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Der Dichter der großen Verwandlung

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Was wissen wir von Paul Claudel? Die Antwort auf diese Frage ist genau so einfach, wie betrüblich, ja beschämend: wenig, sehr wenig! Der greise französische Dichter-Diplomat ist, den enggezogenen Kreis einiger Fachromanisten und Kenner der christlichen Gegenwartsliteratur ausgenommen, in unserem Land, und vor allem bei der jungen Generation, so gut wie unbekannt „Stückhaft“ — in des Wortes eigentlicher Bedeutung — ist unsere Kenntnis vom Lebenswerk dieses Vorkämpfers des „Renouveau Catholique“, jener mächtigen Geistesbewegung, die in der französischen Literatur das 19. Jahrhundert überwand und über die Grenzen Frankreichs und der Literatur hinweg heute die kühnsten Köpfe beeinflußt und die mutigsten Federn führt. .Der seidene Schuh“ — durch eine glanzvolle Inszenierung und durch die verdienstvolle Herausgabe der deutschen Ubersetzung in einem österreichischen Verlag uns doppelt nahegebracht —, „Johanna auf dem Scheiterhaufen“, vielleicht auch noch „Der Bürge“ oder „Die Verkündigung“, dazu noch einige Leseproben in Zeitschriften: das ist alles. Etwas wenig von einem Lebenswerk, das zur Zeit von dem Pariser Verlag Gallimard Blatt für Blatt zusammengetragen wird und zu einer Gesamtausgabe von 20 Bänden vereinigt werden soll.

Die Gründe, warum der bedeutendste lebende katholische Dichter für Österreich neu entdeckt werden muß, sind bekannt: die späte Übertragung der Arbeiten des heute Zweiundachtzigjährigen ins Deutsche; noch 1937 klagte ein deutscher Essayist über die ausstehende Übersetzung des großen weltumfassenden und weltbewegenden Dramas vom „Seidenschuh“. Als dieses Hindernis langsam abgetragen wurde, versperrten Krieg und Nationalsozialismus Paul Claude! den Weg zu den deutschsprachigen Lesern. Devisen und Zollschranken — quer durch den europäischen Büchermarkt — taten nach 1945 noch ein übriges. Wer aber einmal Claudel im Theatersaal oder durch die Lektüre begegnet ist. wird von einer seltsamen Unruhe und Neugierde eiiaßt. Er will andere Stücke sehen, weitere Bücher lesen, er möchte jenen eigenartigen und eigenwilligen Mann kennenlernen, in dessen Werken Dunkel und Licht, Leid und Freude, menschliche Leidenschaft und göttliche Liebe, Sünde und Gnade in engster Nachbarschaft wohnen, wo ihre Grenzen unscharf werden, wo die große Verwandlung einsetzt.

Die Gelegenheit ist günstig, den Dichter der großen Verwandhing kennenzulernen, ohne auf die 20 Bände von Gallimard und ihre deutsche Übersetzung warten zu müssen. Andre Blanchet hat 1944 — wohl mit Zustimmung des Dichters — eine Auswahl aus der Prosa Claudels getroffen, der Benziger-Verlag in Einsiedeln sorgte für die deutsche Edition.

Endlich haben die deutschsprachigen Freunde Claudels das „Arbeitsinstrument“ zum Verständnis des von ihnen geschätzten Dichters, den Katalog zu der Ausstellung seiner Meisterwerke. Unvermittelt, ohne umständlichen

Prolog oder langatmigen Kommentar, treten sie ein in seine Welt, in eine Welt der Bilder und Gleichnisse. Lose Skizzenblätter finden sich neben bis in den letzten Stidi durchdachten Radierungen, bunte Aquarelle nach kühnen Federzeichnungen, dunklen Scherenschnitten folgen mächtige Visionen. Alle zusammen ergeben sie ein großaitiges Porträt ihres Schöpfers. Da ist am Eingang ein Bfld vom Knaben Paul, der den Apfelbaum in seinem Heimatdorf Villeneuve-sur-Fcre im Tar-denois erklettert, um jn die Ferne zu spähen, dorthin, wo der Horizon sich rundet, dorthin, wo keine Grenze der Welt, sondern nur ein neuer Anfang ist. Und am Ausgang hängt sein Gegenstück: ein alter Mann beugt sich in Brangues mit brillcnbewehrtem Auge über die Bibel; Zufriedenheit spiegeln seine Züge, Freude verrät das Herz Aus der Schrift liest er nochmals alles, was ihm auf seiner großen Lebens- und Weltfahrt fremde Länder und liebe Menschen, die fernen Sterne und die nahe Natur verraten haben. Noch einmal und endgültig ist die Gewißheit: es sind keine Grenzen, es gibt kein Ende, alles ist auf dem Weg.

Dazwischen aber liegt der Lebensweg Claudels — wiedergegeben durch seine Bilder. Der talentierte Student, welcher der Leere der herrschenden Geistigkeit und dem Weltschmerz des „Fin de Siecle“ am Weihnachtstag des Jahres 1866 entflieht — zum Glauben. Die erste Begegnung, die entscheidende

Verwandlung. Der junge Diplomat geht in die Welt. China heißt das Ziel. Der Ferne Osten strömt auf ihn ein, die ersten Notizhefte des Dichters füllen sich. Und hier, in dieser Zeit darf auch wohl jene zweite Begegnung angesetzt werden, von der der Dichter niemals sprach, dafür immer wieder und immer anders schrieb. Yse ... Prob'za ... Leere und Trostlosigkeit folgen jenen Tagen, Arbeiten wie „Die Traurigkeit des Wassers“ und „Auflösung“ geben Zeugnis von der großen Krise. Nur langsam gewinnen die helleren Farben Raum. Claudel wird sich des Anrufs, der an ihn ergangen ist, bewußt; er gewinnt Klarheit über seine Fähigkeit als Dichter. Neue Städte, neue Landschaften, Stationen auf der erfolgreichen Laufbahn des Diplomaten, finden sie auch den Dichter bereit. Daneben blickt dieser immer öfter hinauf ins Universum und baut Stock für Stoc'.c an dem Haus seiner Philosophie. Die Gemälde von Geisterverwandten und Vorläufern sind in bunter Folge dazwischen gestreut. Sie alle werden abgelöst von einem ganz anderen Genre. Schon ist es Herbst, hohe Zeit, die letzten, die reifsten Früchte in die Scheuer einzubringen. Die Weltfahrt ist zu Ende, in Brangues brennt die Lampe, und in ihrem Schein hält Claudel jene Vision fest, die sich ihm beim Lesen der Schrift aufdrängen: Meisterwerke der Pspycho-logie bar jedes belehrenden Pathos, stets bereit, dem Gebet ein helles Lachen folgen zu lassen und doch voller Ehrfurcht — die Sprache unserer Zeit.

Paul Claudels „Ausgewählte Prosa“: Zusammenschau eines starken Lebens, farbenfroh, weit — katholisch.

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