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Die schwebende „Stadt“

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1890 beginnt Claudelmit der Niederschrift der ersten Fassung der „Stadt“. Ein Versuch, sich über seinen Platz in der Gemeinschaft der Menschen Rechenschaft zu geben. Wie so mancher jener Jahre sympathisiert Claudel mit den Anarchisten und glaubt, daß nur eine Revolution, daß nur die Zerstörung des Bestehenden hier einen Wandel herbeiführen könnte. Das Thema der Revolte, der Auflehnung, das auch die ersten beiden Akte und den Beginn des dritten beherrscht, spiegelt zugleich den inneren Aufruhr, in dem der heranreifende junge Mann sich befand.

34 Figuren macht er zu Spiegeln seiner Person. Der Dichter spricht aus Coeuvre und Ly, der Materialist und Nihilist seiner College-Zeit aus Besme und Bavon, der Revolutionär aus Pasme und Avare, der zu seinem Glauben Zurücksuchende aus dem Priester, aus Liboire und Ligier. Dem Avare fühlt sich Claudel in seiner Un-soziabilität besonders verwandt.

Die Beziehung zum anderen Geschlecht bleibt nicht minder ambivalent, bei allem dumpfen Verlangen, sich zu öffnen. Halb eingeschüchtert, halb zu gewaltsamer Beherrschung aufbegehrend, steht er unter dem psychischen Druck der Schwester Camil-le, die bis zum Dämonischen outriert, durch die Maske der Thalia spricht. Jener Thalia, die zugleich den Einbruch des Überirdischen in die von Langeweile und Überdruß, von Todesverlangen und Auslöschen gekennzeichnete Welt signalisiert. Soviel auch von den Liturgien der Osterzeit in den Schluß des Stückes eingegangen-sein mag, es bleibt im Diffusen unentschieden. „Der geistige Kampf ist ebenso brutal wie das Schlachtgetümmel der Menschen“, bekennt Claudel, Rimbaud zitierend.

Von Szene zu Szene ist zu verfolgen, wie sehr er sich vier Jahre hindurch

gewehrt hat, die Konsequenzen aus jener jähen Erleuchtung in der Weihnachtsvesper von 1886 in Notre-Dame zu ziehen. Immer noch sucht er nach Auswegen, um sich nicht einordnen zu müssen. So endet das Stück mit der Einsetzung eines Herrschers der Gerechtigkeit und des Mitleids. Ivors erklärt sich zum „König der Geduld“.

Mit der Vorstellung eines triumphierenden Christen hat sich lange das wahre Bild Claudels verstellt. Hier in der ersten Fassung der „Stadt“ bricht das Selbstverständnis des Autors unverhüllt und unbeschönigt durch. Seine innere Unausgeglichenheit findet ihre natürliche Entsprechung in der Sprache, in der Naturalismen neben jugendlichen und jugendstilhaften bombastischen Stilisierungen stehen, gesuchte Allegorien neben realistischen Bildern, die den exakten Beobachter Claudel verraten, der seine Umwelt, die Elendsquartiere der Großstadt wie die bäurische seines Geburtsortes genau kennt. Ein Jugendwerk, das in seinen rnanieristi-schen Bildern mit seiner Vehemenz alle Möglichkeiten einer Klärung überrennt und eine Antwort auf die aufgeworfenen Fragen in der Schwebe läßt.

Ein Werk, zugleich wie geschaffen, um vor der Jugend über die Rampe gebracht zu werden. Was 1968 an den Studentenunruhen zum hundersten Geburtstag des Dichters scheiterte, ist nun zu seinem 110. dank der Begeisterung und der sorgfältigen Erarbeitung des schwierigen Textes durch die Re-gisseurinAnne Delbee am 4. Juli in einem Zelt im Park des Chäteau de Brangues im Rahmen der III. Ren-contres Internationales Claudeliennes mit eindeutigem Erfolg Wirklichkeit geworden. Das Werk ist für die Bühne gewonnen, an den großen Theatern und ihren Regisseuren liegt es nun, es einem weiteren Publikum zu erschließen.

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