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Die Sage vom Tod der christlichen Literatur

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hinaus verbreitet sind. (Das ist übrigens auch das Ausleseprinzip meines Werkes „Europas christliche Literatur von 1500 bis heute“, Schöningh 1968; im Unterschied dazu beziehe ich hier auch die außereuropäische Literatur ein).

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hinaus verbreitet sind. (Das ist übrigens auch das Ausleseprinzip meines Werkes „Europas christliche Literatur von 1500 bis heute“, Schöningh 1968; im Unterschied dazu beziehe ich hier auch die außereuropäische Literatur ein).

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Welche Autoren gibt es, die erst nach 1960 aufgetreten sind, literarische Anerkennung gefunden haben, in andere Sprachen übersetzt wurden und in ihrem Werk christlich sind? Eine ganze Menge. In der BRD Eva Zeller, Rudolf Otto Wiemer, Josef Reding, Kurtmartin Magiera, Inge Meidinger-Geise, Margot Scharpenberg; in der Schweiz Kurt Marti, Ernst Eggimann und Bruno Scherer; in den USA John Updike, D. Keith Mano, Walker Percy; in England Muriel Spark, David Lodge, John Anthony Cuddon; in Spanien Rafael Guillen, Carlos Muniz-Rdmero, Rod-rigo Rubio, Jesus Torbado Carro und Elena Quiroga; in Lateinamerika Ernesto Cardenal und William Agudelo; in Frankreich Marc Alyn und Jean Montaurier; in Belgien Johan Daisne, Ward Ruyslirick, Bernhard Kjjrap, Jc^.yagde^aund,

Eggehorn' und Dag- Haiamarskjöld; in der DDR Johannes Bobrowski, Gottfried Hänisch und Helmut Voß; in der Sowjetunion Gennadij Ajgi, Bulat Okudschawa, Alexander Pe-trow-Agatow, Josif Brodskij, Alexander Solschenizyn, Wladimir Maxi-mow, Andrej Terz-Sinjawski und Lavr Divomlikoff.

Man muß es Werner Ross zugute halten, daß fast alle hier aufgezählten Autoren damals noch nicht in aller Welt im Gespräch waren, als er 1966 seine Rede in Regensburg hielt, die mehrmals gedruckt erschien und mit dem Fanfarenstoß begann: „Die christliche Literatur ist zu Ende... Tot sind Claudel und Bernanos, tot Elisabeth Langgässer und Reinhold Schneider, Werner Bergengruen und R. A. Schröder, tot T. S. Eliot und E. Waugh.“ Nun — inzwischen starben auch Gertrud vort le Fort, Christine Lavant, Herbert Zand, Stefan Andres, Mauriac, Marcel, Auden und Tolkien. Auf diese Leichenschau gab Hans Urs von Balthasar die Replik (ich zitiere aus dem Gedächtnis): „Was heißt tot? Tot sind auch Dante und Calderön, Manzoni und Dostojewski]. Es fragt sich nur: tot für wen?“ Wer von den alten christlichen Autoren noch lebe, so behauptete Ross weiter, sei verstummt. Diese Behauptung ist nicht nur falsch, sie ist auch typisch für jene Borniertheit, die man chronologischen Snobismus nennen kann: Wertmaßstäbe, die in der Welt der Technik ihre Berechtigung haben, werden mir nichts dir nichts auf die Welt des Geistes und der Kunst übertragen. Wie alte Maschinen durch neue, bessere ersetzt werden und dann nur noch Schrottwert haben, so machen neue Bücher die alten zu Makulatur. Denn — so will es der chronologische Sonbismus — alles Alte ist schlecht, nur das Neue ist gut. Ross geht sogar noch einen Schritt weiter: Nicht nur sind, seiner Meinung nach, die Bücher, die vor 20 oder 40 Jahren gedruckt wurden, für uns uninteressant geworden, sondern auch die Bücher, die eben erst erschienen, deren Autoren aber zur älteren Generation zählen. Er übersieht sie einfach, sie existieren für ihn nicht. Es ist unwahrscheinlich, daß er meint: ,,Trau keinem über dreißig.“ Er hat wohl nur vergessen, daß bei vielen Autoren die Schaffensrkaft im Alter keineswegs erlahmt, daß manche sogar ihr Bestes erst nach ihrem 60. Lebensjahr geben.

