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Die Klaue des Löwen

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ERKENNTNIS DES OSTENS. Von Paul Claudel. Deutsch von Ed. Plüss. Verlag Hegner, 1962. - GESAMMELTE WERKE. Band VI, Religion, mit einem Nachwort von R. Grosche, Benzinger-Verlag, 1962. 8 52 Seiten, Preis 211 S.

Der IV. Band der von E. M. Landau im Verlag Benzinger herausgegebenen Gesammelten Schriften von Claudel hatte schon 1958, ebenfalls in der Übersetzung von Ed. Plüss, die „Erkenntnis des Ostens“ veröffentlicht. Eine Neuigkeit bildet jedoch die Hegnersche Ausgabe insofern, als sie zehn bezaubernde Wiedergaben von chinesischem Gedichtpapier des 19. Jahrhunderts aus der Sammlung von Jan Tschibold, Basel, enthält. Dies ist jedenfalls die erste vollständige und, wohlgemerkt, ausgezeichnete deutsche Übersetzung dieses Werkes aus der Jugend Claudels, von dem Hegner selbst schon 1914 in dem Insel-Almanach ein Fragment — Pagode — übersetzt hatte.

„Erkenntnis des Ostens“ läßt sich nicht in ein paar Zeilen analysieren: es sei hier nur vermerkt, daß der interessierte Leser darin einen Dichter antrifft, der schon ganz Claudel ist, ohne jedoch bereits den großen epischen Schwung, die manchmal obskure Tiefe der Gedankengänge oder noch die schwer zu enträtselnde Metrik der Reifezeit zu besitzen. Diese Prosadichtungen aus den Jahren 1895 bis 1905 sind eben viel mehr als reine Momentaufnahmen eines jungen Dichters aus der symbolistischen Schule, der zum ersten Male das geheimnisvolle Asien entdeckt und es mit allen seinen Sinnen, mit Augen und Ohren vor allem, gierig einsäugt. Den Denker Claudel spürt man schon an manchen Stellen: hinter dem malerischen, öfter sogar schauerlichen Schauspiel des Fernen Ostens sucht bereits der junge Konsul in Foutcheou „die Erde Gottes zu vereinigen“ und, jenseits der Weltszenerie, den Sinn zu erforschen und zu ergründen, nach dem sein Meister, Mallanne, vergebens gesucht hatte. Der Abschnitt „Hier und dort“ gibt in dieser Hinsicht über den Claudeischen Willen zur christlichen Gestaltung des Kosmos eindeutig Auskunft. Ein kostbarer Text in einer ebenso kostbaren Ausgabe.

E. M. Landau, der verdienstvolle Herausgeber von Claudels gesammelten Werken, hat im Band VI, „Religion“, zahl-

reiche Essays, Briefe und Zeitschriftenartikel vereinigt, die in verschiedenen, aus allen Schaffensperioden Claudels stammenden Büchern verstreut und übrigens zum Großteil noch nicht ins Deutsche übersetzt, daher schwer zugänglich sind. Das sehr umfangreiche Buch — 8 50 Seiten — beschließt ein bedeutendes Nachwort aus der Feder des Nestors der deutschen Claudel-Forschung, Robert Grosche, der Claudels Bibelkommentare ausführlich besprechend, die religiöse Fruchtbarkeit sowie die notwendige Abgrenzung der tief christlichen, aber immerhin betont poetischen Exegese des Dichters klug und ausgewogen unterstreicht. Dieser VI. Band enthält unter anderem den Aufsatz „Vom Bildsinn der Heiligen Schrift“ (Introduction au Livre de Ruth, 1937), der den Schlüssel zu sämtlichen exegetischen Schriften Claudels gibt. Die Methode und der Geist der Claudeischen Hermeneutik werden darin am klarsten dargelegt: für die Lektüre der letzten biblischen Schriften Claudels — die Apokalypse, Das Hohe Lied, Isaias* Evangelium, Emmaus —, die zum erstenmal auszugsweise für die Gesamtausgabe übersetzt worden sind (leider scheint das post-hurne Werk Claudels, „J'aime la Bible“,.1956, im Band der deutschen Ausgabe nicht berücksichtigt worden zu sein), bilden sie unerläßliche Richtlinien. In diesen Schriften, die immerhin eher zur schönen, soliden Erbauungsliteratur als zur Religions-beziehungsweise Bibelwissenschaft gehören, erkennt man an der episch-dramatischen Diktion, an der Tiefe des Gedankens, öfter die „Klaue des Löwen“. Auf diese Weise rundet sich das eigenartige, wenn nicht einmalige Bild eines Schriftsteller ab, der als Dramatiker, Hymniker, Essayist, Prosadichter, immer wieder geniale Züge aufzuweisen vermag. Von der Gesamtausgabe von Claudels Werken sind bereits fünf Bände erschienen: hoffentlich wird bald der erste Band, Lyrik, diese großartige verlegerische Leistung vervollständigen.

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