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Claudel-Nachrufe

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Der Tod eines großen Dichters löst begreiflicherweise eine Flut von Nachrufen in der Tagespresse aus. Dabei begibt sich Schmerzliches.

Da liest man denn in einer Wiener Tageszeitung, die etwas auf sich hält, am 1. März, daß Paul Claudel in Notre-Dame „vor 69 Jahren am Heiligen Abend getauft wurde“. Der Ruf von der Bekehrung Claudels ist also bis in die Redaktion dieser Zeitung gedrungen. Nur versteht sie unter „Bekehrung“ ausschließlich den Uebertritt aus einer anderen Religion. Wer könnte denn auch annehmen, daß ein Getaufter, also ein Katholik, sich zum Katholizismus bekehrt! Das wäre paradox — aber nur für den, der annimmt, daß alle in unseren Pfarrbüchern Eingetragenen auch wirklich Katholiken sind.

Claudel war schon am 8. September 1868 in seinem Geburtsort Villeheuve sur Fere en Tar-denois getauft worden. Er fiel in seiner Mittelschulzeit unter dem Einfluß der damals herrschenden materialistischen Geisteshaltung vom Glauben ab und fand ihn als junger Mann wieder. Vor 69 Jahren, am Christtag des Jahres 1886, wurde Claudel in Notre-Dame von der Erkenntnis der göttlichen Gegenwart und Wirklichkeit überwältigt. Vier Jahre später, am 25. Dezember 1890, kommunizierte er zum ersten Male wieder und gliederte sich durch die Rückkehr zu den Sakramenten wieder in die katholische Kirche ein.

Die zweifelhafteste „Würdigung“ Claudels brachte ein anderes Wiener Blatt unter dem problematischen Titel „Der Botschafter reinen Menschentums“. Wenn von Romain Rolland die Rede wäre oder von Gide oder von Sartre, in jedem Fall nähme der Titel einen anderen Sinn an, jedenfalls hätte er einen. Claudel jedoch heißt das seinen metaphysischen Boden wegziehen, ihn auf die diesseitige Ebene beschränken, ihn, der in der Mehrdimensionalität ru Hause ist.

Da erbebt man vor einem Satz, der da lautet: ,,.. . er sank vor Verlaines makabren Exaltationen anbetend in die Knie“. Abgesehen davon, daß man Verlaine damit unrecht tut, in dessen schwachem Charakter eine reine Seele wohnte, abgesehen davon, daß Claudel wohl von Rimbaud tief beeindruckt und von Mallarme formal beeinflußt worden war, nicht aber von Verlaine, kennt man Claudel schlecht, wenn man glaubt, dieser Fels hätte sich je vor irgend jemand gebeugt, wenn nicht einer gekommen wäre, der stärker war als er — und das war Christus.

Ich weiß, ich weiß, lenkt der Schreiber ein, das war doch am „6. August 1886 ... während einer Mitternachtsmesse in der Notre-Dame-Kathedrale“. Auch der literarisch nicht Bewanderte muß da aufhorchen und sich fragen, was das mitten im Jahr für eine Mette gewesen sein mag. Wir können ihn beruhigen. Es ist hier von keiner Sekte die Rede. Der ahnungslose Verfasser hat nur den Geburtstag Claudels (Claudel ist geboren am 6. August 1868) mit Weihnachten kontaminiert und dabei noch den Nachmittagssegen des Christtages mit der Mette verwechselt. Claudel „merkte sich diesen Tag, weil er eine Lebenswende einleitete“, meint der Schreiber; schade, daß sein Gedächtnis schwächer ist!

Wir sind erstaunt ae vernehmen, daß Claudel nach seiner Bekehrung „längere Zeit im Zeichen der Häresie“ stand und würden von dem darüber sicher sehr wohlunterrichteten Schreiber gern erfahren, was das wohl für eine gewesen sein mag, die ihn so gefangennahm, daß er „von Zweifeln geschüttelt wurde“ (man beachte das Bild.'). Der Autor wagt es nun, von Claudel als dem „Verfasser halb religiöser, halb schöngeistiger Essays“ zu sprechen, als ob etwas halb wäre an Claudel, der sich mit allen Problemen ganz auseinandergesetzt hat und sie rein ästhetisch oder rein theologisch behandelte, immer fundiert im Metaphysischen. Wenn man weiter hört, daß die Rhone schließlich schon ..nordöstlich von Paris“ fließt, kann man das nur als Zeichen dafür deuten, daß die Welt eben kopfsteht, wenn ein LInwissender ihr nahekommen will.

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