Werfen wir einen Blick auf Werke der christlichen Literatur, die zwar von älteren Autoren stammen, aber erst nach 1960 erstmals erschienen. Stefan Andres, Gertrud von le Fort und Josef Martin Bauer haben im letzten Jahrzehnt ihres Lebens noch je vier Erzählwerke veröffentlicht. Zwei Jahre vor seinem Tode erschien der schönste Erzählband

von Bergengruen. Edzard Schaper schreibt jedes Jahr ein neues Buch, von einem Nachlassen seiner schöpferischen Kraft kann keine Rede sein. Auch Albrecht Goes, Manfred Hausmann, Kurt Ihlenfeld, Willi Kramp, Hans Lipinsky-Gottersdorf, Heinz Piontek, Johannes Rüber, Rudolf Henz, Luise Rinser, Gertrud Fussen-egger und Heinrich Boll ließen die Erzählfeder nicht rosten. Von' Meli, Henz, Schwarz und Heiseler erschienen neue Dramen, von Erika Mitte-rer, Christine Busta, Christine Lavant, Sil ja Walter, Ernst Meister und Wilhelm Szabo neue'Gedichte.

Die ausländischen christlichen Autoren, die ihr Debüt schon in den vierziger oder fünfziger Jahren gaben, haben auch in den sechziger und siebziger Jahren bedeutende Werke veröffentlicht: in England C. S. Lewis, J. R. R. Tolkien, Fry, Auden, Graham Greene und Marshall; in den USA Robert Lowell, Thornton Wilder, Flannery O'Con-nor, James Farl Powers, Taylor Caldwell und Pearl S. Bück; in Südafrika Alan Paton; in Australien Morris L. West; in Frankreich Julien Green, Francois Mauriac, Estang, Cesbron, Queffelec, Cayrol, Lesort, Besus, Coccioli, La Tour du Pin, Emmanuel, Renard; in Italien Silone und Santucci; in Spanien Vivanco, Rosales, Gaos, Maruri, Bousono, Valverde, Gironella, Laforet, Vidal Cadellans, Martin Descalzo und Castillo Puche; in Schweden Sven Stolpe, Olov Hartman, Lars Ahlin, Bo Setterlind, Osten Sjöstrand und Birgitta Trotzig; in Finnland Göran Stenius; in Polen Andrzejewski, Dobraczynski, Brandstaetter, Twar-dowski und Pogonowska; in Ungarn Pilinszky.

Natürlich sind die drei Münchener Literaturkritiker Hohoff, Ross und Paul Konrad Kurz gegenüber einer solchen Fülle neuer christlicher Romane, Dramen und Gedichte nicht völlig blind. Sie bleiben zwar immer noch bei ihrer Behauptung, „Es gibt keine christlichen Dichter mehr“, schränken sie allerdings vorsichtig ein: keine mehr in dem Sinne, wie die christlichen Autoren der zwanziger Jahre es waren (so Hohoff 1966). In welchem Sinne denn? Unterscheidet sich die jüngste christliche Literatur grundlegend von der christlichen Literatur der zwanziger Jahre? Was die Wandlungen des Stils betrifft, verhält es sich mit der christlichen Literatur selbstverständlich wie mit der Literatur überhaupt. Sie sind auch nicht gemeint. Welche Wandlungen denn?

