Dichters hat sein ganzes Leben lang angedauert. Den Konflikt zwischen der Muse und der Gnade hat er nie vollkommen lösen können, und vom literarischen Standpunkt aus ist das menschliche Gebet an und für sich nicht Poesie.

Die „neue Logik“, die E. M. Landau als das Mittel des Ciaudelschen poetischen Sieges preist (S. 385), hat Claudel selbst, und bereits 1930, aufgegeben, wenn nicht förmlich verurteilt. Die „co-naissance“ — ein Schlüsselwort der Ars poetica mundi — wurde nicht zum mythisch-mystischen „Mitsein“‘: Sie ist und sie mußte ein schwieriges, nie vollendetes „Mitgeborenwerden“ bleiben. Denn gleich Baudelaire, Rimbaud oder Mallarmé war sich Claudel dessen bewußt, wie jeder „Inspirierte“,

wie die griechische Kassandra oder seine eigene Schwester Camille, „Opfer zugleich und Mitverschwore- ner zu sein einer unbekannten, doppeldeutigen und verdächtigen Kraft“ (S. 183), eines Fatums, eines Daimons, die die Gnade nicht sein können. Claudel als Dichter ist nicht nur ein Triumphator: er ist mehr noch vielleicht ein Tragiker, ein Zeuge des göttlichen Abenteuers in der Zeitlichkeit und in der conditio humana.

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