1 In den fünfziger Jahren — so meint 1972 P. K. Kurz — „ging die sogenannte christliche Literatur zu Ende... ; zu Ende ist eine etikettierte und kirchlich angenommene christliche Literatur“. Sind Etiketten etwas Böses? Der Literaturwissenschaftler kommt ohne Etiketten ebensowenig aus wie der Apotheker; freilich muß die Etikettierung stimmen. Im konkreten Fall kann es zuweilen schwierig sein, auszumachen, ob ein Werk Literatur ist oder nicht, ob es christlich ist oder nicht; versucht werden muß es doch. Weiter: Hat man etwas dagegen, daß die Kirche Literatur „annimmt“? Wie denkt man sich eine solche Annahme? Durch das Kirchenvolk oder durch die Amtskirche? Etwa so, daß Konzilstexte oder Synodalbeschlüsse Worte von Boll, Updike, Solschenizyn oder Emmanuel zitieren? Dos kommt allerdings nicht vor. Es ist aber auch in den zwanziger Jahren nicht vorgekommen, daß — sagen wir — Claudel in einer Enzyklika oder Gertrud von le Fort in einem Hirtenbrief zitiert wurde. Oder soll „kirchlich angenommen“ nur „beim Klerus beliebt“ heißen? Dann waren die christlichen Autoren der ersten Jahrhunderthälfte nicht besser dran. Von Bloy und Peguy kann man wahrhaftig nicht sägen, sie seien „kirchlich angenommen“ gewesen. Die Handel-Mazzetti erregte einen innerkatholiseheR- ^T^Literatwesteeifc^ Claudel, Mauriac und Bernanos wurden von gewissen klerikalen Kreisen heftig abgelehnt. Unamuno und Papini waren zu eigenwillig, um kirchlich konform zu sein. Josef Wittig und Fogazzaro wurden indiziert. Um 1950 gab es Bestrebungen, Gertrud von le Fort, Elisabeth Langgässer und Reinhold Schneider auf den Index der verbotenen Bücher zu bringen. Es hat wohl niemals einen christlichen Autor von Format gegeben, der nicht in einem gespannten Verhältnis zu einem Teil seiner Glaubensgemeinschaft oder zur Amtskirche gestanden wäre und von dem nie ein Buch durch die kirchliche Autorität angefochten, mißbilligt oder verurteilt worden wäre ...

Worin könnten sonst noch Unterschiede zwischen den heutigen Autoren und der früheren christlichen Literatur bestehen? Die christliche Literatur der ersten Jahrhunderthälfte, so behauptet Kurz, basierte „auf einem ungebrochenen christlichen Selbstverständnis“. Wirklich ungebrochen? Die meisten dieser Autoren waren zuerst ungläubig, atheistisch, und als sie christlich geworden waren, rührte sich in ihrem Glauben noch Zweifel. Ein Beispiel von vielen: Eliots Ashwednesday. Hat es je unangefochtenen Glauben gegeben? Anderseits: Ist die christliche Substanz im Werk der heutigen christlichen Autoren geringer geworden? Der Glaube erscheint in der jüngsten christlichen Dichtung eher noch radikaler als in der christlichen Dichtung vor fünfzig Jahren. Auf den jungen amerikanischen Autor Updike wirkt „die christliche Phalanx“ der zwanziger und dreißiger Jahre nicht christlich genug: „Die ergötzlichen Erzeugnisse eitler Literaten wie Chesterton, Eliot, Auden und Greene ... schlagen letztlich alle unfehlbar den Ton des reichen Jünglings an, der an der Küste Judäas bestürzt ablehnte, alles, was er hatte, zu verkaufen.“

Aber ist es nicht so, daß in den Werken der christlichen Literatur seit 1960 das Christliche kaum noch als Hauptthema erscheint, wie früher, sondern nur noch in gelegentlichen Bemerkungen und unauffälligen Details, nicht mehr massiv, kompakt, sondern diffus und unaufdringlieh? Sind Romane von Updike, Spark, Daisne und Solschenizyn nicht typisch für diesen Wandel? Nein, auch diesen Wandel gibt es nicht. Schon Claudel, Jammes, Mauriac, Julien Green, Wilder, T. S. Eliot, C. S. Lewis und Waugh schrieben Werke, in denen das Christliche dem Leser nicht sofort in die Augen springt. Umgekehrt gibt es auch heute noch Romane und Dramen mit spezifisch christlichem Hauptthema. Das Thema des Priesteramts etwa bildet die Mitte in Werken von Mano, Morris L. West, J. F. Powers, Montaurier, Boll, Magiera, Rubio und Divomlikoff, die alle erst in den letzten Jahren erschienen.

Sind die heutigen Autoren politisch und sozial engagierter als die damaligen? Wer sich an Belloc, Chesterton, Papini, Unamuno, Bernanos und Berdjajew erinnert, wird das nicht behaupten. Sind die heutigen formal kühner? Nicht kühner als. die Avantgardisten T. S. Eliot, Claudel und Wilder. Aber das geistige Klima hat sich verändert! Wirklich? Eine Frage an den Leser: Wer hat die christliche Literatur folgendermaßen mit Zustimmung charakterisiert: Konflikt mit der bürgerlichen Moral, die fälschlich für die christliche gehalten wird; Unabhängigkeit von den Schablonen der Moraltheologie; Illoyalität dem Staat und der Gesellschaft gegenüber; Sympathie mit dem schwachen Menschen. Wer schrieb das? Ein junger Linksautor von 1970 über die heutige christliche Literatur? Nein. Es sind Worte der Gertrud von le Fort, geschrieben vor Jahrzehnten über die christliche Dichtung der ersten Jahrhunderthälfte.

„Die christliche Literatur von gestern kann auf die Lage von heute keine Antwort geben ... heute fällt ihr Wort ins Leere.“ So behauptet Ross, und Hohoff und Kurz äußerten sich im gleichen Sinne. So verschieden sind die zwanziger Jahre von den Siebzigern nicht. Man tut so, als wären 1920 die entscheidenden Zäsuren der modernen Geschichte — Erster Weltkrieg, Oktoberrevolution, Beginn der Motorisierung und der Luftfahrt, Beginn der Massendemokratie und der totalitären Bewegungen, Beginn der modernen Naturwissenschaft, Kunst und Literatur — nicht schon tief ins allgemeine Bewußtsein gedrungen und als hätte es nicht auch damals schon eine Sexwelle, eine Rauschgiftwelle und eine Eskalation des Elends und der Gewalt gegeben. Alle diese Dinge und ihre (immer noch aktuelle) Problematik spiegeln sich in den Büchern maßgebender christlicher Autoren jener Zeit, und deshalb sind jene Bücher keineswegs veraltet. Und was das heutige christliche Selbstverständnis betrifft: Alle wichtigen Gedanken, die mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil durchbrachen, sind bereits vierzig Jahre vorher von französischen und deutschen Denkern und Dichtern erarbeitet und formuliert worden. Auch deshalb ist es abwegig zu sagen, die christliche Literatur der zwanziger Jahre sei veraltet und überholt. Unüberholbar bleibt, was in jener christlichen Literatur an Spiritualität, Humanität, Sozialbewußtsein und Gesellschaftskritik gültige Sprachgestalt gefunden hat. Es gibt zeitlose Fragen und zeitlose Antworten darauf. Was Sünde, Gnade, Glaube, Hoffnung, Liebe, Priestertum und Kirche ist, haben Undset, le Fort, Bernanos, Wilder, Reinhold Schneider, C. S. Lewis und Graham Greene und Julien Green auf eine Weise dargestellt, die auch heute noch den Leser zu packen vermag. Wäre es nicht so, dann brauchten die Taschenbuch-Verleger diese Autoren nicht mehr zu drucken; aber sie tun es und setzen hohe Auflagen ab.

Nein, die christliche Literatur ist nicht tot. Die Autoren der vorigen und der vorvorigen Generation werden noch gelesen, und eine neue starke Generation christlicher Autoren ist erfolgreich aufgetreten seit 1959, jenem Jahr, in dem man erstmals behauptete, es gebe keine christliche Literatur mehr und es werde keine mehr geben. Außer den 40 Namen der nach 1960 aufgetretenen und inzwischen berühmt gewordenen Autoren christlicher Prägung, die ich oben angeführt habe, wären noch siebzig weitere christliche Autoren zu nennen, die alle nach 1930 geboren sind und bereits Beachtliches an Dichtung veröffentlichten. Ihre künftige Entwicklung bleibt abzuwarten. Sie sind noch nicht weltberühmt, aber mancher könnte es noch werden.

(Ausführlicher stellt Dr. Kranz das Thema dar in seinem demnächst bei Schöningh erscheinenden Buch: „Die neue Woge christlicher Literatur“. Eine kritische und bibliographische Übersicht über die christliche Weltliteratur. Darin auch ein Verzeichnis der heute erhältlichen Taschenbuch-und Schulausgaben von Werken christlicher Dichtung.)

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